Dr. Daniel Bultmann bei der Konferenz „Aghet und Shoah – Das Jahrhundert der Genozide“ von 8. bis 10. November 2015 in Berlin

Interview mit Dr. Daniel Bultmann über die Roten Khmer in Kambodscha: „Vielmehr sucht man nach exzessiver Gewalt, nach Blut an der Machete“

Dr. Daniel Bultmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der HU Berlin und hat im Rahmen der Tagung „Aghet und Shoah“ im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors in Berlin einen Vortrag zu den Gräueltaten der Roten Khmer im Kambodscha der 70er Jahre gehalten, indem er vor allem die zahlreichen Gefängnisse in den Fokus rückte, in denen jegliche Feinde der Roten Khmer unter anderem gefoltert wurden. Das Interview wurde von Timo Leimeister im November 2015 via Email geführt.

Genocide Alert: Wie stehen Sie zu dem Begriff Auto-Genozid, der häufig in Verbindung der Massenmorde unter den Roten Khmer in Kambodscha genannt wird?

Daniel Bultmann: Traditionell wird das Rote Khmer-Regime gerne in die Riege der weltweiten Genozide aufgenommen. Hierbei spielt nicht immer eine wissenschaftliche oder juristische Stringenz eine Rolle, sondern vielmehr ein politischer oder ethischer Wille. Das aktuell noch laufende Rote Khmer-Tribunal verhandelt jedenfalls Genozid als Strafsache nur in einer Nebennotiz. Und hier vor allem mit Blick auf die Verfolgung von Vietnamesen und einer muslimischen Minderheit, den Cham.

Klar ist, dass ein Großteil der Maßnahmen nicht der gezielten Vernichtung einer wie auch immer von den Roten Khmer definierten kulturellen oder ethnischen Gruppe diente. Zum Opfer fielen zuallererst die eigene Bevölkerung sowie die eigenen Kader, weswegen einige (nicht zuletzt aus ethischen Gründen) für den überaus ungelenken Begriff eines Auto-Genozids plädiert haben. Das Problem mit allen Begriffen ist jedoch, dass sie Vexierbildern ähnlich, gewisse Phänomene und Strukturen sichtbar machen, andere jedoch eher in den Hintergrund stellen. In Kambodscha kommt dabei auch immer wieder eine rassistische Blickführung der Wissenschaft zutragen, bei der den Roten Khmer keine komplexe Gewaltorganisation zugetraut wird, vielmehr sucht man nach exzessiver Gewalt, nach Blut an der Machete, nach Irrationalität, nach Berichten darüber wie Kader die Leber ihrer Opfer verspeisen. Statt einer komplexen Gewaltorganisation sieht man ein Abschlachten jeglicher Anzeichen von Modernität und Intelligenz am Werke.

Lange Zeit – also genau gesagt bis ein kambodschanisches Forschungsinstitut sich der Sache im Jahr 2005 annahm – wurde auch die Existenz des umfassenden bis in jedes Dorf hineinreichende Gefängnissystems weitestgehend ausgeblendet. Noch 2002 schrieb einer der bekanntesten Rote Khmer-Forscher – faszinierender weise ausgerechnet in einem Buch über das Zentralgefängnis in Phnom Penh – es habe keine weiteren Gefängnisse gegeben.

Die Roten Khmer passen scheinbar nicht so recht in gängige Muster genozidärer Gewalt. Einige behelfen sich daher mit dem Begriff des Politizids, um zumindest der zentralen Opfergruppe besser gerecht zu werden und die Nähe zu Russland unter Stalin und China unter Mao zu markieren. Doch auch dieser Begriff blendet die Million Opfer von Hunger und Krankheit und vor allem den Eingriff in die vitalen Grundlagen des Volkes aus: die Kappung jeglicher sozialer Bande, die Vernichtung von Kultur und Tradition und jeglicher Form von gemeinschaftlicher Identitätsstiftung. Allen Menschen wurde unter den Roten Khmer ihre Gemeinschaft mit anderen und mit jeglicher Form der für sie sinngebenden Tradition genommen, das soziale Band wurde zunächst zwar vor allem für obere soziale Milieus, aber sehr schnell eben auch für alle durch Terror und Isolation ersetzt.Und auch ich glaube, dass das, was unter den Roten Khmer geschah, weit über einen staatlich organisierten Massenmord oder Politizid hinaus ging.

Bei den Roten Khmer handelte es sich nicht um die Vernichtung einer wie und von wem auch immer definierten Gemeinschaft, sondern die Vernichtung von Gemeinschaft an und für sich zugunsten einer rassischen oder sozialistischen Utopie. Nun wird man allerdings die Probleme mit einem Genozidbegriff, der das Produkt politischer Auseinandersetzungen zwischen Großmächten zu Zeiten des Kalten Krieges ist, nicht einfach los. Eigentlich bräuchte man einen neuen Begriff – einen Begriff, der diesen Eingriff in die vitalen Grundlagen des Volkes erfasst, die Umformung ihres Alltags, Handelns und Denkens, dieses bis ins Detail durchgeführte „Social Engineering“, das in seiner Radikalität des Umbaus und allgegenwärtigen Terrors vor keinem im Staat Demokratisch Kampuchea (Kambodscha zur Zeit der Roten Khmer Anm. d. Red.) Halt machte.

Genocide Alert: Die Gräueltaten in Kambodscha sind den meisten durch den Film „Killing Fields“ bekannt. Entspricht das im Film vermittelte Bild der Realität?

Daniel Bultmann: Hier sieht man sehr genau, wie der Blick auf gewisse Formen der Gewalt gelenkt wird. Der Film blendet – wahrscheinlich einerseits aufgrund einer nötigen Dramaturgie sowie andererseits aufgrund der Einzelperspektive aus der heraus erzählt und damit auch wahrgenommen wird – zentrale Gewaltverläufe unter den Roten Khmer aus und trug damit auch zu einer gewissen Mythenbildung bei. Viele beziehen ihr Wissen über die Roten Khmer aus diesem Film.

In ihm findet sich das Bild, wie unter den Roten Khmer wahllos Intellektuelle – oder einfach nur: Brillenträger – in den Reisfeldern ermordet wurden. Zu einem gewissen, das Geschehen stark vereinfachenden, Grad mag das Bild auch zutreffen. Allerdings verlief ein Großteil der Gewalt entlang anderer Muster und in anderen Bereichen des Staatsapparates, nämlich vor allem in den knapp zweihundert „Umerziehungs- und Sicherheitszentren“ der Roten Khmer. Das hohe Maß an zentralistisch organisierter und geradezu bürokratischer Staatsgewalt gerät zumeist aus dem Blick.

Die mit großem Abstand meisten Opfer fanden sich als Verräter der Revolution in den Gefängnissen des Landes wieder. Und hier fanden sich nicht nur Brillenträger, sondern von Monat zu Monat auch immer mehr die eigenen Kader und als ‚Basisvolk‘ angesehene Bauern ein. Nach Tagen, Wochen oder gar Monaten der Folter und der Ablegung von Geständnissen wurden sie dann zu den sogenannten „Killing Fields“ gebracht. Wichtig ist nun, dass diese Massengräber immer an ein Gefängnis angebunden waren. Sie waren Teil des umfangreichen Gefängnisapparates und nicht einer sich spontan vollziehenden Gewalt durch lokale Kader. Spontane Gewalt gab es unter den Roten Khmer so gut wie gar nicht, denn sie wurde als individualistisch angesehen und konnte die Kader selbst in Gefahr bringen. Wer die Prozeduren des Kollektivs und die damit einhergehende engmaschige Berichterstattung an obere Instanzen nicht einhielt, war selbst ein Feind der Revolution, hatte etwas zu verbergen. Spontan jemand ermorden, war daher überaus gefährlich. Wer seine eigenen Agenden verfolgte, musste dies zumindest im Rahmen der Gewaltbürokratie des Regimes tun.

Dass das Bild aus dem Film nicht komplett der Realität entspricht, kann man den Machern nun aus vielerlei Gründen nicht zum Vorwurf machen. Ein Grund kommt jedoch noch mit Bezug auf die Roten Khmer hinzu: Die Menschen, die unter den Roten Khmer lebten, hatten keinerlei Einblick in den Gefängnisapparat, da das Regime erstens nur wenige aus den Gefängnissen wieder entließ und zweitens strengste Geheimhaltung walten ließ. Niemand durfte wissen, was außerhalb seiner eigenen Arbeitskooperative und seinem Dorf geschah. Niemand durfte seine Kooperative überhaupt ohne Erlaubnis in benachbarte Gegenden verlassen. Das einzige, was man oftmals mitbekam, war, dass Menschen abgeholt wurden und dann nicht mehr zurückkehrten. Dass heißt, das die Perspektive eines Einzelnen – wie sie im Film dargelegt wird – nahezu notwendigerweise den komplexen Gewaltapparat im Hintergrund ausblendet.

Genocide Alert: Striktes, ideologisches geprägtes, festhalten z.B. an quadratischen Feldern scheint auf dem ersten Blick belustigend zu wirken, aber hatten ein tödliches Potenzial. Welche Gefahren sehen Sie in der (tödlichen) Absurdität der Handlungen seitens der Roten Khmer hinsichtlich der Rezeption und Akzeptanz des Völkermordes?

Daniel Bultmann: Letztlich konnten die Roten Khmer ihre Pläne einer „fordistischen“ Normierung der Produktionsabläufe auf den Reisfeldern nicht komplett umsetzen. Jedoch prägte es die Erwartungshaltung der Führung, was das Volk ihrer Ansicht nach abliefern sollte (Stichwort drei Tonnen Reis pro Hektar). Als die Erwartungen nicht erfüllt wurden und der Plan an der Komplexität der Wirklichkeit scheiterte, suchte man nach Ursachen – und dies aus verschiedenen Gründen vor allem in Form von Sabotage am Plan in den eigenen Reihen (eine andere Möglichkeit wäre ja die Erhöhung der Komplexität des Plans, um sich der Komplexität der Wirklichkeit zumindest scheinbar immer mehr anzunähern). Die „Ideologie“ – oder etwas soziologischer gesprochen – die Denkschemata erklären, welche Erwartungshaltung die Führungsriege hatte und nach welchen (Gewalt)Mustern sie nun versuchte, die verloren geglaubte Kontrolle wieder zu erlangen. Nicht mehr und nicht weniger.

Nun mag diese Normierung von außen – oder eher: von heute – betrachtet ein wenig belustigend wirken. Es ist jedoch der Modus, nach dem die Führung ihre Untertanen und die neu zu erschaffende sozialistische Ordnung wahrnahm. Es ist zudem (entgegen des gängigen Bildes des Steinzeitkommunismus) ein überaus modernes Denken. Und genau das ist es, was ich gerne zurück in den Diskurs rund um die Roten Khmer bringen würde: Die Roten Khmer sind uns nicht so fern, wie viele denken, sie sind unserem Denken vielmehr relativ nah. Die Rezeption und Akzeptanz des „Völkermordes“ krankt eben gerade an der Zurückweisung der „Ideologie“ in graue Vorzeiten der Menschheit und Sphären der undurchdringbaren Pathologie. Nun liegt jedoch eben nicht willkürliches Gemetzel an der Wurzel einer „wahnhaften Ideologie“ der Roten Khmer, sondern minutiöse bis in eine (tödliche) Absurdität gesteigerte Planung einer zur Wirklichkeit umgeformten Utopie, die absolut alles, was im Kollektiv geschieht entlang der Norm zu optimieren trachtet.

Es handelt sich um ein radikales Projekt des Social Engineerings, das den Volkskörper entlang einer modernen Utopie und ihrer Ordnungsfantasie umformt. Die starre Norm bekämpft dabei allerdings das Leben. Denn Leben heißt aus Sicht der Norm immer: Abweichung. Genau diese starre Gewaltordnung sowie der normierende Eingriff in die vitalen Grundlagen eines gesamten Volkes ist es, der die meisten Beobachter auch an den Roten Khmer verstört – vielmehr noch als es das oft bemühte „Steinzeitdenken“ tun würde. Die Rezeption muss sich diesem Schrecken annehmen, die komplexen und überaus modernen Gewaltlogiken unter den Roten Khmer besser verstehen und das Geschehen nicht ständig in die Welt paranoider Barbarei und ideologischer Verblendung abschieben. Hier besteht meiner Ansicht nach noch sehr großer Nachholbedarf. Und dies vor allem in Deutschland, wo die Forschungsarbeit, Diskussion sowie die Rezeption neuer Erkenntnisse zu den Roten Khmer irgendwann in den 80ern stehen geblieben ist.

 

Autor: Timo Leimeister ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Genocide Alert

 

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