Die Massenverbrechen in Libyen (2011)

„Heute Nacht werden wir kommen und die Verräter von Bengasi jagen […] Wir werden ihnen keine Gnade gewähren.“[1]

Mit diesen Worten kündigte der libysche Herrscher Muammar al-Gaddafi im März 2011 ein Massaker an den Bewohnern der Großstadt Bengasi im Nordosten Libyens an. Die Rebellen bezeichnete er als Ratten und Kakerlaken; Drohgebärden, die viele an den Genozid in Ruanda 1994 erinnerten. Zuvor war ein gewaltsamer Aufstand gegen das Regime eskaliert: Im Zuge des Arabischen Frühlings kam es 2011 in Libyen zu Protesten. Rebellen konnten den Osten des Landes und einige Städte im Westen unter ihre Kontrolle bringen. Staatschef Gaddafi ging mit äußerster Härte gegen den Aufstand vor. Der UN Sicherheitsrat forderte daraufhin die libysche Regierung in Resolution 1970 auf, Angriffe auf Zivilisten sofort einzustellen. Zudem verhängte er Sanktionen und verwies den Fall zur Untersuchung an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH).[2] Doch während einer Gegenoffensive kam es zu weiteren, schweren Menschenrechtsverletzungen. Als Reaktion verabschiedete der Sicherheitsrat Resolution 1973, die unter Verweis auf das Konzept der Schutzverantwortung eine Flugverbotszone sowie alle notwendigen Mittel zum Schutz der Zivilbevölkerung autorisierte.

Der Sicherheitsrat ermächtigt die Mitgliedstaaten […] alle notwendigen Maßnahmen    zu ergreifen […] um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete in der Lybisch-Arabischen Dschamairija, einschließlich Bengasis, zu schützen […].[3]

Deutschland enthielt sich zusammen mit Brasilien, Indien, China und Russland der Stimme. Eine internationale Koalition unter Führung der USA, Frankreichs und Großbritanniens und in Zusammenarbeit mit Qatar, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten setzte das Mandat daraufhin in die Tat um. Im August 2011, nach über fünf Monaten Bürgerkrieg, brach das Gaddafi-Regime schließlich zusammen. Ob Resolution 1973 auch den Sturz des Gaddafi Regimes zum Zweck des Schutzes der Zivilbevölkerung umfasste, ist weiterhin umstritten.[4] Bis heute herrscht in Libyen ein Bürgerkrieg.[5]

Die Deutsche Reaktion auf die Revolution in Libyen

Demonstration gegen das Gaddafi-Regime in Bayda, Libyen (By ليبي صح [CC0], via Wikimedia Commons)

Demonstration gegen das Gaddafi-Regime in Bayda, Libyen (By ليبي صح [CC0], via Wikimedia Commons)

Die rasante Eskalation der Libyen-Krise führte zu großer medialer und politischer Aufmerksamkeit. Dieser Umstand war vor allem Gaddafis Massenverbrechen an der eigene Zivilbevölkerung geschuldet. Im Zusammenhang mit der Libyen-Krise lässt sich keine klare außenpolitische Linie Deutschlands erkennen. Zu Beginn wurde die Verantwortung anderen Ländern in der Region zugeschoben. Im entscheidenden Moment, der Abstimmung im Sicherheitsrat verweigerte man sich einer gemeinsamen Linie mit den internationalen Partnern. Im Zuge der Flüchtlingskrise weitete die deutsche Regierung ihr Engagement zur Stabilisierung Libyens aus.

Die Bundesregierung verurteilte nach Ausbruch der Proteste das Vorgehen der libyschen Regierung als schwere Menschenrechtsverletzungen und setzte sich innerhalb des UN Sicherheitsrates und der EU für Sanktionen ein. Eine Verantwortung zum Handeln sah man hingegen vor allem auf Seiten der Staaten der Region.[6] Als die Arabische Liga schließlich eine Flugverbotszone forderte, äußerte die schwarz-gelbe Regierung Zweifel an einem militärischen Eingreifen.[7] In einer Regierungserklärung begründete Außenminister Guido Westerwelle (FDP) die Enthaltung im Sicherheitsrat unter anderem damit, dass eine Zustimmung auch eine militärische Beteiligung Deutschlands nach sich ziehen würde.[8] Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) bemängelte, dass fehlende Zukunftskonzept für Libyen.[9] Außenminister Westerwelle gab außerdem an, man habe sich für eine Verschärfung der Sanktionen gegen das Regime eingesetzt.[10]

Die Zurückhaltung Deutschlands wurde von vielen kritisch gesehen. Schließlich war die Bundesrepublik bis dato ein aktiver Verfechter der Schutzverantwortung und Mitglied der Gruppe der Freunde der R2P innerhalb der UN.[11] Sanktionen hätten für sich genommen kein Massaker an der Bevölkerung Bengasis verhindern können, sondern nur mittelfristigen Druck auf das Regime ausgeübt. Bedenkt man, dass ein Massaker unmittelbar angekündigt worden war, so war die Passivität der deutschen Regierung eine der Situation vollkommen unangemessene Vorgehensweise. Anders als vom damaligen Außenminister behauptet, hätte eine deutsche Zustimmung zur UN Resolution 1973 weder völkerrechtlich noch politisch zu einer militärischen Beteiligungspflicht der Bundesrepublik geführt.

Die Enthaltung im Sicherheitsrat spiegelte auch eine Uneinigkeit der damaligen Bundesregierung in Bezug auf die Schutzverantwortung wider. Vor allem die FDP hatte sich in den vorangegangenen Jahren immer wieder kritisch gegenüber Auslandseinsätzen der Bundeswehr geäußert; Außenminister Westerwelle propagierte eine sog. „Kultur der Zurückhaltung“, die jedoch in der vorliegenden Situation für die Transatlantiker in der Koalition zum Konfliktgegenstand wurde. Der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses, Ruprecht Polenz (CDU/CSU) kritisierte, das Handeln der Bundesregierung eröffne eine operative Lücke: Die Bundesregierung habe innerhalb der EU und UN der Aussage zugestimmt, dass Gaddafi abtreten müsse und in diesem Zusammenhang auch Sanktionen unterstützt. Doch diese begünstigten keine sofortige Absetzung Gaddafis.[12] Friedbert Pflüger (CDU), der von 2005 bis 2006 parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium war, bezeichnete die Enthaltung Deutschlands gar als „schweren Fehler“. Die Regierung habe sich für einen Sonderweg entschieden und das obwohl sie sich rhetorisch für eine gemeinsame europäische Außenpolitik einsetze.[13]

Der Spiegel berichtete über den Versuch von CDU/CSU, Kritik auf Außenminister Westerwelle abzuschieben. „Der Minister hat seine Entscheidung getroffen. Der Minister hat seinen Botschafter in New York angewiesen. Er vertritt diese Entscheidung auch“, so der außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Philipp Mißfelder. FDP Generalsekretär Christian Lindner betonte hingegen, dass auch Verteidigungsminister de Maizière und die Kanzlerin in die Entscheidung involviert waren und diese somit gemeinsam verantworteten.[14]

Nach der Entscheidung im Sicherheitsrat kam es auch innerhalb der SPD Fraktion und bei den Grünen zu harten Auseinandersetzungen hinsichtlich des deutschen Abstimmungsverhaltens. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier zeigte Verständnis für das Vorgehen der Regierung, konnte jedoch innerhalb der SPD Fraktion keine Mehrheit für einen interventionskritischen Kurs hinter sich versammeln. Renate Künast (Grüne) betonte die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, notfalls auch militärisch einzuschreiten, wenn ein Staat seine Schutzverantwortung gegenüber der eigenen Zivilbevölkerung missachte. Sie ging aber auch auf die Zerrissenheit der Grünen im Hinblick auf eine Flugverbotszone ein: „Es gibt Leute die dazu Ja sagen, und es gibt aber auch viele Leute, die auf die Risiken hinweisen, die das mit sich bringt“.[15]

Die Medienlandschaft äußerte ganz überwiegend Kritik am passiven Vorgehen der Bundesregierung und am Sonderweg gegenüber den anderen westlichen Alliierten. So bezeichnete die FAZ die Enthaltung im UN-Sicherheitsrat als diplomatischen Schadensfall höchsten Ausmaßes für Berlin und für Westerwelle persönlich. Die Entscheidung habe zur Isolierung Deutschlands in der westlichen Welt geführt.[16] Ähnliche Haltungen waren auch in den Kommentarspalten anderer Zeitungen zu lesen.[17]

Nach dem Ende der Intervention schaffte der UN Sicherheitsrat 2011 eine Unterstützungsmission für Libyen (UNSMIL). Diese Mission sollte die Übergangsregierung bei der Konfliktbewältigung unterstützen.[18] Tatsächlich wurde Libyen jedoch zusehends instabiler. Nach den Wahlen zum Nationalkongress 2012 und einander ablösenden Übergangsregierungen, bildeten sich nach der Wahl 2014 zwei rivalisierende Regierungen. Wegen gewaltsamer Machtkämpfe zwischen den beiden Lagern scheiterte im Jahr 2014 der von der UN Unterstützungsmission eingeleitete Übergangsprozess.[19]

Unter Außenminister Steinmeier (SPD) übernahm Deutschland in den letzten Jahren wieder eine aktivere Vermittlerrolle in Libyen. Deutschland ist Teil der sogenannten 3+5 Gruppe, in der sich die wichtigsten Förderer des Friedensprozesses zusammengeschlossen haben.[20] In diesem Zusammenhang lud Außenminister Steinmeier im Juni 2015 zu einer Friedenskonferenz ins Auswärtige Amt. Dabei gelang es, die Vertreter der Konfliktparteien erstmals an einem Tisch zu versammeln, um den Entwurf eines Friedensabkommens zu erörtern.[21] Zudem ist der deutsche Diplomat Martin Kobler seit November 2015 UN-Sondergesandter für die UNSMIL.[22]

Der Zerfall der staatlichen Ordnung führte zur Infiltration Libyens durch den IS. Heute wird Libyen zunehmend im Zusammenhang mit dem sich im Land ausbreitenden Terrorismus und der Flüchtlingskrise diskutiert.[23] Außenminister Steinmeier sagte 2015 hierzu: „ Als Europäische Union sind wir unmittelbarer Nachbar Libyens und werden ebenfalls davon berührt sein, wenn das Chaos dort weiter um sich greift“.[24] Deutschland beteiligt sich seit Juni 2015 an der von der EU geleiteten Mission EU Naval Forces Mediterranean (EUNAVFOR MED) mit zwei Kriegsschiffen der Bundesmarine. Kernaufgabe ist die Bekämpfung krimineller Schleusernetzwerke, die von Libyen aus operieren.[25]

Quellen

Weitere Beiträge von Genocide Alert zum Thema

» Genocide Alert Monitor: Libyen (Stand 2016)

» Die Schutzverantwortung, die Libyen-Intervention und die Folgen für Syrien

» Libyen: Stresstest für die Schutzverantwortung?

» Deutschland und die Umsetzung der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect)

Verweise im Text

[1] Harald Müller (2011) „Ein Desaster. Deutschland und der Fall Libyen“. In: HSFK Standpunkte 2/2011, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Online verfügbar unter https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_downloads/standpunkt0211_02.pdf

[2] UN Sicherheitsrat Resolution 1970. Online verfügbar unter http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=S/RES/1970(2011).

[3] UN Sicherheitsrat Resolution 1973. Online verfügbar unter http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=S/RES/1973(2011).

[4] Der Tagesspiegel (o. D.) „Die Nato ist an die Grenzen des UN-Mandats gegangen“. Online verfügbar unter http://www.tagesspiegel.de/politik/die-nato-ist-an-die-grenzen-des-un-mandats-gegangen/4536672.html.

[5] https://www.genocide-alert.de/monitor/ ; Gregor Hofmann (2015) „Nichts gelernt? Libyen vier Jahre nach der Intervention“. Online verfügbar unter http://friedensakademie-blog.eu/2015/02/06/nichts-gelernt-libyen-vier-jahre-nach-der-intervention/.

[6] Protokoll der Plenarsitzung vom 16.03.2011. Online verfügbar unter http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/17/17095.pdf.

[7] Der Tagesspiegel (2011) „Arabische Liga fordert Flugverbot“. Online verfügbar unter http://www.tagesspiegel.de/politik/arabische-liga-fordert-flugverbot/3944312.html.

[8] Robert Schütte (2011) „“Just War or just War?“ Die Lehren der Libyenintervention und ihre Konsequenzen für die Schutzverantwortung“. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Vol. 4 (4).

[9] Harald Müller (2011)

[10] Robert Schütte (2011)

[11] Robert Schütte (2011)

[12] Protokoll der Plenarsitzung vom 18.03.2011. Online verfügbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17097.pdf.

[13] Der Westen (2011) „Harte Kritik an der Libyen-Politik der Bundesregierung“ Online verfügbar unter http://www.derwesten.de/politik/harte-kritik-an-der-libyen-politik-der-bundesregierung-id4447372.html.

[14] Spiegel online (2011) „Libyen-Enthaltung in der Uno: Wie es zu dem Jein kam“. Online verfügbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/libyen-enthaltung-in-der-uno-wie-es-zu-dem-deutschen-jein-kam-a-752676.html.

[15] Protokoll der Plenarsitzung vom 18.03.2011. Online verfügbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17097.pdf.

[16] Frankfurter Allgemeine (2011) „Die Isolierung des Systems Westerwelle“ Online verfügbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/un-resolution-zu-libyen-die-isolierung-des-systems-westerwelle-1606261.html.

[17] Süddeutsche Zeitung (2011) „Der Krisen-Profileur“. Online verfügbar unter http://www.sueddeutsche.de/politik/libyen-westerwelle-und-deutschlands-enthaltung-der-krisen-profileur-1.1074028; Die Zeit (2011) „Deutschlands feige Außenpolitik“. Online verfügbar unter http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-03/libyen-sicherheitsrat-westerwelle.

[18] United Nation Support Mission in Libya (k. D.) „Background“. Online verfügbar unter https://unsmil.unmissions.org/Default.aspx?tabid=3545&language=en-US.

[19] Bundeszentrale für politische Bildung (2016) „Libyen“. Online verfügbar unter http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54649/libyen; United Nation Support Mission in Libya (k. D.).

[20] Auswärtiges Amt (2016) „Außenpolitik“. Online verfügbar unter http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Libyen/Aussenpolitik_node.html.

[21] Pressemitteilung des Auswärtigen Amts (17.06.2015) “Außenminister Steinmeier zu den Friedensverhandlungen in Libyen”. Online verfügbar unter http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2015/150617_BM_Libyen.html?searchArchive=0&searchEngineQueryString=Libyen&path=%2Fdiplo%2FDE*&searchIssued=0&searchIssuedAfter=27.11.2013.

[22] Auswärtiges Amt (2016)

[23] Protokoll der Plenarsitzung vom 28.01.2016. Online verfügbar unter http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/18/18152.pdf.

[24] Pressemitteilung des Auswärtigen Amts „Außenminister Steinmeier nach Ende des Außenministertreffens zu Libyen“. Online verfügbar unter http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2015/151213_BM AM-Treffen zu Libyen.html.

[25] Der Einsatz der Bundeswehr im Mittelmeer (EUNAVFOR MED Operation Sophia). Online verfügbar unter http://www.einsatz.bundeswehr.de/portal/a/einsatzbw/!ut/p/c4/LYuxDYAwDARnYYG4p2MLoEEOeZAVJ0HBgMT0pEBf3emeZmrLfMvOJiWz0kjTKr1_nH8CFkg-2d6GHO2C6q9gLxyu9txKTQguoP6tpCRm0ARUOuLQfXgJ-yA!/.


Autorin: Nina Sudholt