Beiträge

Idlib: Humanitäre Katastrophe aufgeschoben, nicht durchgestanden – Ein Debattenbeitrag

Trotz der Einigung auf eine demilitarisierte Zone in Idlib, kann ein Angriff der syrischen Armee und ihrer Verbündeten auf die letzte Rebellenhochburg in Syrien nicht ausgeschlossen werden. Damit ist auch die Debatte über eine mögliche internationale Reaktion auf eine solche Offensive noch nicht durchgestanden. In Deutschland wurde jedoch bislang versäumt, dieses wichtige Thema in der Öffentlichkeit in angemessener und notwendiger Breite auszudiskutieren. Die Situation weist eine derartige Komplexität auf, dass es Sichtweisen gibt, die es abzuwägen gilt. Was will, was kann Deutschland angesichts drohender schwerer Massenverbrechen tun? Pro und Contra der verschiedenen Optionen wurden öffentlich kaum abgewogen, stattdessen kam es zu kategorischen Aussagen. Es fehlt eine grundsätzliche außenpolitische Debatte. Dieser Beitrag will diese schwierige Diskussion wagen, Für und Wider eines Eingreifens zum Schutz der Zivilisten in Idlib abwägen und alternative Handlungsoptionen diskutieren.

Beitrag von Emilia von Mettenheim, Gregor Hofmann, Jens Stappenbeck & Robin Hering

Weiterlesen

Auswirkungen begrenzter Luftschläge auf die syrische Zivilbevölkerung

Genocide Alert Policy Brief, August 2013

Nach dem Giftgaseinsatz am 21. August in Vororten von Damaskus wird eine zeitlich begrenzte militärische Reaktion gegen die syrische Regierung erwogen. Eine derartige Intervention wäre in erster Linie eine Strafaktion, die das Regime von Präsident Assad von künftigen, möglicherweise systematischeren Einsätzen chemischer Waffen gegen die Zivilbevölkerung abschrecken soll. Das vorliegende Papier analysiert die Frage, welche Konsequenzen ein Militäreinsatz für den Schutz der syrischen Zivilbevölkerung haben könnte.

Positive Auswirkungen auf den Schutz der Zivilbevölkerung

 Eine Militärintervention könnte den unmittelbaren Zweck haben, die syrische Regierung von weiteren C-Waffen Einsätzen abzuschrecken und so den Schutz der Bevölkerung vor künftigen Attacken zu erhöhen. Unter zwei Bedingungen würden Zivilisten durch eine Intervention vor weiteren Angriffen mit Chemiewaffen geschützt: Erstens, wenn die Luftschläge einen ausreichend hohen militärischen Schaden für die syrische Regierung bewirken; zweitens, wenn die Drohung weiterer Luftschläge im Falle fortgesetzter Giftgas-Angriffen als glaubwürdig wahr-genommen wird.

Eine Zerstörung der syrischen Luftwaffe würde zudem die Möglichkeit Assads einschränken, wie in der Vergangenheit zivil bewohnte Gebiete zu bombardieren. Der syrischen Regierung würde also ein Instrument aus der Hand genommen, mit dem die Bevölkerung unter Missachtung aller einschlägigen Normen des humanitären Völkerrechts seit Jahren terrorisiert wird.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Zivilisten durch Luftschläge unbeabsichtigt zu Schaden kommen, ist als eher gering einzuschätzen, solange sich die USA an dem in Libyen erfolgreich umgesetzten Konzept der „zero expectation“ orientieren. Hiernach wurden Militärschläge nur dann ausgeführt, wenn es keine absehbare Gefahr einer Verletzung oder Tötung von Zivilisten gab.[i] Flugfelder und Raketenstellungen könnten relativ unproblematisch unter Beschuss genommen werden. Zivile Opfer können aber niemals ausgeschlossen werden, zumal die syrische Regierung militärische Stellungen absichtlich in zivil bewohnte Gebiete verlegt hat.

Negative Auswirkungen auf den Schutz der Zivilbevölkerung

Begrenzte Luftschläge können zwar die Fähigkeiten des Regimes verringern, Gewalt gegen die Bevölkerung auszuüben und künftige Gas-Angriffe abschrecken. Sie bieten aber keinen direkten Schutz vor Angriffen, wie es eine Flugverbots- oder Schutzzone könnte.

In jedem Fall ist damit zu rechnen, dass die syrische Regierung Vergeltungsaktionen gegen die eigene Bevölkerung oder die Bevölkerung von Nachbarstaaten unternehmen sowie den bereits heute prekären humanitären Zugang weiter einschränken könnte. Ebenfalls denkbar wäre eine noch systematischere Ausnutzung der eigenen Bevölkerung als menschliche Schutzschilde oder eine Geiselnahme von UN-Mitarbeitern.

Die Auswirkungen auf den Konfliktverlauf sind zudem ungewiss. Das militärische Kräfteverhältnis würde durch ein kurzfristiges Eingreifen zum Vorteil oppositioneller Kräfte verändert, die sich in der Vergangenheit ebenfalls Menschenrechtsverletzungen begangen haben, wenn auch in geringerem Ausmaß als das Assad Regime. Eine weitere Eskalation des Bürgerkriegs kann ebenso wenig ausgeschlossen werden wie eine Dynamik, Friedensgespräche wie im Fall Bosnien 1995 aufzunehmen. Dies ist jedoch von einer erneuten diplomatischen Initiative unter Einbeziehung Russlands und des Irans abhängig.

Erforderliche Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung

Um zivile Opfer als Folge von Luftschlägen zu vermeiden, sind sorgfältige Aufklärung, Pla-nung und Durchführung der Angriffe erforderlich. Der Schutz der Zivilbevölkerung muss hierbei oberste Priorität haben und sollte nicht durch militärischen Zeitdruck eingeschränkt werden. Wie in Libyen sollte jede militärische Operation nur dann durchgeführt werden, wenn zivile Opfer mit höchster Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden können. Zudem bedarf es klarer Mechanismen, um Informationen zu möglichen zivilen Opfer zu erhalten und öffentlich machen zu können. Im Gegensatz zu Kombattanten, werden getötete Zivilisten bisher kaum durch die Streitkräfte gezählt und erfasst.

Um die Situation der Bevölkerung mittelfristig zu verbessern, ist ein Neustart von Gesprächen notwendig. Die Bundesregierung sollte hier die Initiative ergreifen und eine direkte Vermittlung zwischen dem Westen und Russland, bestenfalls auch dem Iran, anstreben. Die durch ein Eingreifen neu geschaffene Konflikt-Dynamik sollte zum Anlass genommen werden, die für alle Seiten zunehmend inakzeptable Situation in Syrien auf diplomatischem Weg zu lösen.

Kurzfristig ist damit zu rechnen, dass die bereits jetzt dramatisch hohen Flüchtlings-zahlen in Folge eines Militäreinsatzes weiter zunehmen könnten. Bereits heute ist ein Viertel der syrischen Bevölkerung Binnenvertriebene. Über eine Million Kinder wurden durch den Bürgerkrieg zu Flüchtlingen. Derzeit wird zu wenig humanitäre Hilfe nach Syrien und in dessen Nachbarstaaten geliefert. Eine Intervention müsste daher mit einer deutlichen Aufstockung humanitärer Hilfsleistungen sowie größerer Unterstützung für die Nachbarländer einhergehen. Nachdem die Staaten in der Region unter großen Anstrengungen für eine Aufnahme von Flüchtlingen gesorgt haben, sollte nun auch Europa eine größere Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen zeigen.

 

Autoren:

Dr. Robert Schütte ist Vorsitzender von Genocide Alert

Christoph Schlimpert ist stellvertretender Vorsitzender von Genocide Alert

Kontakt: info@genocide-alert.de

Genocide Alert e.V., August 2013

 

 



[i] Der Untersuchungsbericht des UN Menschenrechtsrates hatte hierzu folgendes festgestellt:

“NATO aircraft flew a total of 17,939 armed sorties in Libya, employing precision guided munitions exclusively. NATO told the Commission that it had a standard of “zero expectation” of death or injury to civilians, and that no targets were struck if there was any reason to believe civilians would be injured or killed by a strike. (…)Despite precautions taken by NATO as described above, the Commission notes incidents of civilian deaths and damage to civilian infrastructure. Amongst the 20 NATO airstrikes investigated, the Commission documented five airstrikes where a total of 60 civilians were killed and 55 injured.” (http://www.ohchr.org/../A_HRC_19_68_en.doc; para. 84, 87)

 

Keine Tabus

Der Bürgerkrieg in Syrien wird nur dann diplomatisch zu lösen sein, wenn ein militärisches Eingreifen nicht länger tabuisiert wird

von Robert Schütte

Der Westen sollte vor dieser unangenehmen Wahrheit nicht die Augen verschließen.

Die Syrien-Krise hat sich zu einem brutalen Bürgerkrieg ausgeweitet, der täglich Hunderte Zivilisten das Leben kostet und den gesamten Nahen Osten in einen Konflikt zu stürzen droht. Zwei miteinander verbundene Tragödien spielen sich ab: Die erste ist die Politik des Assad-Regimes, die ihre eigene Bevölkerung zusammenschießen und massakrieren lässt. Ohne die geringste Rücksicht auf menschen- und völkerrechtliche Verpflichtungen schürt Damaskus einen ethno-religiösen Flächenbrand, der inzwischen auch auf die Nachbarstaaten übergreift. Die zweite Tragödie ist die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Im Gegensatz zu Libyen ist der UN-Sicherheitsrat seiner Schutzverantwortung (engl. „Responsibility to Protect“) zum Schutz der syrischen Bevölkerung bisher nicht gerecht geworden.

Die Tabuisierung einer militärischen Intervention ist ein Fehler

Das Versagen der internationalen Gemeinschaft ist hauptsächlich die Schuld Russlands und Chinas, die im Sicherheitsrat wiederholt ihr Veto gegen eine schärfere Gangart gegenüber Damaskus eingelegt haben. Alle Versuche zur Verhängung von Sanktionen gegen Assads Regierung sind an Moskau und Peking gescheitert. Der Westen wird nicht müde, auf diese skandalöse Politik hinzuweisen; und doch bleibt dieser Fingerzeig wohlfeil, solange er bloß von der eigenen Planlosigkeit ablenkt. Eine Strategie zum Schutz der syrischen Zivilbevölkerung haben nämlich weder Washington noch Paris, weder London noch Berlin zu bieten. Eine diplomatische Lösung des Konflikts müsse gefunden werden, so die Losung. Gleichzeitig beschwören die Außenpolitiker dies- und jenseits des Atlantiks, dass ein militärisches Eingreifen vollkommen undenkbar sei. Dies war und ist ein Fehler.

Die Tabuisierung einer militärischen Intervention hat die diplomatischen Bemühungen zur Lösung der Krise untergraben, indem Assad signalisiert wurde, dass seine Verbrechen an der eigenen Bevölkerung keine Konsequenzen haben werden. Der Westen hat sich auf diese Weise eines wichtigen Druckmittels beraubt. Damaskus wurde es so unnötig leicht gemacht, die Vermittlungsbemühungen der Vereinten Nationen zu ignorieren. Ohne ein glaubhaftes Eskalationsszenario waren die Friedensinitiativen der internationalen Gemeinschaft ein hoffnungsloses Unterfangen. Der Bürgerkrieg in Syrien ist inzwischen weiter denn je von einer Lösung entfernt und hat sich sogar massiv radikalisiert. Die bisherige Politik des Westens ist gescheitert. Es bedarf eines neuen Ansatzes.

Alle Optionen müssen auf den Tisch

Das Ziel eines erneuten Anlaufs zur Lösung des Syrien-Konflikts muss eine diplomatische Lösung sein, die das Morden möglichst schnell beendet und in eine Regierung der nationalen Einheit ohne Assad mündet. Die Fehler die Vergangenheit sollten hierbei tunlichst vermieden und die Rolle regionaler Akteure anerkannt werden. Dementsprechend wird man nicht umhin können, den bereits aufseiten von Damaskus involvierten Iran mit im Boot zu berücksichtigen.

Ein Zerfall Syriens in ethno-religiöse Parzellen birgt das Risiko großangelegter ethnischer Säuberungen und weiterer Massaker. Zudem könnte eine neue Sezessionsdynamik in den überwiegend kurdisch bewohnten Gebieten auslösen und einen Krieg mit der Türkei vom Zaun brechen. Allen Volksgruppen muss deswegen garantiert werden, dass sie in einem neuen Syrien ihren Platz haben werden. Insbesondere der bislang herrschenden alawitischen Minderheit sollte klargemacht werden, dass es für sie auch in einem Syrien ohne Assad eine Zukunft gibt. In dieser Frage ist vor allem die syrische Opposition gefragt, eine glaubwürdige Vertretung und Einbeziehung der Alawiten zu schaffen. Eine von den Vereinten Nationen mit Expertise und Blauhelmen unterstützte Regierung nationaler Einheit bietet die beste Grundlage, alle Parteien in einen friedlichen politischen Prozess zu integrieren.

Die am wenigsten schlechte Alternative

Damit eine neue diplomatische Initiative Erfolg haben kann, sollte von vornherein auch ein militärisches Eskalationsszenario aufgebaut werden. Syrien, Russland, China und Iran müssen verstehen, dass eine friedliche Lösung die beste und letzte Chance ist, den Syrien-Konflikt unter Wahrung der eigenen Interessen zu beenden. Das Regime und seine Unterstützer müssen überzeugt werden, dass ein Scheitern der Diplomatie ernste Konsequenzen haben wird. Nur dann werden sie den notwendigen Willen für einen Kompromiss finden. Ein Deal könnte sogar freies Geleit für Assad miteinschließen, nicht jedoch eine international garantierte Amnestie. Wenn eine friedliche Lösung möglich ist, dann wäre dies trotz aller Schwachstellen die beste Option für Syrien.

Sollte es letztlich keine Chance für eine friedliche Lösung geben, sollte über ein schnelles und entschiedenes Eingreifen nachgedacht werden. Der Westen sollte nicht den gleichen Fehler wie in Bosnien begehen, erst jahrelang zu zaudern, um Tausende tote Zivilisten später doch zu intervenieren. Klar ist: Eine humanitäre Intervention wäre keine gute Option; von allen verfügbaren Alternativen wäre sie jedoch auch die am wenigsten schlechte Lösung.

Wenn alle diplomatischen Bemühungen fehlschlagen, wäre ein Eingreifen das kleinere Übel als eine jahrelange Fortsetzung der Massaker. Militärische Optionen weiterhin zu tabuisieren, ist deswegen nicht nur unklug, sondern auch unverantwortlich.

 

Dieser Artikel von Robert Schütte erschien online am 17.11.2012 im The European.
Robert Schütte auf Twitter folgen unter @robert_schuette

So viel wie nötig, so wenig wie möglich? – Das Spannungsfeld zwischen Schutzverantwortung und Regimewechsel

von Lena Kiesewetter, 15. März 2012

Irgendwann während des Libyen-Einsatzes der NATO wurden die Begründungen für den Einsatz unklar, verschwamm die Grenze zwischen einem Einsatz, der die Menschen in Benghazi vor einem Massaker retten sollte und einem solchen, der Gaddafi vom Thron stoßen sollte. Kritik wurde laut, dass es hier mehr um einen Regimewechsel ging als um einen Einsatz im Rahmen der Schutzverantwortung. Aber wo ist die Grenze zwischen dem einen und dem anderen, wenn die Machthaber nicht nur beim Schutz der Bevölkerung versagen, sondern sie sogar selbst angreifen? Kann ein Regimewechsel im Rahmen der Schutzverantwortung überhaupt kategorisch ausgeschlossen werden? Weiterlesen