Verlag von Moritz Ruhl, German publishing company ca. 1855–1942. Uncredited illustrator. No known copyright retrictions. Public domain., CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons

Verlag von Moritz Ruhl, German publishing company ca. 1855–1942. Uncredited illustrator, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Naive Täter, stumme Opfer: “Der vermessene Mensch” in der Kritik 

von Paul Stewens

Mit “Der vermessene Mensch” startete am 23. März 2023 erstmalig ein Film in den deutschen Kinos, der deutsche Kolonialverbrechen thematisiert. Themen, die schon seit langem die Debatten um namibische Reparationsforderungen oder die Rückgabe von Schädel aus ethnologischen Sammlungen bestimmen, werden nun filmisch aufgearbeitet. Dass der Film Aufmerksamkeit auf diese Themen lenkt, ist sein größtes Verdienst – in vielen anderen Hinsichten funktioniert er wenig. 

Der Protagonist, Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher), ist Doktorand der Ethnologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin und trifft 1896 im Rahmen einer Völkerschau Kezia Kambazembi (Girley Charlene Kazama). Sie ist Dolmetscherin einer Gruppe von Herero und Nama, zwei Volksgruppen aus dem heutigen Namibia, die mit diplomatischen Motiven nach Deutschland gereist ist. Seine Begegnung mit ihr lässt ihn an der verbreiteten Ansicht zweifeln, dass es sich bei diesen Gruppen um den Weißen unterlegene “Rassen” handele. Als er das jedoch zum Gegenstand seiner Probevorlesung macht, wird er zum Gespött seiner Kollegen.  

1904 droht Krieg in der Kolonie, und Hoffmanns Professor (Peter Simonischek) stellt eine Expedition zusammen, die die deutschen Kolonialtruppen begleiten und ethnologisch wichtige Artefakte sicherstellen soll. Hoffmanns Teilnahme ist jedoch mindestens gleichermaßen von der Aussicht motiviert, Kezia zu finden. In Deutsch-Südwestafrika angekommen findet sich Hoffmann inmitten einer genozidalen Kampagne der deutschen Kolonialtruppen wieder: Herero und Nama sollen ausgelöscht werden. Dabei lässt er sich immer weiter korrumpieren. Zunächst plündert er Kulturgüter der Herero und Nama, später geht er auf Anweisung seines Professors jedoch sogar dazu über, Schädel getöteter Herero und Nama für wissenschaftliche Zwecke nach Berlin zu senden. Erst, als er während der Schändung eines jahrhundertealten Grabes einen Herero erschießt, nimmt sein Plündern ein Ende. Hoffmann findet Kezia schließlich in einem deutschen Konzentrationslager auf der Haifischinsel. Er ist entsetzt: Sie ist dort in der Anlage tätig, in der Schädel getöteter Herero und Nama für den Versand nach Deutschland vorbereitet werden. Ein Zeitsprung ins Jahr 1920 zeigt Hoffmann dann vor einem Hörsaal voller Studenten, die er in die Rassentheorie einführt. 

Regisseur Lars Kraume erzählt “Der vermessene Mensch” aus der Täterperspektive. Wir folgen Alexander Hoffmann durch die Berliner Universität wie durch die Omaheke-Wüste in Namibia. “Eine andere als die deutsche Täterperspektive kam nicht in Frage, um den Opfern nicht die eigene Geschichte zu nehmen”, lässt uns der Flyer zum Film wissen. Diesen Ansatz für einen Film zu wählen, der in Deutschland eine Debatte über Kolonialverbrechen anstoßen soll, erscheint grundsätzlich auch legitim: Ein deutsches Publikum wird gewissermaßen gezwungen, den ersten deutschen Völkermord des 20. Jahrhunderts durch die Augen der Täter zu sehen. Die Uneindeutigkeit vieler deutscher Charaktere unterläuft dieses Vorhaben jedoch massiv. Insbesondere Hoffmann scheint mal von wissenschaftlichem Ehrgeiz, mal von Humanismus, mal von einem romantischen Interesse an Kezia getrieben – je nach dem, was den Film gerade voranbringt. Das schafft keineswegs einen vielschichtigen, komplexen Charakter. Vielmehr entsteht der Eindruck einer Beliebigkeit in Hoffmanns Antrieb, der eine Identifikation mit ihm eher erschwert als fördert. Möglich macht diese bunte Motivrochade, dass Kraume das Stilmittel der Naivität bei Hoffmann äußerst großzügig einsetzt. Dass dieser etwa nach zwei Jahren in Deutsch-Südwestafrika aufs Neue völlig entgeistert ist, als deutsche Truppen Herero und Nama aus einem von einem Missionar geführten Zufluchtsort verschleppen, schadet der Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit dieser Figur erheblich. Ob man Hoffmann sympathisch finden soll, bleibt über weite Strecken des Films unklar. Kunst- und Filmhistorikerin Vivien Buchhorn kritisiert völlig zurecht, dass sich zu dieser flachen Charakterzeichnung “platte Bildlichkeit und ein lineares Abhandeln von Taten” gesellen, die eine starke Vereinfachung historischer Komplexität mit sich bringen.  

Die Einbeziehung von Täterperspektiven in Geschichten wie der, die Kraume erzählt, ist generell kontrovers. So ließe sich etwa anzweifeln, ob eine Geschichte wie die des deutschen Völkermordes in Namibia von denjenigen erzählt werden sollte, die nur die Täterperspektive einnehmen können. Der (mutmaßliche) Versuch, dadurch eine Identifizierung des Filmpublikums mit den Tätern herzustellen, gelingt jedenfalls nicht wirklich. Eindrucksvoller sind in dieser Hinsicht diejenigen Szenen, in denen die Kameraperspektive die einer unbeteiligten Dritten ist, die Zeugin der Vermessung der Herero und Nama oder eines Feuergefechts in der Wüste wird. Hier stellt sich bisweilen ein voyeuristisches Unwohlsein beim Zuschauenden ein, das der Film durch eine Identifizierung mit den Tätern bei Weitem nicht erreicht.  

Würde Kraumes Plan der Täterperspektive seine Wirkung entfalten, ließe sich über andere Schwachpunkte des Films als Mittel zu diesem Zweck leichter hinwegsehen. So aber spricht Vieles für die Kritik der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), dass die Opfer des Völkermordes ausschließlich passiv dargestellt werden. Der historisch gut dokumentierte Widerstand gegen die deutschen Kolonialtruppen wird nicht erwähnt. In den Worten von Daniel Kothenschulte: “Es ist paradox: Um als deutsche Filmemacher keine Opferperspektive einzunehmen, degradierte man die Opfer zu Statistenfiguren oder repräsentiert sie durch einige willkürlich ausgewählte Kunstgegenstände.” Auch die von der ISD kritisierte explizite Darstellung von Gewalt gegen Schwarze Menschen, etwa bei der Vermessung der Schädel und im Konzentrationslager, läuft so in der Tat Gefahr, eher abzustumpfen als zu sensibilisieren. 

Historisch ist der Film solide recherchiert und gibt einen plastischen Einblick in das rassistische Denken, dass die physische Anthropologie und Ethnologie um 1900 kennzeichnet; der “Vernichtungsbefehl” von Lothar von Trotha, dem Kommandeur der Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika, wird im überlieferten Original verlesen. Ebenso lobenswert ist, dass in Namibia selbst hauptsächlich mit einer lokalen Crew gedreht wurde. Auch das Thema prekärer wissenschaftlicher Arbeit findet gewissermaßen als Fußnote Raum in einem Film, dessen größtes Verdienst sicherlich darin besteht, das Thema deutscher Kolonialverbrechen sichtbarer zu machen. “Der vermessene Mensch” ist bei Weitem kein makelloses Werk. Zugleich wird es einige Menschen geben, die dadurch zum ersten Mal davon erfahren, dass es vor Dachau, Buchenwald und Auschwitz bereits deutsche Konzentrationslager gegeben hat – und das allein bereichert die öffentliche Debatte.