Zum 200. Geburtstag: Wie Bismarck die deutsche Außenpolitik des 21. Jahrhunderts sehen würde

Otto von Bismarck hätte den russischen Präsidenten Putin verstanden. Im Gegensatz zu Bundeskanzlerin Merkel wäre Bismarck dem Kreml in der Ukraine-Frage wohl weit weniger ablehnend begegnet als dies die heutige Bundesregierung tut. Das ist wenig verwunderlich, wird Moskau doch regelmäßig ein Politikverständnis des 19. Jahrhunderts attestiert.

Wer könnte Russland schon vorwerfen, dass es seine Einflusssphäre im Osten konsolidiert und mit der Krim ein strategisch wichtiges Territorium annektiert hat, würde Bismarck fragen. Hat sich das Deutsche Reich nicht auch Elsass und Lothringen einverleibt, als die Lage es erlaubte? Und wenn dabei allgemein akzeptierte Organisationsprinzipien gebrochen werden, dann hätte der ehemalige Reichskanzler daran wohl keinen Anstoß genommen. Denn was den einen als Opportunismus gilt, ist für die anderen schlicht „Realpolitik“. Hiernach ist alles gerechtfertigt, was dem nationalen Interesse dient. Und Otto von Bismarck war ein Realpolitiker ersten Ranges. Gleichwohl gilt: Wir leben heute in einer Weltordnung, die nur noch wenig gemein hat mit dem Staatensystem des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Würde Bismarck mit einer Zeitmaschine ins Jahr 2015 versetzt, so käme ihm die heutige Weltordnung wie von einem anderen Stern vor. Dass aus deutsch-französischen „Erbfeinden“ der Motor eines geeinten Europas geworden ist, würde er mit ungläubigem Kopfschütteln quittieren. Dass eine Europäische Union überhaupt möglich ist, an deren Spitze die Völker Europas einen Luxemburger gewählt haben, müsste er ungläubig zur Kenntnis nehmen. Und die von den USA dominierte NATO, deren Sinn jahrzehntelang zusammengefasst wurde mit dem Satz „to keep the Americans in, the Sovjets out and the Germans down“, wäre ihm sicher hoch suspekt.

Am meisten aber würde er sich wohl über die ihm vollkommen unbekannte Funktionslogik internationaler Politik im 21. Jahrhundert wundern. Denn als Bismarck selbst an der Regierung war, sah die Welt grundlegend anders aus. Das gilt nicht nur für die materielle Konzentration aller wirtschaftlichen und militärischen Macht in Europa. Das gilt vor allem auch für das normative Verständnis, was in der Politik erlaubt und nicht erlaubt ist.

Vom „Ius ad Bellum“ zum „Ius contra Bellum“

Die Frage von Krieg und Frieden veranschaulicht dies am klarsten. Seit dem Ende des II. Weltkriegs ist jegliche militärische Aggression geächtet und wird inzwischen sogar vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag völkerstrafrechtlich geahndet. Das Gewaltverbot ist eines der zentralen Säulen des heutigen Staatensystems und in Artikel 2.4 der Charter der Vereinten Nationen wie folgt beschrieben: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Die einzige Ausnahme vom Gewaltverbot ist die einzelstaatliche oder kollektive Selbstverteidigung gegen einen Aggressor sowie eine durch den UN-Sicherheitsrat angeordnete Militäraktion. Alles andere ist völkerrechtlich verboten. Man kann also von einem ius contra bellum sprechen, dessen Ziel es ist, den Krieg als Mittel der Politik abzuschaffen.

Was uns heute als selbstverständlich erscheint, hätten die Regierungen des späten 19. Jahrhunderts als inakzeptable Einschränkung ihrer souveränen Herrschaft gesehen. Denn das Recht zur Kriegsführung, das ius ad bellum, war einer der Grundpfeiler der damaligen Verhältnisse. Und kein König oder Kaiser musste sich dafür rechtfertigen, wenn er seine Truppen gegen einen anderen Staat ins Feld führte. Damals bedeutete Souveränität, dass man niemandem darüber Rechenschaft ablegen musste, was man im Inneren tat und mit wem man im Äußeren Krieg führte.

Intervention und Menschenrechte

Nach den Katastrophen des I. und II. Weltkriegs hat sich dieses Souveränitätsverständnis in sein Gegenteil verkehrt. Vielleicht würde Bismarck seinen Frieden mit dem Gewaltverbot der UN-Charter schließen, wenn er die neuere Geschichte Europas kennen würde. Gleichwohl ist anzunehmen, dass er dennoch an vielen modernen Entwicklungen Anstoß genommen hätte. Das gilt vor allem für die Frage äußerer Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten, die seit dem Fall der Mauer zunehmend zur Regel geworden ist.

Die deutsche Beteiligung an der Kosovo-Intervention hätte er sicherlich abgelehnt. Schon zu Lebzeiten mokierte sich Bismarck über die aus seiner Sicht pathologische Anteilnahme der Deutschen am Schicksal fremder Völker: „Die Neigung, sich für fremde Nationalitäten und Nationalbestrebungen zu begeistern, auch dann, wenn dieselben nur auf Kosten des eignen Vaterlandes verwirklicht werden können, ist eine politische Krankheitsform, deren geographische Verbreitung leider auf Deutschland beschränkt ist.“

Anstatt sich in die inneren Konflikte anderer Staaten einzumischen, sollte Berlin lieber das eigene Interesse im Auge behalten. Denn worin liege bitte das nationale Interesse Deutschlands am Schutz der Kosovaren? Es passt deswegen nach wie vor gut, wenn Bismarck mit dem Spruch zitiert wird, dass der Balkan „nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert“ sei und die deutsche Regierung „nicht eines Richteramtes zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben“ habe.

Aus Fairness muss man aber auch zugestehen: Bismarck konnte keine Ahnung haben von Auschwitz, Kambodscha, Ruanda und Srebrenica. Er konnte nicht um die Millionen ermordeten Zivilisten wissen, die im 20. Jahrhundert zu wehrlosen Opfern ihrer eigenen Regierungen wurden. Im 19. Jahrhundert war Kriegsführung in Europa ein Geschäft staatlicher Armeen, aus dem Nicht-Kombattanten herauszuhalten waren (Kolonial- und Bürgerkriege waren eine andere Angelegenheit). Doch den zwischenstaatlichen Krieg gibt es heutzutage kaum noch: Im Jahr 2013 waren insgesamt 24 innerstaatliche Konflikte, aber kein einziger zwischenstaatlicher Krieg zu verzeichnen.

Die mit der Entstaatlichung bewaffneter Konflikte einhergehenden Gräuel haben den Schutz der Menschenrechte in den letzten Jahrzehnten zu einem immer wichtigeren Thema gemacht. Deswegen wird staatliche Souveränität heute nicht mehr nur durch das internationale Gewaltverbot beschränkt, sondern auch mit dem Schutz der betroffenen Bevölkerung verknüpft. Um schwerste Menschenrechtsverletzungen künftig zu verhindern, einigten sich im Jahr 2005 alle UN-Mitgliedsstaaten deswegen auf die Einführung der sogenannten „Responsibility to Protect“. Diese legt fest, dass, wenn ein Staat zum Schutz seiner Bevölkerung vor Massenverbrechen nicht willens oder fähig ist, der internationalen Gemeinschaft eine Schutzverantwortung für die bedrohten Menschen obliegt und diese wenn notwendig auch militärisch durchgesetzt werden darf.

Die Wahl zwischen kleinen und grossen Übeln

Der Tradition Bismarcks folgend wird von vielen Realpolitikern auch heute eingewandt, dass die Interventionen der vergangenen Jahre in Afghanistan, im Irak und in Libyen allesamt katastrophale Folgen hatten und der Westen klug beraten sei, dem Prinzip der Nichteinmischung stärkere Geltung zu verschaffen. Am Ende ist internationale Politik jedoch meist die Wahl zwischen unterschiedlich großen Übeln. Denn auch wenn die Folgen einer Intervention schlimm sind, so sind dies die Folgen einer Nichteinmischung meist ebenso.

Ein Beispiel: Heute herrscht in Libyen Chaos, auch weil nach der Intervention der NATO keine entsprechende Nachsorge betrieben wurde. Andererseits ist aber auch richtig, dass ohne Libyen-Intervention heute einstimmig die Klage geführt würde, warum die internationale Gemeinschaft nach ihrem Versagen in Srebrenica schon wieder einem absehbaren und angekündigten Massenmord an tausenden Zivilisten tatenlos zugesehen hat.

Niemand sollte dem Irrglauben erliegen, dass Nichteinmischung logischerweise zu besseren Resultaten führt als rechtzeitiges Intervenieren. Denken wir an Syrien: Ein entschlossenes Eingreifen hätte dort nicht nur Gräueltaten an hunderttausenden Menschen verhindert, sondern wahrscheinlich auch die Entstehung des sogenannten „Islamischen Staats“ im Keim erstickt. Ob der inzwischen zutiefst destabilisierte Nahe Osten nun mit oder ohne Eingreifen besser dran wäre, lässt sich nicht klären. Man muss aber schon ein großer Pessimist sein, um in der heutigen Situation in Syrien und im Irak die „bessere Alternative“ zu vermuten.

Welche Lehre lässt sich also ziehen? Wahrscheinlich am ehesten, dass grundsätzliche Nichteinmischung ebenso wenig eine Lösung für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist wie permanente Intervention. Es kommt vielmehr auf die Würdigung des Einzelfalls an. Dieser Aussage hätte am Ende wohl auch der Realpolitiker Bismarck zugestimmt. 

Autor: Dr. Robert Schütte, Vorsitzender von Genocide Alert

Dieser Artikel erschien zuerst im Rotary Magazin 3/2015