Factsheet: Die dritte Säule der Schutzverantwortung: Die rechtzeitige und entschlossene Reaktion auf Massenverbrechen

von Gregor Hofmann,  30.04.2012

Im Sommer 2012 debattiert die Generalversammlung der Vereinten Nationen die “dritte Säule” der Schutzverantwortung oder “Responsibility to Protect.” In diesem Factsheet übersetzt und ergänzt Genocide Alert die Publikation “Clarifying the Third Pillar of the Responsibility to Protect” der International Coalition for the Responsibility to Protect (ICRtoP). Das Papier erklärt die dritte Säule der Schutzverantwortung und fasst zusammen, welche Maßnahmen die internationale Gemeinschaft ergreifen kann, um rechtzeitig und entschlossen auf Massenverbrechen zu reagieren.

Die dritte Säule der Schutzverantwortung fordert eine rechtzeitige und entschlossene Reaktion auf Massenverbrechen

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen (VN) Ban Ki-moon hat in seinem Bericht für die Generalsversammlung der VN im Jahre 2009 einen Drei-Säulen-Rahmen für die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect – R2P) entwickelt. Dieser Rahmen basiert auf den Paragraphen 138 und 139 des Abschlussdokuments des Weltgipfels der VN im Jahre 2005, in denen sich die internationale Gemeinschaft einstimmig zur Schutzverantwortung bekannt hatte.

Die erste Säule der Schutzverantwortung identifiziert den Staat als primärer Verantwortungsträger für den Schutz der Bevölkerung vor Massenverbrechen. Als Massenverbrechen wurden im Gipfeldokument von 2005 Genozid, ethnische Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit identifiziert. Die zweite Säule der Schutzverantwortung beinhaltet die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, den einzelnen Staat beim Schutz der Zivilbevölkerung zu unterstützen. Die dritte Säule definiert die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft kollektiv und rechtzeitig sowie auf entschlossene Weise auf Massenverbrechen gegen die Zivilbevölkerung zu reagieren. Die Reaktion muss im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen sein und die Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigen.

Sitzung des Sicherheitsrates zur Situation in Libyen am 17. März 2011 - Abstimmung über Resolution 1973

Sitzung des Sicherheitsrates zur Situation in Libyen am 17. März 2011 – Abstimmung über Resolution 1973

In der Debatte über die Schutzverantwortung wird die dritte Säule oft als Erlaubnis für den Einsatz von Gewalt bzw. als Autorisierung für unilaterale militärische Interventionen missverstanden,. Reaktionsmöglichkeiten unter der dritten Säule sind aber vielmehr im Sinne eines Kontinuums von Maßnahmen zu verstehen: Dies schließt diplomatischen Druck und Vermittlungsversuche ein, Maßnahmen unter Kapitel IVder Charta der VN, Zusammenarbeit mit regionalen und sub-regionalen Organisationen unter Kapitel VIII der VN-Charta und, sollten sich friedliche Mittel als unangemessen herausstellen, Zwangsmaßnahmen unter Kapitel VII [1], auf Grundlage einer Autorisierung durch den VN-Sicherheitsrat oder durch die Generalversammlung der VN in Einklang mit Artikeln 10 – 14 der Charta und dem „Uniting for Peace“ [2]-Prozess. Bei der Implementierung der Schutzverantwortung müssen sich alle Maßnahmen wechselseitig ergänzen. Viele der unten aufgezeigten Maßnahmen sind auch im Rahmen der ersten beiden Säulen der Schutzverantwortung anwendbar. Sie müssen als mögliche „Werkzeuge“ betrachtet werden mit denen unmittelbar auf drohende Massenverbrechen reagiert werden kann.

Die dritte Säule der Schutzverantwortung sollte nicht mit humanitären Interventionen gleichgesetzt werden

Durch die Bestätigung der Schutzverantwortung haben die Staaten anerkannt, dass ihre Souveränität eine Verantwortung zum Schutz ihrer Bevölkerungen beinhaltet und, dass die internationale Gemeinschaft eine Schutzverantwortung hat, wenn ein Staat nicht fähig oder unwillig ist Massenverbrechen vorzubeugen oder diese zu verhindern. Die Thematik darf daher nicht aus einem Blickwinkel betrachtet werden, der ein staatliches Recht zur Intervention als Ausgangspunkt nimmt. Vielmehr muss man die Perspektive der schutzbedürftigen Bevölkerungen einnehmen, die von Massenverbrechen bedroht werden.

Die internationale Gemeinschaft hat ein breites Spektrum an Möglichkeiten im Rahmen der dritten Säule. Diese schließen präventive Diplomatie, Beobachtermissionen, ökonomische Sanktionen und Embargos sowie militärische Mittel wie z.B. Flugverbotszonen, Aufklärungsmissionen und Einsätze zum Schutz von Zivilisten mit ein.Die Schutzverantwortung schafft mehr und nicht weniger Regeln darüber wann, wie und wo eine militärische Intervention durchgeführt werden darf. Militärische Maßnahmen dürfen nur durch den Sicherheitsrat der VN autorisiert werden und sollten nur durchgeführt werden, wenn sich friedliche Maßnahmen als unzureichend herausgestellt haben. Die humanitäre Intervention – im Sinne einer unautorisierten Zwangsmaßnahme (unilateral oder multilateral) – wurde von den Mitgliedstaaten der VN nicht als Norm anerkannt und ist auch unter der dritten Säule der Schutzverantwortung nicht erlaubt.

Zur Implementierung der dritten Säule sind gemeinsame Anstrengungen wichtiger nationaler und internationaler Akteure notwendig

Reaktionen im Rahmen der dritten Säule können von verschiedenen Akteuren ausgehen, unabhängig voneinander oder in Kooperation, je nachdem welches Vorgehen im jeweiligen Fall angemessen ist.

Akteure in den Vereinten Nationen:

  • Der Generalsekretär ist verantwortlich für die Mobilisierung politischen Willens und kann Frühwarnungen und Empfehlungen des Gemeinsamen Büros des Sonderberaters für Genozid-Prävention und die Schutzverantwortung an andere UN-Gremien weitergeben, wenn es notwendig wird.
  • Der Sicherheitsrat kann friedliche sowie Zwangsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit autorisieren.
  • Die Generalversammlung kann Maßnahmen in Einklang mit den Artikeln 10 bis 14 der VN-Charta und im Rahmen des „Uniting for Peace“-Prozesses autorisieren. Sie hält jährlich interaktive Dialoge zur Reflektion über die Implementierung der Schutzverantwortung und existierende Zweifel oder Kritik ab.
  • Andere Gremien der VN wie der Menschenrechtsrat, die Peacebuilding Commission und der Wirtschafts- und Sozialrat können im Rahmen ihrer Mandate ebenfalls auf die Bedrohung durch Massenverbrechen reagieren.
  • Staatengruppen, wie die informelle „Gruppe der Freunde der R2P“ und das „Special Committee on Peacekeeping Operation (C-34)“, können ebenfalls ernst zu nehmenden Einfluss innerhalb der internationalen Gemeinschaft ausüben.

Akteure außerhalb der Vereinten Nationen:

  • Auch regionale und sub-regionale Organisationen können Sanktionen erlassen, rechtliche Reaktionen einfordern, Beobachtermissionen entsenden und, in einigen Fällen und in Einklang mit der VN-Charta, militärische oder zivile Missionen entsenden.
  • Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) bekämpft Straflosigkeit und identifiziert die Verantwortlichen für Massenverbrechen. In Unterzeichnerstaaten des Rom-Statuts bzw. gegen deren Staatsangehörige kann der Chefermittler des IStGH selbstständig tätig werden, in allen anderen Fällen ist er auf eine Überweisung des Falls durch den VN-Sicherheitsrat angewiesen.
  • Die Zivilgesellschaft spielt eine wichtige Rolle bei der Schaffung von Aufmerksamkeit, sie warnt vor beginnenden Krisen untersucht Verbrechen, veröffentlicht Berichte und trägt zur Bereitstellung von Nothilfe vor Ort bei.

Akteure in Deutschland:

  • Die Bundesregierung kann, wie andere Staaten auch, diplomatischen Druck auf Staaten, in denen Massenverbrechen begangen werden, ausüben sowie den Opfern humanitäre Nothilfe bereitstellen. Sie kann sich weiter im Rahmen multilateraler Organisationen, wie der Europäischen Union, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der  NATO und den VN für eine frühzeitige und entschiedene Reaktion einsetzen. Darüber hinaus könnte sie durch die Schaffung eines Genozidpräventions-Koordinators die Kapazitäten im Bereich der Frühwarnung ausbauen und so das Wissen und die Anstrengungen der verschiedenen Ressorts und Arbeitskreise bündeln.
  • Der Bundestag kann bilaterale Sanktionen gegen solche Staaten beschließen und im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Reaktionsmöglichkeiten erarbeiten. Zudem kann er die Bereitstellung finanzieller und personeller Ressourcen für Friedenssicherungsmissionen der VN beschließen.
  • Deutsche Gerichte können auf Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches die Verantwortlichen für Massenverbrechen zur Rechenschaft ziehen.
  • Die deutsche Zivilgesellschaft kann informieren, Aufmerksamkeit auf Fälle von (potentiellen) Massenverbrechen lenken und wichtige Beiträge zur Konfliktanalyse und Lösung leisten.

Diese Akteure bilden gemeinsam eine Internationale Gemeinschaft, die für die Prävention und die Unterbindung der vier Massenverbrechen verantwortlich ist. Sie müssen zeitnah und effektiv zusammenarbeiten, um existierende Ressourcen zu bündeln und so bedrohte Bevölkerungen zu schützen.

Maßnahmen im Sinne der dritten Säule der Schutzverantwortung sind vielzählig und Teil eines  Kontinuums
  • Der Generalsekretär der VN, der Sicherheitsrast, die Generalversammlung und der Menschenrechtsrat können Beobachtermissionen, Untersuchungskommissionen und Berichterstatter benennen, die beim Verdacht auf Brüche des Völkerrechts ermitteln und berichten.
  • Regionale und sub-regionale Organisationen sowie die Generalversammlung können Kriterien für die Mitgliedschaft etablieren oder stärken, die sich auf die Einhaltung der Menschenrechte und die Verhinderung von Massenverbrechen beziehen.
  • Frühwarnmechanismen und frühzeitige Informationsweitergabe innerhalb der UN und regionaler Organisationen helfen dabei die Alarmglocken zu läuten, wenn eine Regierung bei der Aufrechterhaltung ihrer Schutzverantwortung zu versagen droht.
  • Präventive Diplomatie kann die Entsendung bedeutender Personen oder die Benennung von Entsandten einschließen, die eine Dialog mit den Konfliktparteien einleiten oder Vorbereitungen für andere lokale, regionale oder VN-Maßnahmen treffen können. Vermittlungsbemühungen des VN-Generalsekretärs, politische Missionen, Länderteams und „Gruppen von Freunden“ können nützliche Mittel der präventiven Diplomatie sein.
  • Anstiftung zu Massenverbrechen kann verhindert werden, indem die Verbreitung von Hassbotschaften über die Medien unterbunden wird. Hassreden, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen sind häufig Ausgangspunkte für Situationen, in denen ganze Bevölkerungsgruppen bedroht werden.
  • Die Internationale Gemeinschaft kann daran erinnern, dass der Sicherheitsrat unter dem Rom-Statut die Anstiftung und das Begehen von Genozid, ethnischen Säuberungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an den IStGH verweisen kann. Dies erlaubt die Einleitung vorläufiger Ermittlungen und gegebenenfalls die Eröffnung eines Verfahrens durch den Gerichtshof.
  • Gezielte diplomatische Sanktionen, Reiseverbote, Einfrieren von Vermögenswerten sowie Handels- und Waffenembargos können den Respekt vor den Bestimmungen des Abschlussdokuments des Weltgipfels von 2005 in Bezug auf die Schutzverantwortung und entsprechendes Handeln sicherstellen. Die Zivilgesellschaft kann außerdem öffentliche und private Investoren zu einem Abziehen von Direktinvestitionen bewegen.
  • Die Aufstellung von militärischem, polizeilichem und zivilem Personal durch die VN, regionale Organisationen oder einer Koalition von Staaten, auf Basis eines Mandats vom Sicherheitsrat der VN, kann notwendig werden um Massenverbrechen zu unterbinden. Der Einsatz von Gewalt ist aber nur dann angemessen, wenn alle friedlichen Mittel ausgeschöpft sind. Die Entwicklung einer stehenden militärischen Reaktionstruppe für die VN könnte helfen andauernde Massenverbrechen schnell zu stoppen.
Eine konsistente und nicht-selektive Implementierung der dritten Säule der Schutzverantwortung ist wichtig

Obwohl die Schutzverantwortungsprinzipen durch die Generalversammlung und den Sicherheitsrat der VN bestätigt worden sind, gibt es immer noch Sorgen über die Selektivität der Mitglieder des Sicherheitsrates und die Nutzung des Vetorechts durch die fünf ständigen Mitglieder bei Krisen in denen Massenverbrechen begangen werden. Diese Selektivität führt zu einer inkonsistenten Implementierung der Schutzverantwortung und belegt, dass Massenverbrechen weiterhin hingenommen werden. Auch die Schwierigkeiten bei der Mobilisierung politischen Willens in den VN und in regionalen wie sub-regionalen Organisationen, die nach wie vor bestehende Notwendigkeit eine effektive Zusammenarbeit der relevanten Akteure zu entwickeln sowie das Fehlen spezifischer Richtlinien für den Einsatz von Gewalt im Rahmen der dritten Säule beunruhigen. Während die Mitgliedstaaten der VN und regionaler sowie sub-regionaler Organisationen von den Erfahrungen der Vergangenheit lernen, müssen sie Leitlinien, Erfolgskriterien und Mindeststandards entwickeln, um alle Maßnahmen unter der dritten Säule effektiv zu implementieren und so Zivilisten vor Massenverbrechen schützen.

von Gregor Hofmann

[1] Kapitel VI der VN –Charta regelt die friedliche Beilegung von Konflikten. Kapitel VII regelt die Reaktionsmöglichkeiten auf eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens und auf Angriffshandlungen und Kapitel VIII beinhaltet Regeln für die Zusammenarbeit der VN mit regionalen Akteuren.

[2] Für eine kurze Erklärung der Bedeutung der “Uniting for Peace” Prozedur, siehe Interview von Genocide Alert mit dem Völkerrechtler Professor Claus Kreß zu Syrien vom 15.02.2012