Was bedeutet die Aufnahme von Vorermittlungen? Replik auf die israelische Kampagne gegen den IStGH

Zum 1. April 2015 nimmt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Vorermittlungen zu Massenverbrechen in Palästina auf. Dies löste vor allem in Israel, den USA und Kanada eine Welle der Kritik aus, die sich besonders gegen die einseitige Vorgehensweise der Palästinenser richtet, die als Verstoß gegen die Osloer Verträge wahrgenommen wird. Entgegen eines Ratschlages ihres Außenministeriums entschied sich die israelische Regierung, nicht nur die Einstellung der Vorermittlungen, sondern gar die Abschaffung des Internationalen Strafgerichtshofes selbst zu fordern. So bezeichnete der israelische Außenminister Avigdaor Liberman den IStGH im Endeffekt als terrorismusfördernd, israelfeindlich und unbrauchbar. Eine Überreaktion, die Gefahr läuft internationale Strafgerichtsbarkeit zu diskreditieren und es Israel erschwert, auf die Kriegsverbrechen der Hamas aufmerksam zu machen. Von den Vorermittlungen, die in Palästina kein Novum darstellen, sind keine schnellen Ergebnisse zu erwarten. Sie werden Jahre dauern und außerdem die Möglichkeit bieten, die Hamas für ihre Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen.

Die Aufnahme von Vorermittlungen

Vorweg: Die am 16. Januar 2015 von Fatou Bensouda als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes verkündeten Vorermittlungen zu der Situation in Palästina sind genau das: Vorermittlungen. Ihre Aufnahme bedeutet weder, dass an Massenverbrechen Beteiligte angeklagt werden, noch, dass überhaupt für den Gerichtshof relevante Verbrechen begangen wurden. Vorermittlungen dienen der Prüfung, ob die Kriterien des Römischen Status (Artikel 53) für eine weitere Ermittlung gegeben sind. Diese Vorprüfung erfolgt durch eine Kammer im Gerichtshof, die später nicht das Verfahren durchführen wird. Sie dient auch der Feststellung, ob hinreichend Beweise vorliegen könnten. Das heißt, es muss zumindest die Möglichkeit einer Rechtsverletzung hinreichend dargelegt werden. Für die Richter der entsprechenden Kammer besteht bei Zweifel an dieser Voraussetzung außerdem die Option, diesen in einem Minderheitsvotum darzulegen. Richter Hans-Peter Kaul nutzte diese Möglichkeit dreimal bei den Vorermittlungen des IStGHs zu den Straftaten in Kenia nach den Wahlen 2007/2008.

Bensouda verwies in ihrem Statement nachdrücklich auf diese Standardprozedur für Vorprüfungen, die im Policy Paper on Preliminary Examinations des IStGHs festgehalten ist. Die Vorermittlungen beruhen auf dem Gerichtshof präsentierten Fakten und Informationen und erfolgen unter den Prinzipien der Unabhängigkeit, der Unparteilichkeit und der Objektivität. Die zu prüfenden Kriterien umfassen sämtliche Zulässigkeitsvoraussetzungen einer noch nicht erhobenen Klage: Hierin liegt unter anderem die Zuständigkeit des Gerichtes selbst, sowie ein ausreichendes Rechtsschutzinteresse an den Ermittlungen. Konkret werden sich die Vorermittlungen insbesondere auf die Frage der sachlichen Zuständigkeit und den Grundsatz der Komplementarität fokussieren.

Die (erneute) Selbstüberweisung der Palästinenser

Die Vorermittlungen resultieren aus einer Selbstüberweisung der Palästinenser an den IStGH, die der palästinensische Präsident Mahmud Abbas im Fall eines Scheiterns einer UN-Resolution Ende 2014 ankündigte. Diese hätte Israel unter anderem innerhalb von drei Jahren zum Abzug aus den Palästinensergebieten verpflichtet. Die Palästinenser erkannten damit die zeitliche Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für mögliche Verbrechen auf dem von ihnen kontrolliertem Gebiet ab dem 13. Juni 2014 an.

Ein Schritt, der im Übrigen kein Novum darstellt. Bereits am 22. Januar 2009 reichte die Palästinensische Autonomiebehörde eine Selbstüberweisung beim IStGH ein, in der sie dem Gerichtshof eine zeitliche Zuständigkeit ab dem 1. Juli 2002 zusprachen. Auch damals nahm der IStGH Vorermittlungen auf, die erst im April 2012 zu einem Abschluss kamen: Der IStGH lehnte die Ermittlungen mangels formaler Zuständigkeit ab.

Die damalige Palästinensische Autonomiebehörde wurde zwar von 130 Staaten in bilateralen Beziehungen als Staat anerkannt und besaß in der UN einen Beobachterstatus, nicht aber den [Status] eines „non member observer states“. Nach Artikel 12 des Römischen Status können jedoch nur staatliche Akteure die Strafgerichtsbarkeit des Gerichtshofes anerkennen und entsprechend nach Artikel 125 eine Selbstüberweisung beim UN-Generalsekretär einreichen. Bei kontroverser Staatlichkeit sei es gemäß der Erklärung des IStGHs Praxis, dass der Generalsekretär sich an Entschlüssen der UN-Generalversammlung orientiere. Da es explizit nicht im Zuständigkeitsbereich des IStGHs liege, eine solche Einstufung selbst vorzunehmen, konstatierte der IStGH angesichts des reinen Beobachterstatus der Autonomiebehörde eine fehlende Staatlichkeit, stellte aber künftige Ermittlungen im Falle einer Anerkennung durch die Generalversammlung in Aussicht.

Am 29. November 2012 erkannte die UN-Generalversammlung die Palästinensische Autonomiebehörde als „non member observer state“ an und ermöglichte die jetzige Selbstüberweisung und den Beitritt. Entsprechend verkündete Ban Ki-moon Anfang Januar im Anschluss an die Unterzeichnung den Beitritt der Palästinenser zum Römischen Statut zum 1. April 2015. Folglich kann seitdem von der formalen Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs ausgegangen werden.

Israelis und Palästinenser sind gleichermaßen betroffen

Durch die Selbstüberweisung und den Beitritt Palästinas hat der IStGH nunmehr die Befugnis, gegen israelische Akteure zu ermitteln, insofern diese relevante Verbrechen auf palästinensischem Boden verübt haben. Dazu zählen alle natürlichen Personen (Artikel 1), die mindestens 18 Jahre alt sind (Artikel 26). Auch diplomatische Immunität schützt nicht (Artikel 27). Darüber hinaus kann eine Vertragspartei den Gerichtshof zwar ersuchen, sich einer bestimmten Situation in einem begrenzten Zeitraum anzunehmen; einseitige Ermittlungen gegen eine bestimmte Konfliktpartei schließt dies aber explizit aus. Das bedeutet, dass sämtliche relevanten Verbrechen mit territorialen oder personellen Bezug zu Palästina zum Gegenstand der Vorprüfung werden, explizit also auch solche von palästinensischen Akteuren.

Materielle Zuständigkeit: Wurden Massenverbrechen begangen?

Auch wenn Israel die formale Zuständigkeit und die Staatlichkeit Palästinas weiterhin in öffentlichen Erklärungen dementieren wird, wird es für den IStGH bei den Vorermittlungen im Kern um die materielle Zuständigkeit gehen. Die materielle Zuständigkeit des IStGHs umfasst die im Römischen Statut aufgenommenen völkerrechtlichen Kernverbrechen (Artikel 5), Genozid (Artikel 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Artikel 7), Kriegsverbrechen (Artikel 8) und das Verbrechen des Angriffskriegs (Artikel 5). Der Gerichtshof wird also prüfen müssen, ob ausreichend schwere Hinweise auf diese Verbrechen im Rahmen der formalen, personellen und zeitlichen Zuständigkeit vorliegen.

Sowohl Human Rights Watch als auch Amnesty International weisen in aller Deutlichkeit auf die im Zuge des Gazakrieges und der Besatzungspolitik begangenen Menschenrechtsverletzungen hin. Dass zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorliegen, gerade auch in Form von Unterdrückung, Raketenangriffen und Attentaten palästinensischer Akteure wie der Hamas, steht außer Frage. Ob diese in ihrer Schwere aber relevant für weitere Ermittlungen des IStGHs sein werden, ist schwieriger zu beurteilen.

Einen Anhaltspunkt liefert die Entscheidung des IStGHs bezüglich der am 31. Mai 2010 von israelischen Truppen gewaltsam gestoppten „Gaza Freedom Flotilla“, die unter der Flagge der Union der Komoren in See stach. Am 14. Mai 2013 überwiesen die Komoren als Mitgliedsstaat den Fall an den IStGH, der am gleichen Tag mit den Vorermittlungen begann. Diese endeten am 06.11.2014 damit, dass die materielle Zuständigkeit nicht gegeben sei, obwohl mutmaßlich Kriegsverbrechen begangen wurden. In ihrem Statement erklärte Fatou Bensouda, die Chefanklägerin des IStGHs:

„(…) after carefully assessing all relevant considerations, I have concluded that the potential case(s) likely arising from an investigation into this incident would not be of „sufficient gravity“ to justify further action by the ICC. The gravity requirement is an explicit legal criteria set by the Rome Statute.

Without in any way minimizing the impact of the alleged crimes on the victims and their families, I have to be guided by the Rome Statute, in accordance with which, the ICC shall prioritize war crimes committed on a large scale or pursuant to a plan or policy.”

Bezüglich des jüngsten Gazakrieges wäre es für die Aufnahme von Ermittlungen gemäß des Römischen Status also nötig anzunehmen, dass 1.) Kriegsverbrechen als Teil eines Planes oder einer Politik oder 2.) in großem Umfang verübt wurden. Es reicht somit nicht aus, festzustellen, dass die israelische Armee, die Hamas oder die Gruppe „Islamischer Dschihad“ Kriegsverbrechen begangen haben. Bei der Hamas und dem Islamischen Dschihad könnte eine für den Internationalen Strafgerichtshof relevante Systematik anhand entsprechender Erklärungen zudem eher erkannt werden, wobei dann wiederum die Frage des Umfanges abzuwägen wäre.

Für Israel könnte sich die Siedlungspolitik als der kritischere Punkt erweisen. Gemäß des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten darf eine Besetzungsmacht nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln. Da zumindest hier von einer entsprechenden Systematik ausgegangen werden kann, könnte sich die von der israelischen Regierung jenseits der Grünen Linie betriebene Siedlungspolitik für den IStGH zu relevanten Kriegsverbrechen summieren. Israel verweist hier auf die in den Verträgen von Oslo getroffenen Abkommen mit den Palästinensern, in denen der Status der Siedlungen auf spätere Verhandlungen verschoben wurden. Eine Erklärung, die zumindest in einem nicht-bindenden Rechtsgutachtachten des Internationalen Gerichtshofs zurückgewiesen wurde, der allerdings keine Strafgerichtsbarkeit bezüglich Kriegsverbrechen besitzt. Es bleibt somit abzuwarten, ob sich der Internationale Strafgerichtshof dieser Beurteilung anschließt.

Zulässigkeit der Klage: Grundsatz der Komplementarität

Unabhängig von mutmaßlich begangenen Massenverbrechen will der IStGH zudem nationale Strafgerichtsbarkeit der Staaten nicht ersetzen und ist ebenfalls kein letztinstanzliches Rechtsmittelgericht, überprüft also keine Verfahren der nationalen Strafgerichtsbarkeit. Gemäß des Grundsatzes der Komplementarität (Artikel 17) kann der IStGH nur strafverfolgend tätig werden, wenn Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind, eine entsprechend schwere Straftat ernsthaft zu verfolgen. Auch während der Vorermittlungen des IStGHs haben Staaten so die Chance, selbstständig tätig zu werden und einem Verfahren des IStGHs zu entgehen.

So bemühte sich etwa Großbritannien um derartige Nachweise, als der IStGH entgegen starken Protestes der britischen Regierung Vorermittlungen in mutmaßliche Kriegsverbrechen britischer Soldaten im Irak aufnahm. Weist Israel nach, dass die vermeidlichen Verantwortlichen für die relevanten Fälle bereits vor eigenen Gerichten zur Verantwortung gezogen werden, bestünde für den IStGH keine Grundlage für eigene Ermittlungen. Und tatsächlich bemüht sich Israel durchaus um die Einhaltung des internationalen Menschenrechtes und investiert Ressourcen in Ermittlungen zu möglichen Verstößen – ganz im Gegensatz zur Hamas oder dem Islamischen Dschihad.

Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird

Die Vorermittlungen des IStGHs in die Situation in Palästina werden Jahre dauern. Die weitaus weniger komplexen Vorermittlungen des IStGHs im Zuge der ersten Selbstüberweisung und der Gaza-Flottilia dauerten jeweils etwa eineinhalb Jahre. Der IStGH wird sowohl von israelischen und palästinensischen Akteure mutmaßlich begangene Kriegsverbrechen untersuchen und entsprechend seiner Praxis beiden Seiten ausreichend Zeit verschaffen, selbstständig tätig zu werden. Ob es schließlich zu Ermittlungen gegen Palästinenser und/oder Israelis kommen wird, ist bis zum Abschluss der Vorermittlungen weiterhin offen. Ganz abgesehen davon, dass es selbst bei laufenden Verfahren für den IStGH bei mangelnder Kooperation schwierig ist, eine Verurteilung herbeizuführen. So sah sich der IStGH zuletzt im Dezember 2014 gezwungen, das laufende Verfahren gegen den kenianischen Präsidenten Kenyatta aufgrund mangelnder Kooperation der kenianischen Regierung und einer mangelnden Grundlage an Beweisen einzustellen.

Der israelischen Regierung ist all dies bewusst, dennoch entschied sie sich, zu einem Boykott des Internationalen Strafgerichtshof aufzufordern, während die Hamas die Ermittlungen paradoxerweise öffentlich unterstützt – möglicherweise aufgrund ihrer ohnehin geringen Auslieferungswahrscheinlichkeit. Eine Bitte zum Boykott richtete die israelische Regierung offenbar auch an die Bundesregierung. Diese Fehlentscheidung resultierte wesentlich aus der Annahme israelischer Politiker, ihr Staat stünde aus anti-israelischen Erwägungen heraus ungerechtfertigt im Fokus des Gerichtshofs. Der israelische Außenminister Liberman argumentiert etwa: „Dasselbe Gericht, dass es nach mehr als 200.000 Toten nicht für angebracht hielt, in Syrien, Libyen oder anderen Orten einzuschreiten, findet es nun erstrebenswert, die moralischste Armee der Welt zu ‚untersuchen‘“.