Libyen: Die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft

Seit Tagen lässt der libysche Staatschef Muammar Gaddafi auf demonstrierende Zivilisten schießen. Die Zahl der Toten soll in die Tausende gehen, und doch tut sich die internationale Gemeinschaft schwer, konkrete Maßnahmen zu beschließen. Dabei ist sie dazu verpflichtet.

Im Wüstenstaat Libyen herrscht seit dem 15. Januar, als in Benghasi die ersten Proteste ausbrachen, der Ausnahmezustand. Nach dem Vorbild Tunesiens und Ägyptens will sich nun das libysche Volk vom Joch des Tyrannen Muammar Gaddafi befreien. Doch der exentrische Machthaber Libyens, der sich selbst als ewiger Revolutionsführer bezeichnet, denkt nicht daran, es den tunesischen und ägyptischen Diktatoren gleich zu tun, und schon bald von der Bildfläche zu verschwinden. Stattdessen wiegelt er seine Anhänger zur Gewalt auf und lässt sein Volk von ausländischen Söldnern und der Luftwaffe beschießen. Zeugen vor Ort sprechen von tausenden Toten, wie Saif al-Islam Gaddafi versprochen hatte, fließt das Blut in Strömen. Immer mehr Diplomaten Libyens sagen sich von ihrem Führer los. Und doch regt sich auf der Ebene der internationalen Gemeinschaft nicht viel.

Seit Tagen tun sich die internationalen Institutionen schwer damit, auf die Tragödie in Libyen zu reagieren. Erst zehn Tage nach Anfang der Proteste konnten die südlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union davon überzeugt werden, dass Europa mit Sanktionen reagieren muss. Die Nato bietet an, gegebenenfalls eine Flugverbotszone über Libyen durchzusetzen, die Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung unterbinden würde. Doch diese Maßnahmen erfordern ein UN-Mandat, und dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen fällt es besonders schwer, sich zu mehr als einer Verurteilung der Gewaltakte durchzuringen. Dabei ist er eigentlich zu mehr verplichtet.

Im Jahre 2005 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen einstimmig das Prinzip der Schutzverantwortung angenommen. Sie soll vor allem dazu beitragen, dass Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnische Säuberungen rechtzeitig von UNO-Mitgliedsstaaten, der UNO selbst, regionalen und subregionalen Organisationen sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren erkannt und verhindert werden. Falls eine Regierung unfähig oder unwillens ist, ihre eigene Bevölkerung zu beschützen, oder sie selbst Verbrechen ihr gegenüber verübt, wie dies in Libyen momentan der Fall ist, dann wird die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft übertragen. Sie muss in diesem Fall dafür Sorge tragen, dass die von Massakern bedrohte Bevölkerung geschützt wird, wobei Zwangsmittel wie Sanktionen oder sogar eine militärische Intervention nicht ausgeschlossen sind.

Der Kern des Konzepts der Schutzverantwortung ist allerdings die sogenannte „Responsibility to Prevent“. Sie umfasst, neben einer generell auf Armutsbekämpfung und Streitschlichtung ausgerichteter Außenpolitik, ein Frühwarnsystem, dass potentielle Konflikte herausheben soll, bevor sie ausbrechen. Leider hat die internationale Gemeinschaft in diesem Gebiet kläglich versagt. Seit zwei Monaten wüten Unruhen durch die arabische Welt, und doch scheint die internationale Gemeinschaft bei jedem neuen Fall ungläubig daneben zu stehen und nach Worten zu ringen.

Die Schutzverantwortung bedeutet vor allem, in Situationen von zwingender Notwendigkeit zum Schutz der Menschen zu reagieren. Wenn präventive Maßnahmen zur Behebung der Situation fehlschlagen, dann sind umfassendere Interventionsmaßnahmen erforderlich. Waffenembargos, das Ende von militärischen Kooperationen, das Einfrieren von Bankkonten, die Einrichtung von Flugverbotszonen, eine Einschränkung der Reisefreiheit für Mitglieder des Regimes und das Ruhen der Mitgliedschaft oder ein Ausschluss aus internationalen oder regionalen Organisationen sind Teil der Schutzverantwortung. Auch wird sich Gaddafi vor dem Internationalen Strafgerichtshof für potenzielle Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten müssen. Doch muss man sich im Falle Libyens fragen, inwiefern sich Gaddafi davon beeindrucken lässt und die Gewalt gegen sein Volk einstellt. Schließlich war Gaddafi schon früher jahrzehntelang der Paria der Staatengemeinschaft, als er den internationalen Terrorismus unterstützte.

Die Rückkehr Libyens in die internationale Gemeinschaft lässt sich auch nur im Kontext der veränderten Verhältnisse nach dem 11. September 2001 und der Invasion des Iraks durch die Amerikaner erklären. Gaddafi hatte schlicht Angst, wie Saddam Hussein zu enden. Deshalb gab er sein Atomprogramm auf und dann lieferten sich die westlichen Staaten ein Wettrennen, wer die besten Deals mit Libyen abschloss. Das Kurzzeitgedächtnis der westlichen Staaten wurde in den letzten Tagen gewaltsam wieder aufgefrischt. In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass sich die internationale Gemeinschaft bald ihrer Pflicht, nämlich das libysche Volk vor ihrem Diktator zu retten, erinnert. Denn abzuwarten und am Ende die Toten zu zählen, wäre mehr als unverantwortlich. Es wäre ein Verbrechen.

Sudan nach dem Referendum: Die Gefahren bleiben groß

Im Sudan hat es am 9. Januar zum ersten Mal seit vielen Jahren eine faire und freie Wahl gegeben. Die Bevölkerung des Südsudan hat sich dabei in einem Referendum mitüberwältigender Mehrheit für eine Abspaltung vom Norden ausgesprochen.

Dass das Referendum relativ friedlich verlief und bisher keine massive politische Krise ausgelöst hat, ist vor allem den Menschen im Sudan zu verdanken, die auf ihre Rechte bestanden haben. Es ist aber auch ein Beweis dafür, dass das internationalem Engagement Gewalt verhindert werden kann, wenn der politische Wille da ist. In den Monaten vor dem Referendum hatte sich vor allem die amerikanische Regierung auf höchster Ebene für einen friedlichen Verlauf eingesetzt.

Trotzdem stehen dem Sudan noch große Gefahren bevor, die ohne intensives Engagement der internationalen Gemeinde kaum abzuwenden sind. Deutschland und die Europäische Union müssen nun nach jahrelangem Zögern entschieden handeln. Vor allem folgende Gefahren könnten innerhalb kürzester Zeit ein erneutes Massenleiden unter den Menschen im Sudan auslösen:

Eine weitere Verschlechterung der Lage in Darfur. Die westliche Region hat offiziell zwar nichts mit dem Nord-Süd Konflikt zu tun, aber 2003 haben Darfurs Rebellen aus ähnlichen Beweggründen zur Waffe gegriffen, die auch den Süden zum Aufstand bewegt haben. Der sudanesische Präsident Omar al-Baschir reagierte mit einem Völkermord, dessen Überlebende immer noch zu Hunderttausenden in Flüchtlingslager ohne Perspektive hausieren. Zivilisten werden unterdessen von neuen Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Rebellen bedroht. Allein im Dezember mussten 40.000 Menschen in Darfur wegen Unruhen fliehen. Und immer noch nimmt die international Gemeinde den Zustand hin, dass Khartoum als Strategie der Kriegsführung humanitäre Hilfe für Zivilisten blockiert.

Ein Auflodern lokaler Konflikte. Besonders hoch ist die Gefahr in der Region Abyei, ein Zankapfel an der Grenze zwischen Norden und Süden. Zwischen den Nomaden des Misseriya Stamms, die sich mit dem Norden assoziieren, und den ansässigen Mitgliedern des Ngok Dinka Stamms, der sich dem Süden angliedert, hat es in jüngster Zeit schwere Kämpfe gegeben. Schon 2008 sind solche Kämpfe in eine Auseinandersetzung zwischen den Streitkräften der beiden Regionen eskaliert. Damals eilten die Militärs ihren Verbündeten zur Hilfe.

Eine direkte Auseinandersetzung zwischen den Streitkräften des Norden und des Südens. Auslöser hierfür könnte vor allem die Tatsache sein, dass wichtige Punkte über den Verlauf der Abspaltung immer noch ungeklärt sind- zum Beispiel die Verteilung der Erlöse von Erdölvorkommen, die im Süden gefördert aber durch nördliche Pipelines an den internationalen Markt gebracht werden. Vor allem das Regime der „National Congress Party“ im Norden des Landes könnte versuchen durch Gewalt seine Handlungsposition zu stärken. Es scheint eher unwahrscheinlich, dass der Norden versuchen wird durch einen neuen Krieg die Abspaltung gar zu verhindern. Zu sehr sehnt er sich nach der internationalen Legitimität, die es durch eine komplette Abkehr der Vereinbarungen mit dem Süden verlieren würde.

Ein totgeborener Staat im Süden. Über die viele Jahre des Krieges und Instabilität haben sich zum Teil lang andauernde Konflikte verschiedener Stämme im Süden verschärft. Allein 2010 haben ethnische Kämpfe und Grenzübergriffe der ugandischen Rebellengruppe Lords Resistance Army zur Vetreibung von 200.000 Menschen im Süden geführt. Ob die sich entwickelnde Regierung in der Haupstadt Juba den Willen und die Mittel hat, solche Konflikte einzudämmen, ist fragwürdig. Immer wieder muss der noch aufkeimende Staat die Loyalität verschiedener Kriegsherren erkaufen, die sich zu Zeiten des Bürgerkrieges etabliert haben. Zum Beispiel droht jetzt ein früherer General der südlichen Armee, Einwohner und Migrantenzüge im Grenzstaat Unity State zu terrorisieren. Außerdem ist der Südsudan trotzt seiner Erdölvorkommen zutiefst unterentwickelt. Viele Menschen leben von humanitärer Hilfe. Ob der Südsudan den typischen „Ressourcenfluch“ von Korruption und Armut vermeiden kann, ist zu bezweifeln.

Größere Repressalien im Norden. Unterdessen ist das Regime al Baschirs in der Krise. Sinkende Erdölpreise haben eine wirtschaftliche Krise ausgelöst, die die Bevölkerung hart trifft. Essen und Energiepreise sind stark gestiegen. Firmen werden zur Kasse gebeten, weil dem Regime die Devisenreserven ausgehen. Massive Demonstrationen im Nachbarstaat Ägypten müssen das Regime befürchten lassen, dass es ähnlich Proteste ernten wird. Baschir ist sich den Gefahren bewusst und hat bereits einen Oppositionsführer, seinen alten Rivalen Turabi, einsperren lassen. Mit anderen wichtigen Oppositionsparteien spielt er auf Ausgleich. Unklar ist, inwiefern Baschir in seiner eigenen Partei Rückhalt genießt. Bisher hat er sich jedoch stets behaupten können. Sogar wenn er seine Macht verlieren sollte, würde er einen Staat hinterlassen, der seit über 20 Jahren von derselben Partei geführt wird und über einen ausgedehnten Sicherheitsapparat verfügt. Unterdessen hat Baschir verkündet, im Norden die Scharia auszubreiten.

Die Situation mag hoffnungslos aussehen, aber die internationale Gemeinde hat Mittel, um die Wahrscheinlichkeit all dieser Szenarien erheblich zu reduzieren. Die Möglichkeiten wird Genocide Alert demnächst in einem weiteren Artikel vorstellen.

Von David Dagan