Die Vertreibung der Jesiden – ein Völkermord?

Das Vorgehen des „Islamischen Staates“ gegenüber den Jesiden weist deutlich auf eine Vernichtungsabsicht hin. Soweit IS – Kämpfer nach Deutschland zurückkehren, werden die Gerichte sich damit auseinandersetzen müssen, wie die Handlungen juristisch einzuordnen sind. Das vorliegende Policy Brief erläutert die Vorgänge im Nordirak und deren Relevanz für das deutsche Strafrecht.

Viel spricht dafür, dass IS-Kämpfer an den Jesiden einen Völkermord begangen haben und noch immer begehen.

Im August 2014 rückten die militärisch besser ausgerüsteten IS-Kämpfer Richtung Nordirak vor und vertrieben die meisten Jesiden in das Sindschar – Gebirge, wo ihnen jeder Fluchtweg abgeschnitten wurde. Es heißt, dass 3000 Frauen und Mädchen zuvor, soweit sie von ihren Familien nicht freigekauft werden konnten,  gefangen gehalten wurden. Der Einschluss im Gebirge bedeutete für viele den Tod, da es weder Wasser noch Nahrung gab. Schließlich konnten nach Angaben von Betroffenen zwischen 20.000 und 30.000 Jesiden mittels eines von kurdischen Kämpfern freigehaltenen Korridors nach Syrien und zurück in den Irak fliehen.

Das Volk der Jesiden stammt aus Syrien, dem Iran, dem Irak und der Türkei. Um sich vor Diskriminierung in ihren Heimatländern zu schützen, siedelte sich eine große Gruppe im 17. Jahrhundert nahe der Stadt Mossul und dem Sindschar – Gebirge im Nordirak an. Die Schätzungen über die Zahl der Jesiden variiert zwischen 300.000 und 1,2 Millionen Anhängern. Sie bezeichnen sich selbst als monotheistische Glaubensgruppe, wobei sich ihr Glaube aus mehreren Religionen zusammensetzt. Die IS – Millizionäre sehen die Gruppe der Jesiden als „unbekehrbar“ an und haben deren Ausrottung prophezeit.

Der IS als Tätergemeinschaft

Der IS stellt derzeit keine staatliche Organisation dar. Dennoch kann er auch als aktive Gruppierung  Völkermord verüben. Das ergibt sich daraus, dass der Tatbestand nicht explizit einen Staat als Täter definiert. In der Geschichte wurden einige Beispiele für Völkermord beobachtet, die sich im Zuge eines Bürgerkrieges abgespielt haben. Welche Gruppe zu diesem Zeitpunkt politisch an der Macht war, ist nicht relevant. Das gilt auch heute. Täter im Sinne des § 6 Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) ist diejenige Gruppe, die sich mit Waffengewalt  eine überlegene und offensive Position erkämpft hat und de facto die Herrschaftsgewalt in einem Gebiet ausübt. Im Fall des IS dürfte insbesondere die  Untätigkeit der irakischen Regierung selbst dafür sprechen, den IS zumindest als eine Gruppe mit staatsähnlichen Eigenschaften anzuerkennen.

Die Vertreibung 

Die folgenden Einschätzungen basieren auf dem aktuellen Kenntnisstand der Presse und Betroffenen. Soweit die Beweislage noch nicht geklärt ist, lässt sich Folgendes sagen: § 6 des Völkerstrafgesetzbuches setzt die Absicht des Handelnden voraus, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Der Tatbestand kann durch verschiedene Handlungsweisen verwirklicht werden. Einschlägig ist dabei § 6 Absatz 1 Nr. 3  VStGB. Der IS sieht die Jesiden als eine religiöse Gruppe an, die sich von seinem eigenen Glauben unterscheidet und eine dauerhaft durch gemeinsame Merkmale verbundene Gemeinschaft darstellt. Indem ein Teil der religiösen Minderheit der Jesiden in die Berge getrieben worden ist, wurde er unter Lebensbedingungen gestellt, die geeignet waren, seine körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen. Im Sindschar – Gebirge herrschen an die 45 ° C und es gibt weder Wasser noch sonstige lebenserhaltende Ressourcen. Nahrungsentzug und Vorenthaltung von medizinischer Versorgung werden hierbei unter solchen Lebensbedingungen verstanden, die darauf gerichtet sind, einen langsamen Tod herbeizuführen. Unter den genannten Aspekten kann daher dem IS genau diese Absicht unterstellt werden. Nicht nur eigene Angaben von IS – Kämpfern, sondern auch das Gesamtbild der letzten Monate weisen deutlich auf eine Vernichtungsabsicht hin. Hierbei reicht es auch aus, dass sich diese Absicht nur gegen einen Teil der Jesiden-Gemeinschaft richtete.

Die Verschleppung

Sollte man die Zerstörungsabsicht nicht in der Vertreibung der Jesiden in das Sindschar – Gebirge sehen, so liegt sie doch in jedem Fall in der mutmaßlichen Verschleppung von angeblich 3000 Frauen und Mädchen der Jesiden. Deren Entführung in die Stadt Mossul soll zum Ziel haben, sie weiterzuverkaufen. Was in der Zwischenzeit mit Ihnen geschieht, bleibt unbekannt. Es handelt sich hierbei um Sklavenhandel. Allein diese Entführungen führen möglicherweise bereits zur Erfüllung des Völkermordtatbestandes, da sie zumindest im weiteren Sinne gezielte Maßnahmen zur Geburtenverhinderung darstellen. Die jesidischen Frauen sind nach den Regeln ihrer Glaubensgemeinschaft nicht mehr als fruchtbar anzuerkennen und werden oft ausgestoßen, wenn sie mit einem fremden Mann in Berührung kommen.  Nicht nur diese innergemeinschaftlichen Gesetze führen zur Erfüllung des Tatbestandes. Momentan gibt es erschreckend wenige Berichte von Frauen, die überhaupt zurückkehrten. Insofern kann man davon ausgehen, dass die Wenigsten von ihnen je wieder in ihre Gemeinschaft und zu ihren Familien zurückkommen werden. Die Verschleppung tausender jesidischer Frauen soll allerdings wohl nicht nur der Finanzierung des „heiligen Krieges“ dienen, sondern stellt auch eine gezielte Maßnahme zur Vernichtung dieser Bevölkerungsgruppe dar.

Bedeutung für die deutschen Strafgerichte

Die Prozesse um die Beteiligung am ruandischen Völkermord in Frankfurt am Main führten im Februar 2014 zu der Verurteilung eines ruandischen Bürgermeisters, der maßgeblich an dem Völkermord in der Stadt Muvumba beteiligt war. Er wurde vor einem deutschen Gericht für seine Taten zur Verantwortung gezogen. Die Berichte der letzten Wochen zeigen zudem durch aus Deutschland stammende IS-Kämpfer auch eine Verbindung in die Bundesrepublik Deutschland. Es wird sich somit bei geklärter Beweislage die Frage stellen, wie die Vertreibung – auch vieler anderer beispielsweise christlicher Minderheiten im Nordirak – völkerrechtlich einzuschätzen ist. Insbesondere die heutige Bewertung von Sklavenhandel und deren Verbindung zum Völkermordtatbestand dürfte hierbei wieder in den Vordergrund rücken und die Strafgerichte beschäftigen. Auch ist zu erwarten, dass Angehörige des IS, die nach Deutschland zurückkehren, auf der Grundlage des VStGB vor Gericht gestellt werden können. Dann werden sich all diese Fragen, wie im Februar 2014, wieder stellen. Das bedeutet nicht nur eine große Herausforderung für die Strafgerichte – es könnte auch für den völkerrechtlichen Tatbestand von großer Bedeutung sein.

Was Deutschland tun kann

Anfang August appelliert das Oberhaupt der irakischen Christen, der chaldäische Patriarch Louis Sako, an die Weltgemeinschaft, einen Völkermord zu verhindern. Trotz nicht eindeutiger Sachlage in der Region, kann mit Sicherheit festgestellt werden, dass den Jesiden in dieser Region durch die Handlungen des IS großes Unrecht geschieht.

Die Situation im Nordirak sollte umfassend, auch strafrechtlich, aufgeklärt werden. Hierzu braucht es Deutschlands Unterstützung. Genocide Alert begrüßt hierhingehend die Tatsache, dass IS-Kämpfer sich in Deutschland als Mitglieder einer terroristischen Organisation Verantworten müssen.

Autorin: Emilia von Mettenheim, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Genocide Alert