„20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda“
Projektseite zum Genocide Alert Ruandaprojekt
„20 Jahre danach – Was sind die Lehren aus dem Völkermord in Ruanda?„
Interview mit Wolfang Blam
Wolfgang Blam arbeitete als Arzt des Deutschen Entwicklungsdienst (DED) bei Beginn des Völkermords im Krankenhaus Kibuye und konnte zusammen mit seiner Frau und einem kleinen Baby erst nach sechs Wochen Ende Mai 1994 Ruanda verlassen. Er ist einer der wenigen Deutschen, die während des Völkermords in Ruanda blieben.
„Die deutsche Politik braucht dringend eine gründliche historische Analyse ihrer Rolle vor, während und nach dem Genozid!“
– Wolfang Blam
Das Interview
Herr Blam, Sie sind einer der wenigen Ausländer, die während des Völkermords in Ruanda geblieben sind. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Was sollten Menschen in Deutschland über den Völkermord wissen?
Ich hatte mich aus persönlichen und Sicherheitsgründen der zivilen Evakuierung der Ausländer nicht angeschlossen. Denn ich fühlte mich an meiner Arbeitsstelle, dem Krankenhaus Kibuye, im sozialen Umfeld mit ruandischen Freunden sicherer als unterwegs „ohne Begleitschutz“. Doch es war für mich der Schock meines Lebens, wenige Tage später zu erkennen, in welche Falle ich und viele Ruander geraten waren: Eine brutale Vernichtungsmaschinerie lief zentral organisiert an, die aber durch informelle und parallele Entscheidungswege getarnt einen angeblichen „Volkszorn der Hutu-Mehrheit“ als Alibigrund vorschob. Die Organisation dieses Völkermords übertraf in Ihrer Effizienz nach meiner Einschätzung deutlich den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden und anderen Minderheiten.
Selbst die Evakuierung der „Weißen“ war offensichtlich Teil des Plans, um unliebsame Zeugen zu vermeiden und so die konstruierte Geschichte einer Stammesfehde verbreiten zu können. Das Einschüchtern und Zusammentreiben der Opfer an bisher heiligen und öffentlichen Orten wie Kirchen und Schulen war das zentrale Element dieses Konzepts und ermöglichte es, fast alle Opfer schon in den ersten 3 Wochen abzuschlachten.
Die Menschen in Deutschland sollten wissen, dass auch dieser Völkermord von einer relativ kleinen Machtelite geplant und vorbereitet wurde. Durch die systematische Beteiligung vieler „aufgehetzter“ Normalbürger wurde jedoch der Charakter des zentral organisierten Völkermords geschickt verdeckt – zumindest in den ersten entscheidenden Wochen im April. Dies hat einerseits eine sofortige Verhinderung erschwert, andererseits auch bis heute die historische Aufklärung und die juristische Verfolgung.
Wir haben in den letzten Monaten diskutiert: „20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda – Was haben wir gelernt?“. Was ist Ihre Antwort auf diese Frage?
Einzelne Staaten wie auch die Bundesrepublik haben aus dem Völkermord erste Lehren gezogen: Richtige und zuverlässige Informationen aus Krisenregionen sind unbedingt nötig und helfen, die Notwendigkeit einer Soforthilfe oder Intervention von extern zu entscheiden – oder im günstigen Fall Menschenleben durch frühe Krisenprävention zu retten.
Auf internationaler Ebene, insbesondere in den Strukturen der Vereinten Nationen (VN) sehe ich jedoch keine Chance mehr für einen Lernprozess. Die Vetorechte weniger Staaten im Sicherheitsrat verhindern einen offenen Informationsaustausch und eine demokratischen Entscheidungsfindung. Die Vereinten Nationen produzieren als Papiertiger wirklich nur noch Papiere und Stellungnahmen. Die seitdem leider schon wieder sehr zahlreichen, an Völkermord grenzenden Menschenrechtsverletzungen an anderen Stellen der Welt zeigen, dass die Friedenssicherung international keine Chance mehr hat gegenüber wirtschaftlichen Einzelinteressen. Die Förderung einer friedlicheren Welt bleibt mit diesen VN reine Utopie.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft für das Engagement der deutschen Politik und Gesellschaft bezüglich Ruanda?
Aufgrund der intensiven Kontakte und Kenntnisse aus der Zeit vor dem Völkermord hat die deutsche Politik und Gesellschaft – nach einer ersten Schockstarre – den Völkermord schnell verstanden und früh sinnvolle Entwicklungszusammenarbeit geleistet. Aber diese Kontakte aus der Zeit vor dem Völkermord sind auch Teil einer „Verstrickung“ mit den Planern und Organisatoren dieses Völkermords. Deshalb braucht die deutsche Politik dringend eine gründliche historische Analyse über ihre Rolle vor, während und nach dem Genozid.
War die deutsche Regierung denn wirklich so ahnungslos über die Organisation und den Ablauf des Völkermords, wie sie nach außen den Anschein gab?
Falschinformationen, verweigerte Hilfe oder sogar politischer Schutz für Flüchtlinge, die in Wirklichkeit zur Tätergruppe gehören, haben – zumindest indirekt – eine Beteiligung erzeugt. Erst die Klärung dieser staatlichen Mitverantwortung kann es gesellschaftlichen Initiativen ermöglichen, mit der ruandischen Gesellschaft zukünftig auf einer transparenten Grundlage zu kooperieren.
Die Interviews in der Genocide Alert Interviewreihe zum Völkermord in Ruanda geben die persönlichen Ansichten der Interviewten wieder und entsprechen nicht zwangsläufig der Position von Genocide Alert.
Über das Projekt
20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda führte Genocide Alert im Jahr 2014 Podiumsdiskussionen, Interviews und einen Essaywettbewerb durch, um an den Völkermord in Ruanda 1994 zu erinnern und daraus zu ziehende Lehren für die gegenwärtige Politik zu debattieren.
Auf dieser Projektseite hat das Team unter Leitung von Sarah Brockmeier Videoaufnahmen von Podiumsdiskussionen und Vorträgen online gestellt, geführte Interviews und Ergebnisse protokolliert sowie Fachliteratur und Gutachten zusammengetragen, unter anderem zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda.