„20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda“
Projektseite zum Genocide Alert Ruandaprojekt
„20 Jahre danach – Was sind die Lehren aus dem Völkermord in Ruanda?„
20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda: Konsequenzen für Souveränität und Gewaltverbot
Podiumsdiskussion am 19.06.2014 in Dresden
Seit dem Völkermord in Ruanda 1994 haben sich alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen dazu bekannt, dass ihnen eine Verantwortung zum Schutz von Bevölkerungen in aller Welt vor den allerschwersten Menschenrechtsverbrechen zukommt. Die Idee der „Schutzverantwortung“ oder „Responsibility to Protect“ ist eine politische Lehre aus dem Versagen der Weltgemeinschaft in Ruanda. Doch auch 20 Jahre nach dem Völkermord ist die Idee sowohl in der Theorie als auch ihrer Umsetzung umstritten. In Deutschland wird das Konzept insbesondere seit der deutschen Enthaltung im Sicherheitsrat bei der Intervention in Libyen diskutiert. Nach Ruanda, Kosovo, Darfur, Libyen und Syrien: Wie ist der Stand der Debatte um humanitäre Intervention und Schutzverantwortung in Deutschland heute? Diese Frage diskutierten Prof. Dr. Ulrich Fastenrath, Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Technischen Universität Dresden, Dr. Lars Brozus, Wissenschaftler der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), und Sarah Brockmeier, stellvertretende Vorsitzende von Genocide Alert und wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Global Public Policy Institute (GPPi). Die Diskussion, die Genocide Alert zusammen mit dem Zentrum für Internationale Studien an der TU Dresden und dem Landesverband Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen organisierte, wurde von der Journalistin Julia Weigelt moderiert.
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Auszug aus dem Ergebnisbericht
„Man würde das Konzept der Schutzverantwortung unterminieren, wenn man es nur dann anwenden würde, wenn eigene Interessen auf dem Spiel stehen.“
– Prof. Dr. Ulrich Fastenrath, TU Dresden
Was ist beinhaltet das Konzept der Schutzverantwortung?
Anschließend an einen Videoausschnitt der Rede von Bundespräsident Joachim Gauck im Januar 2014, diskutierten die Podiumsteilnehmer zunächst die Ursprünge und den Inhalt des Konzeptes der Schutzverantwortung bzw. der „Responsibility to Protect“ (R2P). Wie auch in der Rede Gaucks deutlich wurde, beinhaltet das Konzept die Idee einer Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, Menschen vor Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnischen Säuberungen zu schützen, sollte ein Staat seine Bevölkerung nicht vor solchen Verbrechen schützen können oder wollen.
Wie Sarah Brockmeier erklärte, wird seit der Bekennung zur Schutzverantwortung auf dem UN-Weltgipfel 2005 und infolge eines Berichts des UN-Generalsekretärs von 2009 von den sogenannten drei Säulen der Schutzverantwortung gesprochen. Mit der ersten Säule wird die Verantwortung eines jeden Staates beschrieben, seine eigene Bevölkerung vor Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnische Säuberungen zu beschützen. Die zweite Säule bezieht sich auf die Verantwortung von Staaten, andere Staaten dabei zu unterstützen diesen Schutz zu gewährleisten. Die dritte Säule umfasst die Verantwortung der Staaten auch Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, sollte ein anderer Staat seiner Verantwortung zum Schutz der eigenen Bevölkerung nicht nachkommen. Mit diesen Zwangsmaßnahmen seien aber nicht ausschließlich militärische Mittel gemeint, so Brockmeier. Darunter fielen alle Maßnahmen, die die internationale Gemeinschaft ergreifen könne. Dazu gehörten nach Brockmeier zum Beispiel auch Sanktionen sowie die Entsendung von Menschenrechtskommissionen und der Verweis eines Falles an den Internationalen Strafgerichtshof.
Die Schutzverantwortung, so machte Prof. Fastenrath deutlich, stelle keine Änderung des Völkerrechts dar. Nach wie vor sei einzig der Sicherheitsrat dazu ermächtigt grenzüberschreitende Gewalt, also ein Eingreifen in fremde Staaten, zu autorisieren. Lars Brozus erklärte, das Konzept sei beim Weltgipfel 2005 in einem Dokument der Generalversammlung zwar einstimmig verabschiedet worden – allerdings in zwei kurzen Paragraphen in einem ansonsten sehr langen Dokument zu verschiedenen Reformen der Vereinten Nationen. Seit 2009 gäbe es regelmäßige sogenannte „informelle Debatten“, an denen sich Staaten beteiligen könnten. Das seien regelmäßig ca. 60 bis 80 von den 193 Mitgliedsstaaten.
Wie steht die deutsche Regierung zur Schutzverantwortung?
Lars Brozus zählte konkrete Maßnahmen auf, die die deutsche Regierung zum Thema der Schutzverantwortung ergriffen habe. Sie gäbe zum Beispiel Geld für das Büro des Sondergesandten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für die Schutzverantwortung aus und habe einen „Focal Point“ für die Schutzverantwortung ernannt: Eine Person, die im Auswärtigen Amt arbeitet und als Ansprechpartner damit beauftragt ist, sich um das Thema der Schutzverantwortung zu kümmern.
Sarah Brockmeier warnte, dass der Focal Point vor allem der Beauftrage für die Vereinten Nationen und der stellvertretende Leiter der Abteilung Vereinte Nationen im Auswärtigen Amt sei. Was dieser an Koordinierungsaufgaben im Auswärtigen Amt zum Thema Schutzverantwortung übernehmen könne, hielte sich „sehr in Grenzen“, da ihm weder viel Zeit noch irgendwelche Ressourcen dafür zur Verfügung stünden. Das Auswärtige Amt habe vielmehr verschiedene Projekte im Bericht der Krisenprävention mit dem „R2P-Label“ versehen.
„Wir engagieren uns finanziell für UN-Missionen. Aber es wird auch Personal gebraucht. Zivile Fachkräfte, aber auch Polizisten und Soldaten. Hier tut Deutschland noch viel zu wenig.“
– Sarah Brockmeier, Genocide Alert
Brockmeier nannte drei Bereiche, in denen die Bundesregierung noch aktiver sein könne: Erstens die Zusammenführung von Frühwarnindikatoren und die rechtzeitige politische Bewertung von Informationen zu Risikosituationen, auf die dann reagiert werden müsse. Zweitens eine deutlich umfangreichere finanzielle Unterstützung von Präventionsmaßnahmen, wie zum Beispiel Mediationsprojekte. Drittens eine stärkere deutsche Beteiligung an UN-Missionen. „Wir engagieren uns finanziell für UN-Missionen“, so Brockmeier, „aber es wird eben auch Personal gebraucht: Zivile Fachkräfte, aber auch Polizisten und Soldaten. Hier tut Deutschland noch viel zu wenig.“
Lars Brozus hob in diesem Zusammenhang eine positive Entwicklung zum Thema der Frühwarnung hervor. Es gäbe inzwischen für die Staaten „Konkurrenz“ privater, finanziell gut ausgestatteter Initiativen, die darauf abzielten, das Wissen über potentielle R2P-Situationen besser zu bündeln und früher zu erkennen. Das seien zum Teil große Stiftungen, aber auch Graswurzelbewegungen, die mithilfe von modernen Technologien arbeiteten. Er schätze Staaten – auch Deutschland – so ein, dass diese sich entsprechend darum bemühen würden, an diesen Entwicklungen teilzuhaben.
Selbstverständlich, so Brozus, könne und müsse viel mehr in die Krisenprävention investiert werden. Was fehle seien Ressourcen und die Kapazitäten zur Umsetzung einer Reihe von guten Ideen. Das Problem sei vor allem fehlende politische Aufmerksamkeit, da diese oft erst entstehe, wenn es bereits zu Gewalt gekommen sei. Es sei sehr viel schwieriger, Aufmerksamkeit für Situationen zu generieren, in denen die Gewaltschwelle noch nicht überschritten worden sei, obwohl es natürlich sehr viel kostengünstiger und auch sehr viel erfolgsversprechender sei und vor allem sehr viel mehr Menschenleben retten könne, vorher zu handeln.
Ist es realistisch, dass sich Deutschland engagiert, auch wenn keine deutschen Interessen betroffen sind?
Auf Anregung des Publikums und einer Frage, die über Twitter gestellt wurde, diskutierten die Podiumsteilnehmer, ob man von Deutschland erwarten könne, sich für die Verhinderung schwerster Menschenrechtsverbrechen zu engagieren, auch wenn keine deutschen Interessen betroffen seien.
Professor Fastenrath stellte fest, dass man das Konzept der Schutzverantwortung unterminieren würde, wenn man sagen würde „Wir machen das nur, wenn eigene Interessen auf dem Spiel stehen.“
„Man würde das Konzept der Schutzverantwortung unterminieren, wenn man es nur dann anwenden würde, wenn eigene Interessen auf dem Spiel stehen.“
– Prof. Fastenrath, TU Dresden
Sarah Brockmeier stellte die Definition von Interesse in Frage. „Ich finde immer, man kann auch die Verhinderung des Todes von hunderttausenden von Menschen, wie zum Beispiel in Ruanda, als ein Interesse verstehen, auch wenn es ein sehr moralisches Interesse ist“, so Brockmeier. Ein politisches Interesse müsse und könne in solchen Situationen auch hergestellt werden. Als Bürger könnte man Politikern mitteilen, dass die Menschenleben in Ländern wie dem Südsudan, der Zentralafrikanischen Republik oder in Syrien wichtig seien. Dafür müsse man eben auch politischen Druck erzeugen, Aufmerksamkeit herstellen, zur Not auf die Straße gehen. „Warum demonstrieren wir eigentlich nicht gegen den Krieg in Syrien?“, fragte Brockmeier.
Wie stehen andere Länder zum Konzept der Schutzverantwortung?
Neben Deutschlands Position zur Schutzverantwortung diskutierten die Podiumsteilnehmer auch die Einstellung anderer Länder zu dem Konzept. Lars Brozus betonte, es gäbe heute sehr wenige Staaten, die den Kern der Norm, dass Bevölkerungen vor diesen vier Massengewalttaten zu schützen seien, in Frage stellten würden. In der konkreten Ausgestaltung der Umsetzung dieser politischen Norm gäbe es aber Unterschiede zwischen den Staaten. Viele Staaten, die unter Massengewalttaten gelitten hätten, gehörten oft zu den stärksten Unterstützern. Diese würden immer wieder darauf hinweisen, wie sehr ihre Gesellschaften traumatisiert seien. Die Kritiker seien in der Regel eher autoritäre Regime, die sehr stark mit Souveränitätsvorbehalten argumentierten.
„Ich finde immer man kann auch die Verhinderung des Todes von hunderttausenden von Menschen wie zum Beispiel in Ruanda als ein Interesse verstehen, auch wenn es ein sehr moralisches Interesse ist.“
– Sarah Brockmeier, Genocide Alert
Sarah Brockmeier ergänzte, dass auch zwischen den Positionen der Kritiker differenziert werden müsse. Während zum Beispiel China die Schutzverantwortung wegen des Nichteinmischungsprinzips kritisch sehe, hätte Brasilien weniger Bedenken aus diesen Gründen. Brasilien ginge es viel mehr um die Frage, ob und wie militärische Gewalt ein erfolgversprechendes Mittel zum Schutz von Zivilisten darstellen könne. Mit dem im Nachgang zur Libyenintervention vorgeschlagenen brasilianischen Konzept der „Responsibility while Protecting“ sei es Brasilien darum gegangen, die Frage zur Diskussion zu stellen wie eine militärische Intervention zum Schutz von Zivilisten verantwortlich durchgeführt werden sollte. Die Brasilianer hätten unter anderem gefordert, dass der Sicherheitsrat eine stärkere Kontrolle darüber behalte, wie eine Intervention durchgeführt würde. Genau damit waren nicht nur die Brasilianer während der NATO-Intervention in Libyen nicht einverstanden gewesen.
„Es gibt heute nur sehr wenige Staaten, die den Kern der Norm, nämlich, dass Bevölkerungen vor diesen vier Massen-gewalttaten zu schützen sind, in Frage stellen.“
– Lars Brozus, SWP
Was wurde aus dem Konzept der „Responsibility while Protecting“?
Auf die Frage aus dem Publikum, warum die Brasilianer das Konzept der „Responsibility while Protecting“ nicht weiter verfolgt hätten, nannten Lars Brozus und Sarah Brockmeier verschiedene Gründe. Die Brasilianer würden sich unwohl fühlen, den militärischen Aspekt der Schutzverantwortung dauerhaft auf der Agenda zu halten, da sie vor allem die präventiven Aspekte wichtig fänden, so Brockmeier. Es sei aber auch deutlich geworden, so betonte Lars Brozus, dass zwei der Mitglieder der „BRICS“ Länder (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), nämlich Russland und China, diese Responsibily While Protecting nicht diskutieren wollten, im Gegensatz zu sehr vielen anderen Staaten in den Vereinten Nationen. Brasilien habe es nicht geschafft, diese Mitglieder der BRICS-Gruppe auf die eigene Seite zu bringen. Die Ursache für das zurückgegangene Engagement Brasiliens sei aber auch auf den bisher fehlenden Organisationsgrad in der brasilianischen Außenpolitik zurückzuführen.
Sarah Brockmeier hob hervor, dass Deutschland sich stärker dabei engagieren könne, zusammen mit Brasilien die Diskussionen zu Teilen des „Responsibility while Protecting“ Konzepts wieder aufzunehmen. Wie auch Lars Brozus betonte, gäbe es zum Thema der stärkeren Kontrolle des Sicherheitsrates und der Kriterien für die Anwendung von Gewalt zum Schutz von Zivilisten durchaus Diskussionsbedarf.
Die Zukunft der Schutzverantwortung
Die Schutzverantwortung als Konzept, darin waren sich die Podiumsteilnehmer einig, könne keine Völkermorde oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhindern. Es sei aber ein Konzept, das den politischen Diskurs erzeugen und den Rahmen setzen könne, um die Prävention von schwersten Menschenrechtsverbrechen auf die politische Agenda zu setzen.
Weiterführende Links
- Seiten zu den Projekten von Genocide Alert anlässlich des zwanzigsten Gedenkens an den Völkermord in Ruanda
genocide-alert.de/genozid-in-ruanda-zwanzig-jahre-danach - Informationsportal zur Schutzverantwortung
schutzverantwortung.de - Brockmeier, Sarah (2014): Deutschland und der Völkermord in Ruanda. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung.
boell.de/de/2014/04/07/deutschland-und-der-voelkermord-ruanda - Brozus, Lars (2012): Improving Mass Atrocities Prevention. Guidelines for Effective and Legitimate Implementation of the Responsibility to Protect. Berlin: SWP Comments.
swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/comments/2012C38_bzs.pdf - Brozus, Lars/von Farkas, Jessica (2012): Germany and R2P. Common but Differentiated Responsibility? In: The Responsibility to Protect – From Evasive to Reluctant Action? The Role of Global Middle Powers. S. 53-69. Johannesburg: Hanns-Seidel-Stiftung.
swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/fachpublikationen/Brozus_Farkas_Germany_and_R2P_2012.pdf
Über das Projekt
20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda führte Genocide Alert im Jahr 2014 Podiumsdiskussionen, Interviews und einen Essaywettbewerb durch, um an den Völkermord in Ruanda 1994 zu erinnern und daraus zu ziehende Lehren für die gegenwärtige Politik zu debattieren.
Auf dieser Projektseite hat das Team unter Leitung von Sarah Brockmeier Videoaufnahmen von Podiumsdiskussionen und Vorträgen online gestellt, geführte Interviews und Ergebnisse protokolliert sowie Fachliteratur und Gutachten zusammengetragen, unter anderem zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda.