Dr. Gerd Hankel bei der Konferenz „Aghet und Shoah – Das Jahrhundert der Genozide“ von 8. bis 10. November 2015 in Berlin

Siegerjustiz in Ruanda und Genozidbegriff – Dr. Gerd Hankel im Interview

Dr. Gerd Hankel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in Hamburg. Im Rahmen der Genozidtagung „Aghet und Shoah“ im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors hielt er einen Vortrag über die postgenozidale Gesellschaft in Ruanda und insbesondere die im Anschluss folgende justiziellen Aufarbeitung. Laut Hankel stellt diese Aufarbeitung eine Siegerjustiz dar, die zwar die Taten der Hutu verfolgte, jedoch eigene Gräueltaten zu verdecken versuchte. Das Interview wurde von Timo Leimeister im November 2015 via E-Mail geführt.

Genocide Alert: Was genau macht für Sie eine Siegerjustiz aus?

Gerd Hankel: Im Wortsinne ist es eine Justiz des Siegers. Sieger kann zum einen der Sieger über ein Unrechtsregime sein, der mittels der neuen Justiz die Verbrechen des Regimes ahndet. Die Verbrechen des Regimes sind so schwer und so eindeutig und zugleich ist der Sieger am vergangenen Verbrechensgeschehen so unbeteiligt, dass er als Sieger seine Machtposition nutzen kann und – im Namen der Menschheit – nutzen muss, um die Täter zu bestrafen. Seine moralische Position wird nicht beschädigt. Im Gegenteil, er übernimmt eine Aufgabe, die deutlich macht, dass es Werte und Gesetze gibt, die nicht konsequenzlos, d.h. straflos verletzt werden können. So gesehen kann eine Siegerjustiz nicht kritisiert werden.

Zum andern kann der Sieger über ein Unrechtsregime ein Sieger sein, der bis zu seinem Sieg ebenfalls Unrecht begangen hat. Im Ausmaß mag es längst nicht so groß sein wie das vom alten Regime begangene Unrecht, aber es ist groß genug, dass es in der Erinnerung der Bevölkerung existent ist. In dieser Situation nur die Verbrechen der besiegten Seite zu ahnden und die Verbrechen des Siegers straflos bleiben zu lassen, wäre eine andere Form der Siegerjustiz, eine moralisch überaus zweifelhafte, weil sie dem betreffenden Land keinen Frieden bringen wird.

Genocide Alert: Was hat das postgenozidale Justizsystem in Ruanda für Fehler begangen? Was hätte es anders machen sollen?

Gerd Hankel: In Ruanda ist – mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft – die zweite, schlechte Form der Siegerjustiz praktiziert worden. Es gab nur einige wenige Verfahren wegen Kriegs- oder Menschlichkeitsverbrechen des neuen Regimes, aber diese Verfahren waren Scheinverfahren, d.h. es wurde ungenügend ermittelt, nachsichtig bestraft und kurzzeitig verbüßt. Viele der Täter, sofern sie Militärs waren, wurden nachher sogar befördert. In dieser Vorgehensweise wurde die neue ruandische Justiz vom Internationalen Strafgericht in Arusha unterstützt, das zwar die Völkermordverbrechen der hochrangigen Täter des alten Regimes ahndete, doch die Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen des neuen Regimes (glaubhafte Schätzungen gehen von 100.000 Getöteten allein im Jahr 1994 aus) unbestraft ließ. Versuche der Chefanklägerin Carla Del Ponte, an diesem Zustand etwas zu ändern, endeten 2003 damit, dass sie ihre Zuständigkeit für Ruanda verlor.

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Gerichtshof in Arusha wie auch die nationale ruandische Justiz Verbrechen des Siegers hätten bestrafen müssen. Nur einige wenige Verfahren hätten ausgereicht, um dem in Ruanda heute allgegenwärtigen Eindruck, es sei mit zweierlei Maß gemessen worden, entgegenzuwirken. Außerdem wäre auf diese Weise den Völkermordtätern die Möglichkeit genommen worden, die eigenen Verbrechen nicht in einer allgemeinen Unzufriedenheit zum Verschwinden zu bringen oder auch nur stark zu verharmlosen.

Genocide Alert: Welche Rolle sprechen Sie der Justiz in postgenozidalen Gesellschaften zu? Können sie zur Prävention weiterer Völkermorde beitragen?

Gerd Hankel: Genozidverbrechen müssen bestraft werden. Das ist international absoluter Konsens. Mit der Bürde eines ungesühnten Völkermords ist es schwer, wenn nicht unmöglich, eine stabile, friedliche Gesellschaft aufzubauen. Das Verbrechen des Völkermords zu bestrafen demonstriert vor aller Augen, dass die Verbotsnorm gilt. Auf Strafe zu verzichten hieße, zur Erosion dieser Norm beizutragen. Daraus folgt, dass eine gültige Norm, d.h. eine Norm, die durchgesetzt wird, eine präventive Wirkung hat. Wer mit Bestrafung rechnen muss – auch wenn sie erst Jahre später kommt –, zögert zumindest, das Verbrechen zu begehen.

Genocide Alert: Für wie wichtig halten Sie die Bezeichnung eines Massenverbrechens als Genozid? Welche Gefahren sehen sie, wenn dieser Begriff inflationär eingesetzt wird?

Gerd Hankel: Der Begriff Genozid ist in der Welt, er kann nicht einfach wieder abgeschafft werden. Nach seiner Definition kennzeichnet er ein anderes Verbrechen als ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Allerdings ist es sehr problematisch, dieses Verbrechen zu einem schwereren Verbrechen als die beiden letztgenannten zu machen. Der Unterschied liegt in der Tatmodalität, nicht in der Dimension des Unrechts. Dass das umstritten ist, liegt daran, dass der Genozidbegriff unweigerlich Assoziationen an den Holocaust an den europäischen Juden weckt. Er ist so zum Inbegriff des schlimmsten Unrechts geworden. Ihn als Appell an das Weltgewissen zu benutzen, liegt also nahe. Aus Opfersicht ist das überaus verständlich, doch man sollte im Allgemeinen sehr genau hinschauen, bevor ein Verbrechen als Genozid bezeichnet wird. Bei Appellen, die auf eine unklare Motivationslage gründen, ist die Gefahr, Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung hervorzurufen, sehr groß.

 

Autor: Timo Leimeister ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Genocide Alert

 

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