Waffen für die Kurden: Der Preis des Nicht-Handelns

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Die Bundesregierung hat erfolgreich der Versuchung widerstanden, in der Irak-Krise einer skeptischen Bevölkerungsmehrheit nach dem Munde zu reden. In einer überraschend sachlichen Bundestagsdebatte zu dieser Frage hat auch die Opposition weitestgehend darauf verzichtet, mit populistischem Pazifismus zu punkten. Das verdient Respekt. Denn laut aktuellem Politbarometer sind zwei von drei Deutschen gegen Waffenlieferungen an die Kurden. Der Kluft zwischen Regierung und Regierten zum Trotz hält Schwarz-Rot also Kurs, denn die Regierung weiß: Die Terror-Milizen des Islamischen Staats (IS) jetzt nicht zu stoppen, würde höchstwahrscheinlich zu Massakern an der Zivilbevölkerung, dem Zerfall des Iraks und der Schaffung eines Terrorstaats vor den Toren Europas in Kauf führen.

Zwar bergen Waffenlieferungen das Risiko, einer künftigen kurdischen Staatsgründung Vorschub zu leisten. Doch die Kritiker übersehen dabei: Nicht die Kurden, sondern IS ist die größte Gefahr für die staatliche Integrität des Iraks. Mit dem Beschluss von Waffenlieferungen zieht die Bundesregierung das kleinere dem größeren Übel vor. Diese bemerkenswerte moralische und politische Ermessensfrage hätte es eigentlich verdient, zum Ausgangspunkt einer öffentlichen Debatte zu werden. Denn was genau bedeutet internationale Verantwortung in der angewandten politischen Praxis, und nicht nur bei Sonntagsreden? Und wie gehen wir mit den Dilemmata um, vor die uns die Weltpolitik stellt? Bislang ist jedoch von einer fruchtbaren Debatte wenig zu sehen. Woran liegt das?

Schiefe Debatte

Ob man es nun Ausnahme oder Tabubruch nennt: Waffenlieferungen in ein Krisengebiet sind ein außenpolitischer Stilbruch. Während der Ukraine-Krise mit diplomatischen Mitteln begegnet werden kann, wird Deutschland mit dem Beschluss von Waffenlieferungen auf die Bühne der Realpolitik katapultiert. Das ist keine einfache Situation für ein Land, in dem die moralische Kommentierung von Konflikten gepflegt und das Heraushalten aus der Weltpolitik als politische Finesse betrachtet wurde. Vielleicht hat sich auch aus diesem Grund bisher keine wirklich ergiebige Debatte zur Krise im Nord-Irak entwickelt.

Da wird seitens der Kritiker über grundsätzliche Risiken von Waffenlieferungen debattiert, die Rolle der USA hinterfragt und die Theorie des gerechten Krieges bemüht. Der entscheidenden Frage aber weichen die Augsteins und Käßmanns der Nation bisher aus: Wie können wir eine Machtübernahme im Nord-Irak durch den IS verhindern? Kein Kritiker hat hierauf bisher eine befriedigende Antwort gegeben. Das mag aus polit-kommunikativer Sicht klug sein und einem moralisch schwierige Gewissensentscheidungen ersparen. Die Bundesregierung aber für ihre Antwort auf eine offensichtlich schwierige Frage zu kritisieren, während man selbst keine Antwort geben kann, ist scheinheilig. Machen wir uns also ehrlich. Betrachten wir die Konsequenzen eines Eingreifens oder Nicht-Handelns und entscheiden dann, was das kleinere Übel ist.

Die Folgen des Nicht-Handelns

Was also würde passieren, wenn die Kurden nicht mit Waffen ausgerüstet würden? Kaum jemand bezweifelt, dass IS den Nord-Irak ohne internationale Unterstützung für die Kurden überrennen wird. In diesem Fall stünde als Nächstes die Stadt Arbil vor dem Fall, in die sich zehntausende Jesiden, Christen und Kurden vor den Gräueltaten der Islamisten geflüchtet haben. Arbil ist in den vergangenen Monaten zum Symbol des kurdischen Widerstands geworden, weswegen IS ein Exempel vor den Augen der Welt statuieren könnte. Nach allen bisherigen Erfahrungen wäre mit einer Orgie von Vertreibungen und Massakern zu rechnen. Gefilmt und nur einen Tag später auf YouTube und Co.

Mit einem Sieg würde sich IS auf absehbare Zeit im Nord-Irak festsetzen, was den Zerfall des Landes dramatisch beschleunigen dürfte. Kein unabhängiges Kurdistan, sondern der Islamische Staat würde der territorialen Integrität des Iraks den Todesstoß versetzen. Die Auswirkungen sind überhaupt nicht abzuschätzen. In jedem Fall aber gäbe es nun ein Terrorausbildungszentrum von der Größe Großbritanniens vor den Toren Europas, von dem Osama bin Laden nicht in seinen kühnsten Fantasien zu träumen gewagt hätte. Bereits heute sollen mehr als 1 000 westliche Jihadisten für IS kämpfen. Alle mit deutschen, französischen und auch amerikanischen Pässen. Ein Alptraum für jeden Sicherheitsbeamten, Bahnfahrer und Weihnachtsmarktbesucher.

Gangbare Alternativen?

Trotz allem sollte niemand so tun, als ob Waffenlieferungen ohne Risiken wären. Selbst die größten Verfechter einer Bewaffnung der Kurden weisen hierauf klar und deutlich hin. Die Frage ist aber vielmehr: Gibt es realisierbare Alternativen? Eine Möglichkeit wäre ein militärisches Eingreifen einer internationalen Koalition der Vereinten Nationen. Vorteil: Keine Waffen für die Kurden. Nachteil: Für eine solche Intervention will niemand die notwendigen Truppen stellen. Der Rückzug des US-Militärs aus dem Irak war einer der größten Erfolge Obamas, der wenig Neigung verspüren dürfte, nun selbst amerikanische Truppen in den Nord-Irak zu senden. Ohne die USA aber werden weder Frankreich noch Großbritannien – geschweige denn Deutschland – eine Intervention mit Bodentruppen in Betracht ziehen. Bliebe einzig die Türkei, aber: Als regionaler Player mit eigenen machtpolitischen Interessen und einem schwierigen Verhältnis zu den Kurden ist Ankara ungeeignet. Ob man also will oder nicht: Die Option einer UN-Intervention scheidet leider aus.

Natürlich könnte sich Deutschland allein auf die Lieferung humanitärer Hilfe beschränken, wie dies von Einigen vorgeschlagen wird. Die Bewaffnung der Kurden würde dann unseren Partnern überlassen. In anderen Worten: Französische Waffenlieferungen finden wir gut, deutsche Waffenlieferungen finden wir schlecht. Das aber wäre eine moralische Absurdität, der es einzig um unser eigenes Seelenheil anstatt um die Menschen im Nord-Irak geht. Wer gegen Waffenlieferungen ist, muss konsequent gegen jegliche Waffenlieferungen sein. Das Problem ist: Einem Sieg des IS stünde dann nichts mehr im Weg. Und der Preis des Wegsehens wäre beträchtlich: Massenverbrechen an der Zivilbevölkerung, der Zerfall des Iraks und die Entstehung eines Terrorstaats an der Türschwelle Europas.

Wer bereit ist, diesen Preis zu zahlen, der sollte das ehrlich sagen. Darüber ließe sich streiten. Das würde unsere außenpolitische Debatte voranbringen. Denn moralisch angreifbar machen wir uns nicht nur mit, sondern auch ohne Waffenlieferungen.
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Dieser Beitrag wurde von der Zeitschrift Internationale Politik und Gesellschaft veröffentlicht. Link: http://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/heraushalten-ist-keine-politische-finesse-565/