Bei Ausgrabungen werden immer wieder die Spuren vorzeitlicher Massaker entdeckt, wie hier etwa im prähistorischen Massengrab von Halberstadt (ca. 5000 vor Christus, die Skelette wurden von den Forschern farblich hervorgehoben). Die Archäologie zeigt damit, dass organisierte Gewalt schon lange zur Menschheitsgeschichte gehört.
(© CC-BY-4.0 Wikimedia Commons | https://www.nature.com/articles/s41467-018-04773-w#Fig1)

Einleitung: Wissenschaft des Völkermords

Bei der juristischen Aufarbeitung von Genoziden und anderen schwersten Verbrechen wurden in den vergangenen Jahrzehnten Fortschritte gemacht, etwa durch die Etablierung internationaler Straftribunale.  Trotzdem zeigt sich, dass die juristische Aufarbeitung, Ächtung und Bestrafung von Völkermorden oft nicht ausreichen, um zukünftige Massenverbrechen durch Abschreckung zu verhindern. Neben der rechtlichen Einordnung des Genozids gibt es allerdings noch eine Vielzahl an weniger bekannten fachlichen Perspektiven auf Ursachen, Entstehung und Ablauf von Völkermorden. Wir wollen einige davon im Rahmen dieses Projektes vorstellen.

Wenn die archäologische Forschung nicht irrt, dann gibt es völkermordähnliche Verbrechen seit mindestens 7.000 Jahren: Im österreichischen Schletz fanden Wissenschaftler Überreste von etwa zweihundert Dorfbewohnern, die offenbar nach der Attacke einer anderen Gruppe um 5.000 v. Chr. systematisch ermordet worden waren (Teschler-Nicola u.a. 1999; Wild u.a. 2004). Frühgeschichtliche Massenverbrechen haben sogar ihren Eingang in Schriftquellen gefunden: So brüsten sich etwa in Homers Ilias (ca. 8. Jh. v. Chr.) die griechischen Helden mit Vergewaltigungen und Hinrichtungen ihrer trojanischen Feinde (Vierter Gesang, Verse 237 ff.), und sogar in der Bibel finden sich entsprechende Hinweise, wenn etwa das Volk der Kanaaniter mittels völkermordartiger Kriegstechniken ausgelöscht werden soll (Deuteronomium, 20:10–17). In historischen Zeiten wird die vollständige Auslöschung eines besiegten Volkes von griechischen und römischen Historikern belegt, etwa im peloponnesischen (Zerstörung von Melos, 5. Jh. v. Chr.) oder in den punischen Kriegen (Zerstörung von Karthago, 3. Jh. v. Chr.). Auch in der jüngeren Geschichte treffen wir Massenverbrechen immer wieder an, über die Kreuzzüge des Mittelalters, die religiöse Verfolgung der Neuzeit bis hin zu den Kolonialverbrechen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Völkermord: Ein Verbrechen ohne Namen?

Obwohl Massenverbrechen damit wesentlich älter sind als die Erfindung der Schrift und immer wieder aus ethnischen, religiösen, ideologischen oder wirtschaftlichen Motiven begangen wurden, ist es erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit ihrer Erforschung lange Zeit geschenkt wurde. Im Kontext von Kriegen galten sie als Mittel der Eroberung, in Zeiten (zwischenstaatlichen) Friedens wurden sie als eine souveräne Angelegenheit des entsprechenden Staates betrachtet. Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es nicht einmal eine einheitliche Terminologie für Massenverbrechen: Winston Churchill etwa sprach in einer Rede vom 24. August 1941 von “exterminat[ions]” und “methodical, merciless butchery” der deutschen Polizeitruppen in der UdSSR. Allerdings war dies für ihn ein “crime without a name”, ein Verbrechen ohne Namen, da es weder eine einheitliche Definition noch anerkannte Begriffe für Genozide gab. Im Kontext des Zweiten Weltkrieges wurde auch von „Denationalisierung“ eines besetzten Landes gesprochen, also der Vernichtung eines bestehenden Volkes und seiner Ersetzung durch eine andere Nation, z. B. durch „Germanisierung“ (Lemkin 1944, S. 80). Sogar das Statut des Internationalen Militärgerichtshofes von Nürnberg vom 8. August 1945 enthielt keinen Straftatbestand des „Völkermords“ als solchen. Stattdessen wurden “Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation und andere unmenschliche Handlungen, die vor oder während des Krieges an der Zivilbevölkerung begangen wurden, oder Verfolgungen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen” in Art. 6 lit. c des Statuts alle unter „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ rubriziert.

Diese Situation wurde fundamental durch den polnischen Juristen Raphael Lemkin geändert, der 1944 sein bahnbrechendes Buch “Axis Rule in Occupied Europe” veröffentlichte. Lemkin erkannte, dass der deutsche Vernichtungskrieg nicht nur auf Besatzung und Ausbeutung anderer Länder abzielte, sondern auf eine vollständige Vernichtung ihrer nationalen Kulturen, ja die physische und psychologische Zerstörung ganzer Völker mit industriellen Methoden. Sicherlich verstieß dieses Vorgehen gegen das bereits zu dieser Zeit bestehende Kriegsvölkerrecht, allerdings war die Vernichtungsabsicht für Hitler so zentral, dass Lemkin die deutsche Kriegsführung als eine gänzlich neue Kategorie von Verbrechen bezeichnen wollte. Er führte deshalb den Begriff „genocide“ (aus altgriechisch génos “Geschlecht, Stamm” und lateinisch caedo “ich töte, morde”) ein, den er noch wie ein völlig neues Wort in Anführungsstriche setzte (Lemkin 1944, S. 79). Zurecht wird Lemkin übrigens auch als „Vater der Genozidkonvention“ von 1948 bezeichnet, da er als Erster die Einrichtung eines Vertragswerkes vorschlug, sodass “attacks upon national, religious and ethnic groups should be made crimes under international law”, und später maßgeblich an der Ausarbeitung der Konvention beteiligt war (ebd., S. xiii).

Neues Denken: Die Entstehung der „Genocide Studies“

Trotz der Neuartigkeit seines Buches aber bleiben die Vorschläge für “redress”, also Wiedergutmachung, und Ächtung von Völkermorden sehr juristisch orientiert. Zu Lemkins Zeit war allein die Idee, Völkermorde international zu ächten und durch Straftribunale ahnden zu lassen, revolutionär. Das weitere 20. und auch das 21. Jahrhundert haben jedoch gezeigt, dass eine strafrechtliche Verfolgung nicht ausreichend ist. Natürlich entspricht es unserem intuitiven Gerechtigkeitsempfinden, dass für ein Verbrechen ausgleichende Gerechtigkeit hergestellt wird. Trotzdem dürfen wir im Kontext der Massenverbrechen nicht vergessen, dass Bestrafung nicht allein der Wiedergutmachung, sondern auch der Verhinderung zukünftiger Massenverbrechen durch Abschreckung dienen sollte (so spricht schon Artikel 1 der Genozidkonvention von der Notwendigkeit, Genozide zu verhüten und zu bestrafen, wobei die Verhinderung bezeichnenderweise zuerst genannt wird). Hier scheint die juristische Aufarbeitung vergangenen Unrechts allerdings bisher nicht auszureichen, um zukünftige Massenverbrechen zu verhindern. Tribunale kommen mitunter erst mit zeitlicher Verspätung zu den Verbrechen zustande oder brauchen zu lange für die Urteilsfindung. Oft besitzen sie unzureichende Autorität und Unterstützung, sind in ihrer Gerichtsbarkeit eingeschränkt, das Engagement der internationalen Gemeinschaft ist ungenügend oder andere Staaten schützen ihre (ehemaligen) Verbündeten vor der Auslieferung.

Insofern ist es fraglich, ob die Abschreckung durch Strafverfolgung wirklich der einzige (oder sogar der wirkmächtigste) Weg ist, um Genozide zu verhindern. So wichtig und notwendig Gerechtigkeit und die Ächtung von Verbrechen sein mögen, so wünschenswert wäre es, ihre Ursachen bereits im Vorfeld zu verstehen und Risiken frühestmöglich zu erkennen. Zwar widmen sich schon seit den 1960er Jahren die Conflict Studies der Erforschung kriegerischer Auseinandersetzungen. Dabei haben sie vor allem durch die quantitative Analyse sehr umfangreicher Datensätze (etwa im „Correlates of War“-Projekt) viel zu unserem Wissen über die Entstehung bewaffneter Konflikte beigetragen. Hierbei bestanden zwar einige Berührungspunkte mit der Erforschung von Massenverbrechen, die oft im Kontext militärischer Konflikte stattfinden. Trotzdem gab es lange Zeit keine dem Genozid an sich gewidmete akademische Forschung – vermutlich entgegen der Idee von Lemkin, dass der Genozid als Sonderkategorie schwerster Verbrechen behandelt werden sollte.

Um diese Lücke zu schließen, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten unter Beteiligung verschiedener Fachrichtungen (v.a. der Rechts- und der Politikwissenschaft) das Forschungsfeld der “Genocide Studies” entwickelt. Einer der bekanntesten Vertreter dieses Feldes dürfte Gregory Stanton sein, der 1996 ein allgemeines 8-Stufen-Modell der Entwicklung von Genoziden vorschlug. Später auf zehn Stufen erweitert, stellt es den Ablauf eines typisierten Genozids vor, den man, wenn die frühen Phasen rechtzeitig identifiziert werden, auf der Grundlage dieser Identifikation gegebenenfalls verhindern kann (eine Übersicht findet sich auf der Webseite seiner Organisation Genocide Watch, Stanton 1996). Aber auch andere Disziplinen wie die Geschichtswissenschaft, Archäologie, Volkswirtschaftslehre, Anthropologie, Psychologie und sogar, in Form der Spieltheorie, die Mathematik können Beiträge zur Erforschung und Prävention von Massenverbrechen leisten.

Die Rolle der Wissenschaft: Versprechen und Realität

Gleichzeitig ist das Verhältnis von Wissenschaft und Völkermorden oft komplex: Wissenschaft kann nicht nur zur Verhinderung von Genoziden beitragen, sondern wird und wurde oft ebenso für die Durchführung von Verbrechen missbraucht. Wenn uns Archäologie wie oben angedeutet hilft, die Ursprünge von Völkermorden zu verstehen, dann hat sie ebenso bereits für europäische Kolonialherren mit Fälschung und verdrehten Fakten dazu gedient, den arischen “Herrenmenschen” nachzuweisen und die Minderwertigkeit anderer “Rassen” zu “belegen” – schlecht geführte Wissenschaft kann so zur Legitimierung von Massenverbrechen genutzt werden. Ideologisch kontaminierte Pseudowissenschaftlichkeit ist mitunter auch direkt für Verbrechen verantwortlich: Die Hungerkatastrophen in der Sowjetunion, die teilweise als völkermordartig eingeordnet werden, wurden mitunter dadurch verursacht, dass Stalins “Lieblingsbiologe” Trofim Lyssenko die moderne Genetik ablehnte und den Bauern stattdessen seine erdachten “Wundermittel” zur Getreideproduktion aufzwingen wollte (Kean 2017). Noch weitaus verstörender aber sind die Fälle, in denen sich formal “korrekte” Wissenschaft korrumpieren lässt und zum Werkzeug menschenfeindlicher Politik wird. Die Nürnberger Ärzte-, Juristen- und der Wilhelmstraßen-Prozess zeugen davon, wie wichtig Experten in allen Bereichen der deutschen Vernichtungsanstrengungen waren.

Ziel unseres Projekts ist es, in diesem Spannungsfeld das Verhältnis einzelner Wissenschaften zum Problemfeld Völkermord zu beleuchten. Wissenschaft kann zu Genoziden beitragen, aber sie hat ebenso das Potential zur Erforschung und Verhinderung von Massenverbrechen. Wir wollen in unseren Beiträgen einige dieser Beziehungen vorstellen und aufzeigen, wie “gute” Wissenschaft unser Verständnis des Phänomens Völkermord erweitern kann. Unser Ziel ist es nicht, alle Fächer oder die vielen verschiedenen Ideen eines einzelnen Faches erschöpfend darzulegen. Es geht uns darum, Interesse zu wecken und zur Diskussion anzuregen. Wir glauben, dass die Völkermordforschung zu besser informierten politischen Entscheidungen beitragen kann und daher eine breitere öffentliche Bekanntheit verdient.

Literatur

Kean, Sam (2017). ‘The Soviet Era’s Deadliest Scientist Is Regaining Popularity in Russia’. The Atlantic. Abgerufen am 25.02.2022 unter: https://www.theatlantic.com/science/archive/2017/12/trofim-lysenko-soviet-union-russia/548786/.

Lemkin, R. (1944). Axis rule in occupied Europe: Laws of occupation, analysis of government, proposals for redress. Washington D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, Division of International Law.

Stanton, G. (1996). The Ten Stages of Genocide. Genocide Watch. Abgerufen am 25.02.2022 unter: https://www.genocidewatch.com/tenstages.

Teschler-Nicola, M., Gerold, F., Bujatti-Narbeshuber, M., Prohaska, T., Latkoczy, C., Stingeder, G., & Watkins, M. (1999). Evidence of genocide 7000 BP – Neolithic paradigm and geo-climatic reality. Collegium antropologicum, 23(2), 437–450.

Wild, M. E., Stadler, P., Häußer, A., Kutschera, W., Steier, P., Teschler-Nicola, M., Windl, H. J. (2004). Neolithic Massacres: Local Skirmishes or General Warfare in Europe? Radiocarbon, 46(1), 377–385.

Über dieses Projekt

Ziel dieses Projektes ist es, teilweise abstrakte Theorien und fachliche Perspektiven auf Ursachen, Entstehung und Ablauf von Völkermorden einer möglichst breiten, interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Redaktionelle Anmerkung: Um den Zugang für alle Interessierten zu erleichtern, hat sich das Projektteam entschieden, auf geschlechtergerechte Sprache im Sinne der Lesbarkeit zu verzichten. Selbstverständlich sind immer alle Geschlechter und sexuellen Identitäten gemeint.

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