Anwendung des Weltrechtsprinzips in Deutschland – eine Verfahrenskritik  

Die Oberlandesgerichte (OLG) in Frankfurt am Main und in Koblenz fällten am 30.11.2021 und am 13.01.2022 historische Urteile basierend auf dem Weltrechtsprinzip. In den Gerichtsverfahren mussten sich zwei Syrer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Iraker unter anderem wegen Völkermords verantworten. Die Verfahren sind damit die ersten weltweit, die sich mit dem Völkermord an den Jesid:innen im Irak und den Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung des Assad-Regimes befassen. 

Doch wie liefen diese Verfahren ab? Was waren Schwierigkeiten und Kritikpunkte? Welche Bedeutung haben diese Verfahren für die rechtliche Aufarbeitung von Massenverbrechen in Deutschland? 

von Mette Steffen und Helene Lüschen

Lange Haftstrafen für Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit 

Das OLG Frankfurt verurteilte am 30. November 2021 den Iraker Taha Al-J. zu lebenslanger Haft. Er hatte sich als Anhänger des “Islamischen Staates” (IS) unter anderem des Völkermordes und verschiedenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Todesfolge schuldig gemacht. 2015 hatte er eine jesidische Frau und ihre fünfjährige Tochter als Sklavinnen gekauft und das Mädchen in der Sonne angebunden verdursten lassen. Taha Al-J. legte Revision gegen das Urteil ein, über die das Gericht noch zu entscheiden hat. 

Vor dem OLG Koblenz mussten sich die syrischen Staatsangehörigen Anwar R. und Eyad A. für ihre Tätigkeit beim Allgemeinen Geheimdienst von Präsident Baschar al-Assad verantworten. Das Gericht verurteilte Eyad A. am 24. Februar 2021 wegen der Beihilfe zu Folter in mindestens 30 Fällen und Anwar R. am 13. Januar 2022 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Anwar R. wurde u.a. als Mittäter für Folter, Mord, gefährliche Körperverletzung und sexualisierte Gewalt schuldig gesprochen. Das Urteil gegen Eyad A. ist seit April 2022 rechtskräftig. Über die von Anwar R. eingelegte Revision ist noch nicht entschieden. 

Bedeutung der Urteile 

Die Urteile von Frankfurt und Koblenz sind von großer Bedeutung. Zunächst zeigen die Prozesse, dass deutsche Strafverfolgungsbehörden Völkerstraftaten nachweisen und verurteilen können. In dem Prozess zu Staatsfolter in Syrien konnten einzelne Taten über Befehlsketten auf Personen in hochrangigen Positionen zurückgeführt werden. Das Urteil in Koblenz etabliert zudem, dass das syrische Regime spätestens seit Ende April 2011 einen systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung durchgeführt hat. Dies ist zentral für künftige Verfahren, da hiermit prozedurale und materiellrechtliche Voraussetzungen für die Verurteilung weiterer Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschaffen wurden. Auch das Verfahren von Frankfurt ist bedeutsam, stellt es doch den ersten Prozess zum Völkermord der Jesid:innen im Irak dar. Durch das Urteil erkennt die deutsche Justiz die IS-Verbrechen nun als Genozid an und schafft damit auch hier eine wichtige Grundsatzentscheidung, auf die sich weitere Verfahren berufen könnten. Auch das starke Symbol gegen Straflosigkeit, das das OLG gesetzt hat, ist begrüßenswert. 

Defizite in der Verfahrensgestaltung 

Trotz des großen Verdienstes der beiden Gerichte wiesen die jeweiligen Verfahren jedoch bedeutsame Mängel auf. 

Geschlechtsspezifische Gewalt 

Das OLG Frankfurt vernachlässigte etwa den geschlechtsspezifischen und religiösen Kontext der Verbrechen. Sachverständige und Zeug:innen hoben hervor, dass nur jesidische Frauen und Mädchen Opfer von Versklavung durch den IS im Irak wurden. Dennoch wurde dieser Aspekt selbst auf Antrag von Nebenklage und Bundesanwaltschaft nicht berücksichtigt. Das verhindert eine umfassendere Aufarbeitung der Verbrechen und eine vollständige Strafverfolgung. Insbesondere der geschlechtsspezifische Aspekt von Gewalt in bewaffneten Konflikten wird immer wieder ignoriert und als Nebenprodukt von Kriegen gesehen, nicht als das Ergebnis einer gezielten Kriegsstrategie. Ein geschlechtssensibles Urteil hätte gesellschaftliche und politische Funktionen erfüllen können. Einerseits würde eine solche offizielle Anerkennung der geschlechtsspezifischen Aspekte von Gewalt die notwendige Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Andererseits könnte sie zu einem ganzheitlicheren Verständnis von Sicherheit beitragen, dass bei der Analyse von bewaffneten Konflikten und Massenverbrechen auch geschlechtsspezifische Gewalt mit einbezieht. 

Auswahl der Anklagepunkte 

Bezüglich der Verfahren zu Staatsfolter in Syrien ist die selektive Auswahl der Anklagepunkte kritikwürdig. Das OLG Koblenz verfolgte sexuelle Nötigung und Vergewaltigung zunächst nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern als einfache Straftaten.  

Dieser Unterschied ist entscheidend: eine Einzeltat wird losgelöst vom Kontext betrachtet, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingegen als Teil eines systematischen oder ausgedehnten Angriffs gegen die Zivilbevölkerung. Erst ein Antrag der Nebenkläger:innen ermöglichte diese Kontextualisierung und eine Verfolgung sexualisierter Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Verfahrensänderung kann als Erfolg gewertet werden, zeigt sie doch die Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung des Prozesses durch Überlebende. Zudem ist sie von großer Bedeutung für die Anerkennung der geschlechtsspezifischen Dimension von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 

Allerdings wurde andererseits ein gleichlautender Antrag hinsichtlich erzwungenem Verschwindenlassens vom Gericht abgelehnt. Damit wurde die Chance vertan, eines der zentralen Verbrechen gegen die syrische Bevölkerung aufzuarbeiten. 
Joumana Seif, syrische Menschenrechtsverteidigerin und Research Fellow beim ECCHR betont, dass zehntausende Menschen in Syrien weiterhin verschwunden seien und eine juristische Aufarbeitung nötig sei, „um Verschwundenen und ihren Angehörigen endlich Gerechtigkeit zu verschaffen.“ Das ist bei zwangsweisem Verschwindenlassen besonders entscheidend, da dieses Verbrechen nicht nur die Rechte des direkten Opfers, sondern auch die seiner Angehörigen verletzt, welche durch die Ungewissheit psychisches Leid erfahren. Eine Anerkennung des Verbrechens im Prozess hätte hier einen wichtigen Beitrag leisten können. 

Einbeziehung und Teilhabe der syrischen Bevölkerung 

Des Weiteren berücksichtigte der Prozess seine politisch-historische Dimension nur unzureichend und bezog die betroffene Bevölkerung zu wenig ein. Besonders deutlich zeigt das die Problematik der Dokumentation.

Das Gericht genehmigte keine Aufnahmen und inhaltlichen Protokolle und lehnte auch die Möglichkeit, Verfahren von zeitgeschichtlicher Bedeutung für die BRD gemäß § 169 II 1 Gerichtsverfassungsgesetz zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken auf Tonband aufzunehmen, ab – mit Verweis auf die fehlende Bedeutung des Verfahrens und die Notwendigkeit des Zeugenschutzes. Obwohl das OLG Frankfurt ein deutsches Gericht ist, urteilt es in diesem Prozess auf Grundlage des Weltrechtsprinzips und damit gewissermaßen stellvertretend für eine andere Justiz bei schweren Straftaten wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Völkermord. Daher sollten nicht allein bundesdeutsche Interessen im Fokus der Verfahrensgestaltung stehen. Vielmehr hätte auch die zeitgeschichtliche Bedeutung des Verfahrens für die syrische Gesellschaft und die Weltgemeinschaft berücksichtigt werden müssen. Die aktive Teilhabe der syrischen Zivilbevölkerung an dem Prozess ist ein wichtiges Element, um zu einer gesellschaftlichen Aufarbeitung im Land, wo die Verbrechen begangen wurden, beizutragen und einen integrativen Ansatz zu schaffen. Die Prozesse vor den internationalen Straftribunalen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda haben deutlich gezeigt, wie bedeutsam die dokumentarische Funktion solcher Verfahren ist. Die zu enge, auf Deutschland beschränkte Auslegung von “zeitgeschichtlicher Bedeutung” entzieht der syrischen Gesellschaft somit eine wichtige Quelle der Aufarbeitung.

Auch der fehlende Zugang zu Verfahrensübersetzungen für arabischsprachige Journalist:innen war eine Hürde für die syrische Öffentlichkeit, für die die Verfahren naturgemäß eine enorme zivilgesellschaftliche Bedeutung besitzen. Eine Verdolmetschung ist folglich unerlässlich, wenn der Prozess seiner politisch-historischen Funktion für die Opfergemeinschaft gerecht werden soll. Eine Verfahrensgestaltung, die eine Einbindung der Opfergemeinschaft und der Bevölkerung des Tatortstaates durch fehlende Dokumentation nahezu vollständig verhindert, birgt die Gefahr, nicht im Sinne des Weltrechtsprinzips zu handeln. Schließlich haben die Verfahren neben ihrer Wirkung für die Weltgemeinschaft insbesondere eine Funktion für die Opfergemeinschaft. Die Verfahren sollten daher so gestaltet sein, dass der Zugang für die Menschen, die am meisten von diesen Verfahren betroffen und für die diese Verfahren geführt werden, sichergestellt werden kann. 

Die deutschen Urteile und die Gestaltung der Gerichtsverfahren können so ihre Funktion, die ihnen im Kontext von Transnational Justice zukommt, nur unzureichend erfüllen. 

Fazit 

Insgesamt sind die Urteile von zentraler Bedeutung für die Aufarbeitung systematischer Menschenrechtsverbrechen mit Hilfe des Weltrechtprinzips. Gleichzeitig zeigen sich bei den Prozessen in Frankfurt und Koblenz entscheidende Mängel in der Verfahrensgestaltung, die gesetzgeberisch angegangen werden müssen. Diese Mängel für zukünftige Prozesse zu beheben und aus den beiden geführten Verfahren Lehren zu ziehen ist unerlässlich aufgrund der zunehmenden Zahl an Prozessen, die in Deutschland unter dem Weltrechtsprinzip geführt werden und dem großen Potenzial, das das Weltrechtsprinzip für die Strafverfolgung bietet.