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Paragraph 130 StGB: Das Leugnen aller Massenverbrechen wird strafbar

von Noémi Blome und Mette Steffen

Sollte es strafbar sein, vergangene Kriegsverbrechen oder Völkermorde zu leugnen oder zu verharmlosen? Was nach einer rhetorischen Frage klingt, hat zuletzt aufgrund einer Gesetzesänderung in Deutschland zu teils hitzigen Debatten geführt. Während es hierzulande weithin unumstritten ist, dass die Verharmlosung, Leugnung und/oder Billigung des Holocausts nicht nur moralisch verwerflich, sondern zu Recht strafbar ist, trifft das Gleiche nicht auf andere Massenverbrechen zu. Bisher drohte etwa keine strafrechtliche Verfolgung bei Leugnung oder Verharmlosung  deutscher Kolonialverbrechen, wie des Völkermords an den Herrero und Nama. Eine Gesetzesänderung aus dem Oktober 2022, die wenig öffentliche Aufmerksamkeit erhielt, hat nun genau das geändert: Sobald die Änderung in Kraft tritt, kann auch das Leugnen von Massenverbrechen, die außerhalb Deutschlands stattfinden, zur Anzeige führen.  

Trotz des juristischen Jargons, der große Teile der Debatte dominiert, ist die Gesetzesänderung keinesfalls nur für Jurist:innen interessant. Vielmehr geht es um Fragen, die alle betreffen : Wie kann sich ein Staat vor Geschichtsrevisionismus schützen? Gibt es einen Punkt, an dem das Regulieren von Erinnerung problematisch wird? Welche Verpflichtung hat ein Staat wie Deutschland, gegen die Leugnung von Massenverbrechen per se, und eben nicht nur die des Holocausts, rechtlich vorzugehen?  

Dieser Artikel erklärt kurz,  was genau die Gesetzesänderung beinhaltet, welche größeren Fragen sie aufwirft, und warum sie sowohl aus dem  rechten als auch  linken politischen Lager scharf kritisiert wird.  

Warum genau jetzt? 

Der Anlass für die Gesetzesänderung ist nicht der russische Angriffskrieg, wie oft vermutet wird, sondern ein EU-Beschluss zur “strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ aus dem Jahre 2008, der verlangt, dass die Mitgliedstaaten alle richterlich festgestellten Massenverbrechen vor Leugnung schützen. Deutschland kommt dieser europarechtlichen Verpflichtung nun nach 14 Jahren nach. 

Dieser Beschluss sei in Deutschland bisher nur unzureichend umgesetzt worden, weshalb die EU-Kommission im Dezember 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleitete. Aufgrund dieses laufenden Verfahrens wird nun eine schnelle Verabschiedung der Gesetzesänderung gewünscht. Die  Kommission hatte dabei insbesondere die unvollständige Umsetzung der Punkte des öffentlichen Leugnens und der sogenannten gröblichen Verharmlosung gerügt. 

Der bisherige Ablauf der Gesetzesänderung in Deutschland sah wie folgt aus: Zunächst sandte Bundesjustizminister Buschmann (FDP) den Gesetzesvorschlag als nicht öffentliche Formulierungshilfe an den Rechtsausschuss. Dieser legte den Entwurf im Anschluss als Anhang an ein Reformgesetz zum Bundeszentralregister dem Bundestag zur Abstimmung vor. Kritisiert wurde an diesem sogenannten Omnibusverfahren, bei dem mehrere Änderungen ohne konkreten inhaltlichen Zusammenhang zusammengefasst werden, dass die Änderung dabei für Außenstehende weniger gut nachzuvollziehen sei und insgesamt intransparenter wirke. Im Bundestag stimmten die Ampelfraktionen und die Union dem Gesetzesvorschlag am 20. Oktober 2022 gegen 23 Uhr zu, woraufhin dieser als vom Bundestag verabschiedetes Gesetz an den Bundesrat weitergeleitet wurde. Aus Sicht der Abgeordneten wurde mit der Verabschiedung des Gesetzes lediglich eine EU-Vorgabe umgesetzt, was den geringen Diskussionsbedarf erklären könnte. 

Zum 25. November 2022 stimmte noch endgültig der Bundesrat dem Entwurf zu. 

Konkret bedeutet die Gesetzesänderung eine Ergänzung des Paragraphen 130 Strafgesetzbuch zur “Volksverhetzung” um einen Absatz 5, welcher den bisherigen Paragraphen inhaltlich um folgende Punkte erweitert: Strafbar sein soll die öffentliche Billigung, Leugnung und gröbliche Verharmlosung von Völkermorden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die sich gegen Personen richten, die einer nationalen, rassischen, religiösen oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmten Gruppe angehören. Um als strafbare Handlung im Sinne des StGB zu gelten, muss die Tat in einer Versammlung oder öffentlich erfolgen, und dies auf eine Weise, die geeignet ist, Hass und Gewalt aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören. Das Strafmaß umfasst dabei Freiheitstrafen von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe. 

130 Abs.5 StGB: Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Handlung der in den §§ 6 bis 12 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art gegen eine der in Absatz 1 Nummer 1 bezeichneten Personenmehrheiten oder gegen einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer dieser Personenmehrheiten öffentlich oder in einer Versammlung in einer Weise billigt, leugnet oder gröblich verharmlost, die geeignet ist, zu Hass oder Gewalt gegen eine solche Person oder Personenmehrheit aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören.“

Ist die Umsetzung realisierbar?  

Rechtswissenschaftler:innen argumentieren zudem, dass die neue deutsche Gesetzesänderung “sehr weitgehend” sei und über den EU-Beschluss in zwei Punkten hinausgehe: Zum Einen lässt der EU-Beschluss zu, dass Mitgliedsstaaten die Billigung, Leugnung oder Verharmlosung nur solcher Taten kriminalisieren, die durch eines ihrer nationalen Gerichte und/oder durch ein internationales Gericht festgestellt wurden. Deutschland hat von dieser Option keinen Gebrauch gemacht. Für die Strafverfolgung wird es zukünftig ausreichen, dass die Staatsanwaltschaft bestimmte Ereignisse als Massenverbrechen im Sinne des Gesetzes einstuft und daraufhin die gröbliche Leugnung dieser Verbrechen unter Strafe stellt.  Ebenfalls liegt die Einschätzung, ob eine Äußerung geeignet sei den öffentlichen Frieden zu stören und zu Hass und Gewalt anzustacheln bei der Staatsanwaltschaft. Dass die Änderung über den EU-Beschluss hinausgeht, könnte in der Umsetzung problematisch sein. Die Gesetzesänderung stellt die Staatsanwaltschaft, die Amts- und Landgerichte in ganz Deutschland nämlich vor folgende Aufgabe: Sie werden im Einzelfall entscheiden müssen, ob bestimmte Handlungen einen Völkermord, ein Verbrechen gegen die Menschen oder Kriegsverbrechen darstellen, um in einem nächsten Schritt überhaupt über die Frage der Leugnung, Billigung oder Verharmlosung entscheiden zu können.  

Insgesamt scheint sich dadurch nicht primär ein verfassungsrechtliches, wohl aber ein mögliches anwendungstechnisches Problem zu stellen: “Gerade weil es aber häufig an gerichtsfesten Tatsachenfestellungen fehlen wird, dürfte es deutschen Strafrichtern schwerfallen, während eines andauernden Kriegsgeschehens Feststellungen zu treffen, die eine Strafbarkeit nach § 130 Abs. 5 StGB begründen” meint Prof. Michael Kubiciel von der Universität Augsburg. Es könnte daher sein, dass eine Beurteilung während eines andauernden Konfliktes nicht klar zu treffen ist und die Anwendung des Paragraphen eigentlich nur bei abgeschlossenen Konflikten greifen kann. Aber nicht nur in andauernden Konflikten bleibt es bisweilen schwierig, die Begehung von Massenverbrechen festzustellen; auch in vergangenen Konflikten bereitet eine genaue Bestimmung eine nicht unerhebliche Aufgabe. 

Zum Anderen bezog sich der EU-Beschluss nur auf öffentliche Äußerungen, der deutsche Entwurf umfasst auch nicht-öffentliche Äußerungen. Begründet wird dies mit dem Paragraphen 140 Nr. 2 StGB, der die Belohnung und Billigung von Straftaten behandelt. Laut der Beschlussempfehlung würde es zu einem Widerspruch führen, wenn der neue Absatz 5 insgesamt weniger weit gefasst wäre, als der §140 StGB, da dieser die Strafbarkeit der Billigung von Massenverbrechen in Verbindung mit §126 Abs. 1 Nr. 3 StGB regelt. Diese sind auch strafbar, wenn sie innerhalb einer Versammlung stattfinden. Systematisch widerspräche es ebenfalls dem StGB, wenn nicht öffentliche Äußerungen vom Absatz 5 nicht miterfasst wären. 

 

Welche Fragen wirft der neue Paragraph 130 auf? 

Einer der Kritikpunkte der Gesetzesänderung ist, dass sie zum unfreiwilligen Vorbild zukünftiger problematischer “Erinnerungsgesetze” werden könnte, wie es sie bereits in Ungarn oder Polen gibt. Da es bei dem Gesetz im weitesten Sinne darum gehe, Erinnerung zu regulieren, sei dies eine “slippery slope”: Einmal angefangen, sei es schwer, eine solche Dynamik aufzuhalten, und der neue deutsche Paragraph 130 könne von anderen Ländern im Zweifel genutzt werden, um fragwürdige Gesetzesinitiativen und Geschichtsrevisionismus zu rechtfertigen.  

Aber ist es wirklich fair, dieses Gesetz mit solch problematischen “Erinnerungsgesetzen” in Verbindung zu bringen? Zugegebenermaßen regulieren all diese Gesetze, was über vergangene Ereignisse gesagt werden darf. Der elementare Unterschied ist jedoch, woran sich dies misst. Bei den Gesetzen in Polen oder Ungarn geht es darum, jegliche Kritik am (von offizieller Stelle festgelegten) historischen Narrativ zu bestrafen. Ganz anders sieht die Lage bei der deutschen Gesetzesänderung aus: Statt jegliche Debatte zu historischen Gegebenheiten unterdrücken zu wollen, geht es darum, das Leugnen nachgewiesener historischer Begebenheiten zu ahnden. Es wird also keine konkrete politische Agenda durch Geschichtsrevisionismus verfolgt, sondern vielmehr versucht, nachgewiesener Verbrechen angemessen zu gedenken. Mit anderen Worten geht es eben nicht darum, Teile der Vergangenheit bewusst zu verbergen. Die Änderung des Paragraph 130 zielt auf das genaue Gegenteil ab: das bewusste Erinnern von gewaltsamen Ereignissen der (eigenen) Vergangenheit.

Dass in Deutschland bisher rechtlich klar zwischen dem Holocaust und anderen Massenverbrechen unterschieden wurde, hat eine weitere größere Debatte neu entfacht: die der Singularität des Holocausts. Und dies, obwohl die Gesetzesänderung selbst die Einzigartigkeit des Holocausts in keiner Weise in Frage stellt, sondern vielmehr bestätigt: Auch nach der Änderung werden die Hürden niedriger, und Strafen höher sein, wenn es um die Strafverfolgung von Äußerungen zum Holocaust geht.  

Dennoch ist die Ausweitung des Gesetzes auf alle Massenverbrechen für manche problematisch: Sie sehen das Zusammenfassen des Holocausts mit anderen Genoziden oder Kriegsverbrechen als etwas an, das die Singularität und das Ausmaß des Holocausts in Frage stellt und daher illegitim ist.   

Insbesondere postkoloniale Wissenschaftler:innen haben sich jedoch vermehrt dafür ausgesprochen, dass auch Massenverbrechen abseits des Holocausts, wie etwa deutsche Kolonialverbrechen in Deutschland stärker anerkannt und thematisiert werden – ohne dass dies die Erinnerung an den Holocaust in irgendeiner Weise verdrängen soll. Vor diesem Hintergrund wird die Gesetzesänderung als willkommenes Zeichen einer Bundesrepublik gesehen, die versucht, ihrer internationalen Verantwortung, gerecht(er) zu werden – und ihre eigene historische Vergangenheit eben nicht nur zum Anlass nimmt, an den Holocaust zu erinnern, sondern sich generell gegen Massengewalt und deren Leugnung einzusetzen.  

 

Und jetzt? 

Insgesamt setzt die Gesetzesänderung ein positives Zeichen: Deutschland hat nicht nur vor, sich mit den verschiedenen dunklen Kapiteln der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, sondern sieht sich ebenfalls in der Pflicht, Massenverbrechen per se anzuerkennen und deren Leugnung, Verharmlosung und Billigung zu bestrafen. Ähnlich wie die deutsche Nutzung des Weltrechtprinzips scheint dies auf eine neu wahrgenommene deutsche Bereitschaft hinzudeuten, sich international zu engagieren und, besonders vor dem Hintergrund der eigenen Vergangenheit, (straf-)rechtlich aktiv zu werden. 

Entscheidend wird nun die konkrete Umsetzung sein, und hier scheint durchaus Vorsicht geboten: Dass die deutsche Gesetzesänderung über die EU-Richtlinie hinausgeht, indem sie etwa keine gerichtliche Feststellung der Massenverbrechen verlangt, könnte zu Schwierigkeiten führen. Eine eher restriktive und einzelfallorientierte Anwendung des Paragraphen, die sich auf gerichtlich festgestellte Verbrechen fokussiert, könnte diesen Problemen, und der teils angebrachten Kritik am Paragraphen, konstruktiv entgegenwirken. Insgesamt bleibt die Rechtsprechung zu diesem Absatz im deutschen Gesetzbuch jedoch abzuwarten und zu beobachten. Eine Einschränkung auf gerichtlich festgestellte Taten durch den Gesetzgeber bleibt auch weiterhin möglich. 

So oder so hätte diese Gesetzesänderung, und die Thematik im Allgemeinen, von mehr öffentlicher Aufmerksamkeit und gesellschaftlicher Diskussion profitiert. Sieht man diese Änderung als Versuch, sich vermehrt gegen Diskriminierung und Gewalt einzusetzen, hätte es zweifellos nicht geschadet, die breite Bevölkerung mehr in diesen Prozess einzubeziehen.