Syrische Staatsfolter vor deutschen Gerichten – das Weltrechtsprinzip und seine Bedeutung für die Verfolgung schwerster Verbrechen

In zwei kürzlich eröffneten Gerichtsverfahren müssen sich zwei Syrer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Iraker wegen Völkermordes verantworten – und das vor deutschen Gerichten in Frankfurt und in Koblenz. Erstmals weltweit werden damit die Gräueltaten des Assad-Regimes und der Völkermord an den Jesiden vor Gericht verhandelt. Wie ist das möglich? Das Weltrechtsprinzip gibt die Antwort: Ihm zufolge hat jeder Staat das Recht, schwerste Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu verfolgen.

 

Anwar R. und Eyad A. sind syrische Staatsangehörige. Ihnen wird vorgeworfen, sich in ihrer Tätigkeit beim Allgemeinen Geheimdienstdirektorat von Präsident Baschar al-Assad durch Beihilfe zur Folter in mehr als 4000 Fällen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht zu haben. Seit dem 23. April 2020 müssen sie sich dafür vor dem Oberlandesgericht (OLG) Koblenz verantworten.

Taha Al-J. ist irakischer Staatsbürger. Er soll als Mitglied der Terrormiliz “Islamischer Staat” Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen an der religiösen Minderheit der Jesiden begangen haben. Insbesondere wird ihm der Mord an einem fünfjährigen Mädchen zur Last gelegt. Am 24. April 2020 hat das OLG Frankfurt ein Verfahren gegen ihn eröffnet.

Strafhoheit über Staatsangehörige und Territorium

Diese beiden Fälle sind deshalb so ungewöhnlich, weil sie keinen Bezug zu Deutschland aufweisen. Traditionellerweise ist ein Staat zur Verfolgung von Verbrechen berechtigt, die entweder auf seinem Territorium (Territorialitätsprinzip) oder von bzw. an seinen Staatsangehörigen (aktives/passives Personalitätsprinzip) begangen wurden. Nichts davon trifft hier zu: Die Angeklagten sind ausländische Staatsangehörige, die Opfer ebenfalls und die Taten wurden im Irak und in Syrien begangen. Warum also können deutsche Gerichte dennoch solche Verfahren anstrengen? Die Antwort lautet: mithilfe des Weltrechtsprinzips aus dem Völkerstrafrecht.

Das Weltrechtsprinzip

Das Weltrechtsprinzip (englisch principle of universal jurisdiction) ist ein völkerrechtlicher Grundsatz, dem zufolge jeder Staat befugt ist, schwerste Verbrechen gegen das Völkerrecht zu verfolgen. Dabei ist es weitgehend anerkannt, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Piraterie unter das Weltrechtsprinzip zu fassen. Ob auch Aggressionsverbrechen und ab welchem Ausmaß auch Folter, Sklaverei und Terrorismus dazu zählen können, ist umstritten. Dem Prinzip liegt allerdings die Idee zugrunde, dass Verbrechen von einer solchen Abscheulichkeit wie sie etwa einem Völkermord inneliegen, nicht ungesühnt bleiben dürfen. Zudem basiert das Prinzip auf der Vorstellung, dass sich manche Verbrechen gegen die internationale Rechtsordnung und Gemeinschaft insgesamt richten, wodurch jeder Staat betroffen ist. Beides hat zur Konsequenz, dass alle Staaten zur Verfolgung solcher Verbrechen berechtigt sind. In der Bundesrepublik wurde dieses Prinzip in § 6 Strafgesetzbuch (StGB) und in § 1 S. 1 des 2002 in Kraft getretenen Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) verankert. Dort heißt es:

“Dieses Gesetz gilt für alle in ihm bezeichneten Straftaten gegen das Völkerrecht, für Taten nach den §§ 6 bis 12 [Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen] auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist.”

Einschränkungen bei der universellen Gerichtsbarkeit gelten beim Verbrechen der Aggression. Dieses muss durch einen Deutschen/eine Deutschen begangen werden oder sich gegen die Bundesrepublik Deutschland richten, um bei einer Begehung im Ausland durch deutsche Gerichte verfolgt werden zu können. Basierend auf dem VStGB können in Deutschland alle Verbrechen des Römischen Statutes für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verfolgt werden. Dessen Rolle ist damit (entsprechend seinem Statut) subsidiär. Durch ihn werden nur Verbrechen geahndet, zu deren Verfolgung die Vertragsstaaten des Römischen Statuts nicht willens oder nicht in der Lage sind. In Bezug auf Syrien steht einer Verfolgung durch den IStGH zudem im Weg, dass Syrien kein Mitgliedsstaat des IStGH ist und der UN-Sicherheitsrat durch die Einlegung eines russischen Vetos an einer Überweisung der Situation nach Den Haag gehindert wird.

Historische Anwendungsfälle

Für die Anwendung des Weltrechtsprinzips ein Fall, in dem das OLG Stuttgart 2015 ruandische Mitglieder der Rebellengruppe “Forces Démocratiques de Libération du Rwanda” für Kriegsverbrechen im Kongo zu Gefängnisstrafen verurteilt hatte. Wie auch im aktuellen Prozess gegen Anwar R. und Eyad A. wurden in diesem Fall die Opfer von der deutschen Menschenrechtsorganisation European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR) betreut.

Regelmäßig stößt die Anwendung des Weltrechtsprinzips jedoch an ihre Grenzen, da die politische Dimension hierbei nicht ausgeklammert werden kann. So stieß nicht nur der Pinochet-Fall auf enormen politischen Gegenwind. Auch andere Vorhaben, wie etwa George W. Bush, Dick Cheney und Colin Powell wegen Kriegsverbrechen im Irakkrieg 2003 in Belgien vor Gericht zu stellen, sind umstritten und von politischer Auseinandersetzung gekennzeichnet. Das Weltrechtsprinzip stößt insofern oftmals an seine Grenzen – insbesondere dann, wenn die ohnehin schon politische Frage nach der Gerichtsbarkeit durch die Involvierung von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern zusätzlich verschärft wird.

Weltweit zeigt sich dennoch eine Tendenz zu häufigeren Rückgriffen auf das Weltrechtsprinzip. Zwischen 1961 und 2017 wurden weltweit knapp 2000 solcher Prozesse aufgenommen, über 800 davon zwischen 2008 und 2017. Bislang mündeten 60 der Fälle in einer Verurteilung. Dass mehr als die Hälfte der Urteile zwischen 2008 und 2017 erging, deutet auch hier auf eine häufigere erfolgreiche Nutzung des Weltrechtsprinzips hin.

Beurteilung und Ausblick

Die Prozesse gegen Anwar R., Eyad A. und Taha al-J. haben eine hohe Symbolkraft. Es ist das erste Mal weltweit, dass sich Angehörige des syrischen Regimes für ihre Taten vor Gericht verantworten müssen – in Syrien selbst herrscht Straffreiheit für sie. Auch der Tatbestand des Völkermordes an den Jesiden wurde bisher vor keinem Gericht verhandelt. Durch die deutschen Prozesse ändert sich das. Ihre Einleitung kann also ohne Frage als wegweisend bezeichnet werden. Sie markiert einen zentralen Schritt in Richtung Gerechtigkeit für die Opfer der verfolgten Gräueltaten.

Die Verfahren sind dabei nicht nur für sich genommen von Bedeutung, sondern auch hinsichtlich ihrer Einbettung in internationale Bemühungen zur Herstellung von Gerechtigkeit für die Verbrechen im Irak und in Syrien. Für die richtungsweisenden Verfahren greifen die Gerichte in Frankfurt und Koblenz erstmalig auf umfassende Beweismaterialien zurück, die die verfolgten Verbrechen dokumentieren. Die vom International, Impartial and Independent Mechanism (IIIM) zur Unterstützung der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen in Syrien gesammelten Beweismaterialien, etwa das Bildmaterial des syrischen Militärfotografen mit dem Decknamen Caesar, gehen über einzelne Fälle weit hinaus. Die konkreten Verfahren weisen auf diese Beweissammlung und die Vielzahl weiterer ungesühnter Gräueltaten hin. Sie dokumentieren die Verbrechen für die Nachwelt und bieten ein Stück Gerechtigkeit, wenigstens zu einem kleinen Teil. Die deutschen Prozesse können zudem Anknüpfungspunkte bieten für weitere, ähnliche Verfahren in anderen Staaten – und eines Tages vielleicht sogar im Rahmen eines eigenen internationalen Straftribunals für Syrien.