Wie weiter in Syrien, Frau Böhm?

Förderung lokaler Waffenstillstandsabkommen und Dialogforen, Bereitstellung grenzüberschreitender humanitärer Hilfe, zur Not gegen den Willen der Regierungen in Damaskus und Moskau, Stabilisierungsmaßnahmen für die Nachbarländer und Aufnahme von Flüchtlingen durch westliche Länder – Andrea Böhm, die Büroleiterin Naher und Mittlerer Osten der Wochenzeitung DIE ZEIT, schildert im Interview gegenüber Genocide Alert Handlungsmöglichkeiten angesichts der humanitären Katastrophe in Syrien.

Genocide Alert: Frau Böhm, wie konnten die friedlichen Proteste in Syrien zu einem solch grausamen Bürgerkrieg eskalieren?

Andrea Böhm: Die Hauptverantwortung an der Eskalation trägt das Regime von Baschar al-Assad, das von Beginn an mit Gewalt auf die Proteste reagiert hat. Mitverantwortlich sind Russland und Iran, die wichtigsten Unterstützer und Waffenlieferanten Assads. Und einen Teil der Schuld tragen natürlich auch Rebellengruppen und deren Unterstützer – von den USA über Saudi-Arabien bis zur Türkei.

Die Spirale der Eskalation war von dem Punkt an nicht mehr aufzuhalten, an dem Finanziers und Unterstützer der Kampfparteien Syrien zum Schauplatz eines Stellvertreterkrieges gemacht haben. In Syrien wurde ja nicht, wie viele glaube, zu wenig interveniert, sondern zu viel. Regionale Machtinteressen zwischen Saudi-Arabien, Katar, der Türkei und Iran sowie ein neuer Ost-West-Konflikt zwischen Russland, den USA und Europa haben die Konfliktursachen und die Anliegen der Protestbewegung völlig in den Hintergrund gedrängt – und die Eskalation durch meist unkoordinierte Waffenlieferungen vorangetrieben.

Andrea Böhm

Andrea Böhm, Büroleiterin Naher und Mittlerer Osten der Wochenzeitung DIE ZEIT

Genocide Alert: Welche Handlungsmöglichkeiten wurden Ihrer Meinung nach bislang zu wenig in Betracht gezogen?

Andrea Böhm: Große „Friedenskonferenzen“ – ob sie nun Genf 1, Genf 2 oder Genf 3 – heißen, sind bis auf weiteres aussichtslos. Erfolgversprechender scheint es, lokale Waffenstillstandsabkommen zu fördern, und Vertretern verschiedener politischer und gesellschaftlicher Gruppen kleine Dialogforen anzubieten. Vermittler wie die des Genfer Centre for Humanitarian Dialogue können momentan vielleicht mehr ausrichten als Sondergesandte der UN.

Außerdem wurde sträflich versäumt, Gebiete, die nicht mehr unter Kontrolle des Regimes stehen, mit Geldmitteln, kleinen Infrastrukturprojekten, Wasser- und Stromversorgung zu stabilisieren.

Genocide Alert: Was sind die drei dringendsten Maßnahmen, die die internationale Gemeinschaft unmittelbar zum Schutz von Zivilisten in Syrien ergreifen kann?

Andrea Böhm: Allen Vorsätzen und Versprechen zum Trotz haben internationale Staatengemeinschaft und der UN-Sicherheitsrat nicht einmal Wege gefunden (oder finden wollen), die humanitäre Katastrophe innerhalb Syriens einzudämmen. Der UN-Sicherheitsrat ist bis auf Weiteres blockiert, also muss jetzt notfalls gegen den Willen Russlands und gegen den erklärten Willen des Regimes Hilfe in Gebiete gebracht werden, die unter Kontrolle des Regimes stehen. Das geschieht bereits in Ansätzen, muss aber massiv ausgeweitet werden – auch wenn es aufgrund der volatilen Situation ein extrem schwieriges Unterfangen ist.

Zweitens müssen Stabilisierungsmaßnahmen für die Nachbarländer und ihre Flüchtlingsbevölkerung aufgelegt und/oder vorangetrieben werden – allen voran für den Libanon und Jordanien. Drittens müssen westliche Länder, allen voran die europäischen, mehr Flüchtlinge aufnehmen und gerechter verteilen. Soll heißen: die Dublin-Regelungen müssen außer Kraft gesetzt und durch einen Verteiler-Schlüssel ersetzt werden.

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