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Genocide Alert warnt vor erhöhtem Risiko für Massenverbrechen gegen religiöse und ethnische Minderheiten in Afghanistan
Es besteht ein hohes Risiko, dass in Afghanistan Massenverbrechen gegen religiöse und ethnische Minderheiten, wie Shiiten, Sufis und vor allem Hazara, begangen werden. Die deutsche Bundesregierung muss daher dringend die Aufnahme von gefährdeten Personen gewährleisten und den Zugang bedrohter Gruppen zu humanitärer Hilfe in der Region aktiv sicherstellen. Deutschland muss außerdem gezielt Menschenrechtsakteure vor Ort und auf Ebene der Vereinten Nationen unterstützen, um mögliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzuklären. Damit einher geht auch die Forderung nach einer aktiven Rolle Deutschlands im Rahmen einer potenziellen Strafverfolgung von Massenverbrechen in Afghanistan.
Miriam Schirmer, Tabea Engelhard und Emilia von Mettenheim
Seit dem Abzug westlicher Truppen und der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 bleibt die Lage im Land instabil. Das Taliban-Regime geht nicht nur gewaltsam gegen ehemalige Mitglieder der Armee und Regierung, Journalist:innen, Menschenrechtsverteidiger:innen und Frauen im Allgemeinen vor. Auch ethnische und religiöse Minderheiten, wie Shiiten, Sufi und Hazara werden systematisch von den Taliban unterdrückt und gezielt durch den lokalen IS-Ableger ISKP (Islamic State of Khorasan Province) angegriffen.
Die mehrheitlich schiitischen Hazara werden als drittgrößte Bevölkerungsgruppe Afghanistans (etwa 9-14% der Gesamtbevölkerung) seit mehr als einem Jahrhundert durch afghanische Regierungen diskriminiert und sind in den letzten Jahrzehnten einem kontinuierlich ansteigenden Ausmaß an Gewalt ausgesetzt. Seit Anfang 2021 häufen sich Angriffe auf Hazara, vor allem durch den ISKP. Gleichzeitig haben die Taliban bereits über 25.000 Hazara von ihren Wohnorten vertrieben (Stand: Juli 2022). Ein aktueller Bericht des britischen Parlaments zur Untersuchung der Lage der Hazara verzeichnet alleine für den Zeitraum von Januar 2021 bis April 2022 insgesamt 29 Ereignisse, die – durch bewaffnete Angriffe, Selbstmordattentate oder gezielte Exekutionen – mehrere hundert Hazara das Leben kosteten.
Deshalb warnten Amnesty International, das United States Holocaust Memorial Museum und Genocide Watch bereits kurz nach Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan vor dem Risiko eines möglichen Völkermords durch Taliban und ISKP an den Hazara. Dieser Einschätzung schließen sich die britischen Abgeordneten nun an. Auch Richard Bennett, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen (VN) für die Lage der Menschenrechte in Afghanistan, forderte am 26. Mai 2022 eine internationale Untersuchung der Angriffe gegen ethnische Minderheiten in Afghanistan. Die Attacken tragen Merkmale von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zunehmend systematisch und politisch organisiert durchgeführt würden.
Genocide Alert appelliert daher an die deutsche Politik, auf Grundlage der Völkermordkonvention sowie der Internationalen Schutzverantwortung die Bedrohungslage religiöser Minderheiten, insbesondere der Hazara, in Afghanistan anzuerkennen und sich aktiv für die Einhaltung ihrer Menschenrechte einzusetzen.
Im Rahmen der Prävention weiterer Angriffe und dem Schutz von Menschenrechten in Afghanistan sollte Deutschland daher erstens:
- Hazara im letzte Woche gestarteten Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan besonders berücksichtigen;
- untersuchen, ob die Hazara Zugang zu der bisher geleisteten humanitären Hilfe haben und bei Bedarf entsprechende Hilfsangebote adaptieren;
- auf diplomatischer Ebene die Taliban dazu drängen, die politische Unterdrückung der Hazara mit sofortiger Wirkung zu unterbinden und ihrer eigenen Verpflichtung, Minderheiten im Land zu schützen, nachzukommen.
Zweitens muss die Situation der Hazara beobachtet werden. Unerlässlich sind die Dokumentation von Beweisen für Massenverbrechen sowie die Identifikation von Täter:innen, um eine (spätere) Strafverfolgung zu ermöglichen. Hierfür sollte Deutschland:
- den Sonderberichterstatter für die Lage der Menschenrechte in Afghanistan politisch und finanziell unterstützen;
- lokale Menschenrechtsakteure durch finanzielle Mittel und Ausbildungsmöglichkeiten, bspw. im Bereich Cybersecurity, unterstützen;
- sich für die Schaffung eines Independent Investigative Mechanism auf VN-Ebene einsetzen, um Beweise der Verbrechen zu sammeln, sichern und analysieren.
Drittens müssen Täter:innen zur Rechenschaft gezogen werden. Straflosigkeit stellt seit Jahrzehnten ein Problem in Afghanistan dar, das die Wahrscheinlichkeit für weitere, schwerwiegendere Verbrechen nachweislich bedeutend erhöht. Da von afghanischen Gerichten aufgrund der politischen Instabilität bzw. der fehlenden Rechtsstaatlichkeit keine verlässliche Strafverfolgung zu erwarten ist, sollte Deutschland:
- betroffene Afghan:innen dabei unterstützen, Beweise und Erklärungen beim Internationalen Strafgerichtshof vorzubringen;
- das Weltrechtsprinzip nutzen, um Massenverbrechen in Afghanistan vor deutschen Gerichten zu verfolgen.
Das Risiko für Massenverbrechen an ethnischen und religiösen Minderheiten in Afghanistan ist hoch. Die Politik muss daher handeln. Ein gezieltes Engagement der Bundesregierung durch die vorgeschlagenen Maßnahmen erhöht den politischen Druck auf die Taliban-Regierung und kann so Menschenleben retten.
» Dieser Text wurde im Oktober 2022 als Genocide Alert Policy Brief veröffentlicht (pdf)