„20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda“
Projektseite zum Genocide Alert Ruandaprojekt
„20 Jahre danach – Was sind die Lehren aus dem Völkermord in Ruanda?„
Interview mit General Roméo Dallaire

General a.D. Roméo Dallaire war von 1993 bis 1994 Kommandeur der Blauhelmtruppen der Vereinten Nationen bei der UNAMIR-Mission in Ruanda. Nachdem der Großteil seiner Truppen von den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen während des Völkermords abgezogen wurde, musste er dem Morden drei Monate lang größtenteils zuschauen. Dallaire ist Autor des Buches “Handschlag mit dem Teufel: Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda” und leitet heute die “Roméo Dallaire Child Soldiers Initiative”, die sich für ein Ende der Rekrutierung von Kindersoldaten einsetzt. Genocide Alert sprach mit ihm am 10. Oktober 2014 in Berlin.
Das Interview
Dieses Jahr haben wir hier in Deutschland die Diskussion zur Frage angeregt, was zwanzig Jahre nach dem Völkermord in Ruanda gelernt haben. Was denken Sie, General Dallaire: Was haben wir gelernt? Und vor allem: Was haben wir nicht gelernt?
Vor zwanzig Jahren sind wir in eine neue Art von Konflikten gestolpert, mit denen wir bis dato keine oder wenig Erfahrung hatten. Eine Art Konflikt, der weder Krieg noch Frieden gewesen ist, aber alles dazwischen. Wir alle sind damals immer wieder durch die extreme Natur dieser neuen Art von Konflikten überrascht worden und sind blind umher gestolpert. Jeder von uns.
Heute, zwanzig Jahre später, sind wir nicht mehr blind. Nach zwanzig Jahren der Forschung, der Auseinandersetzung mit dem Geschehenen und zwanzig Jahren des weiteren Scheiterns aus dem wir lernen konnten. Doch noch immer scheinen wir unbeholfen, wenn es um die Prävention solcher Gräuel geht. Und dort, wo wir intervenieren, greifen wir zu spät und zu schwach ein – ohne die ausreichenden Kapazitäten um die Krisen tatsächlich beeinflussen zu können.
Unabhängig davon, wie oft wir wiederholen, dass wir seit Ruanda viel gelernt haben und das Konzept der Schutzverantwortunganführen: Wir haben heute noch viel mehr die Verantwortung zu schützen als damals – zum Beispiel im Hinblick auf die Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik. Wir hatten 20, 25 Jahre um besser zu werden in der Prävention von Gräueltaten und wir sind trotzdem nicht wesentlich vorangekommen. Wir haben mehr Möglichkeiten als vor 20 Jahren – aber wir wollen sie nicht nutzen.
Wir von Genocide Alert werden immer wieder gefragt: „Warum sollte uns das kümmern, wenn sich irgendwo in Afrika Menschen umbringen? Was hat das mit uns hier in Deutschland zu tun?“ – Was antworten Sie auf diese Frage?
Es gibt heute keinen einzigen Konflikt, der isoliert vom Rest der Welt stattfindet. Etwas was Politiker ungerne zugeben ist folgendes: Obgleich wir wirtschaftlich weltweit vernetzt sind und global denken, wollen sie nicht zugeben, dass wir in Fragen der Sicherheit genauso weltweit verbunden sind.
Gestehen wir uns dies ein, ist es offensichtlich, dass das was in diesen Ländern passiert erstens nicht „weit weg“ ist, zweitens sehr schnell bis vor unsere Haustür kommen kann, und drittens verhinderbar ist.
All dies setzt unsere Politiker unter Druck Entscheidungen zu treffen, die Risiken und potentielle Opfer beinhalten.
Zum anderen erhalten Politiker von Experten und Beratern nicht alle Antworten, die sie brauchen um weise Entscheidungen zu treffen. Wir haben kein keinen konzeptionellen Rahmen für Konfliktprävention wie wir es für „Krieg“ oder „Frieden“ hatten. Und da dies fehlt, müssen Politiker mit Situationen umgehen, die sie wenig kontrollieren können – dies bringt sie in eine schwierige Lage.
Politiker wie Experten sind verantwortlich dafür, der Bevölkerung begreiflich zu machen, dass es heutzutage keinen Konflikt in der Welt mehr gibt, der unsere eigene Sicherheit nicht betrifft.
Welche Maßnahmen erwarten Sie von der deutschen Regierung bezüglich der Prävention von Gräueltaten?
Deutschlands Diplomaten könnten weitaus mehr vor Ort sein und sich aktiver dafür einsetzen, Frieden zu schaffen.
Und die Bundeswehr kann eingesetzt werden und sich die Fähigkeiten aneignen, die es dazu braucht. Um ein Beispiel anzuführen: Gestern war ich zu Gesprächen Auswärtigen Amt und vor drei Wochen haben wir dies bei der NATO diskutiert: wir haben diskutiert, wie die Bundeswehr so geschult werden kann, dass die Soldaten mit einer Situation umgehen können, in denen sie Kindersoldaten gegenüberstehen kann, ohne diese zu töten. Bisher hat sie weder die entsprechenden Doktrin noch die taktische Ausbildung auf solche Situationen zu reagieren. Daher ist es notwendig die entsprechenden Einheiten umzuschulen und weiterzubilden.
Es ist eine Sache Soldaten nach Afghanistan zu schicken und ihnen alle möglichen Einschränkungen aufzuerlegen. Es ist eine andere Sache, ein führender Akteur in den Vereinten Nationen zu sein – beispielsweise in der Zentralafrikanischen Republik. Wir reden hier von zwei völlig unterschiedlichen Welten.
Und es gibt heute keinen einzigen Grund mehr, warum Deutschland keine Führungsrolle übernehmen sollte.
Als Kanada im Jahr 2002 gebeten wurde, die UN-Mission im Kongo zu führen, lehnten wir ab und gingen stattdessen nach Afghanistan. Ich habe kein Problem damit, in Afghanistan für unsere Sicherheit aktiv zu sein. Aber ich habe ein Problem damit, wenn wir nicht gleichzeitig die Truppen haben im Kongo aktiv zu sein. Wir können beides.
Sie würden also sagen, dass Deutschland mehr zu Friedenssicherungsmissionen der Vereinten Nationen beitragen sollte?
Deutschland sollte eine Führungsrolle in den Friedenssicherungsmissionen der Vereinten Nationen übernehmen! Aber genauso sollte es sich aktiver in der Konfliktprävention und Konfliktlösung engagieren.
Erinnern Sie sich an eine besondere Rolle Deutschlands während des Völkermordes in Ruanda?
Nein. Es waren deutsche Ingenieure als Beobachter da, aber sie haben das Land verlassen. Deutschland hat sich zurückgezogen und sich rausgehalten. Sie haben sich nicht engagiert und sind nicht aktiv geworden. Dafür können wir es zur Verantwortung ziehen. Der Untertitel meines Buches ist: „Das Versagen der Menschheit in Ruanda“. Denn die gesamte Menschheit hat Ruanda damals im Stich gelassen. Deutschland ist also genauso dafür verantwortlich, dass es ein Land in Not alleine gelassen hat.
Sie beschäftigen sich heute hauptsächlich mit dem Thema Kindersoldaten. Warum engagieren Sie sich so besonders in diesem Bereich?
Ich bin der festen Überzeugung, dass es nichts Abartigeres gibt, als Kinder zu Werkzeugen des Krieges zu machen. Meine Aufgabe ist es, daran zu arbeiten, dass Erwachsene nicht mehr glauben, dass sie Kinder als Werkzeuge nutzen können.
Trotz all der Dinge, die Sie gesehen haben, scheinen Sie noch immer daran zu glauben, dass wir besser darin werden können, schwerste Menschenrechtsverbrechen zu verhindern. Warum sind Sie immer noch so optimistisch?
Weil ich die Alternative gesehen habe – und versucht habe mich umzubringen.
Vielen Dank für Ihre Zeit, General Dallaire.
Das Interview führte Sarah Brockmeier für Genocide Alert.
Die Interviews in der Genocide Alert Interviewreihe zum Völkermord in Ruanda geben die persönlichen Ansichten der Interviewten wieder und entsprechen nicht zwangsläufig der Position von Genocide Alert.
Über das Projekt
20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda führte Genocide Alert im Jahr 2014 Podiumsdiskussionen, Interviews und einen Essaywettbewerb durch, um an den Völkermord in Ruanda 1994 zu erinnern und daraus zu ziehende Lehren für die gegenwärtige Politik zu debattieren.
Auf dieser Projektseite hat das Team unter Leitung von Sarah Brockmeier Videoaufnahmen von Podiumsdiskussionen und Vorträgen online gestellt, geführte Interviews und Ergebnisse protokolliert sowie Fachliteratur und Gutachten zusammengetragen, unter anderem zur deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Ruanda.