Massenverbrechen besitzen häufig ökonomische Aspekte. Zu Beginn des Nationalsozialismus etwa wurden jüdischen Deutschen Arbeitserlaubnisse entzogen oder gezielt ihre Geschäfte boykottiert, um ihre Lebensgrundlage zu zerstören. 

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Völkermord und Volkswirtschaft – Ökonomische Perspektiven auf Massenverbrechen 

Häufig haben Völkermorde auch eine wirtschaftliche Komponente, folgen ökonomischen Anreizen oder werden mit diesen gerechtfertigt. Ebenso werden wirtschaftliche Mechanismen leider oft missbraucht, um Massenverbrechen anzustiften und zu steuern. Seit einigen Jahrzehnten versucht eine kleine Strömung innerhalb der Volkswirtschaftslehre, diese ökonomischen Dynamiken hinter Genoziden tiefer zu analysieren. Wie kann uns diese Forschung beim Verständnis von Völkermorden helfen? 

Viele Massenverbrechen besitzen eine wirtschaftliche Dimension. Die Nationalsozialisten wollten jüdische Menschen nicht nur töten, sondern „durch Arbeit vernichten“, um durch Ausbeutung Ressourcen zu gewinnen. Gleichzeitig können ökonomische Systeme missbraucht werden, um bestimmten Bevölkerungsgruppen essentielle Güter wie Lebensmittel vorzuenthalten: So verursachte Stalins Planwirtschaft unter anderem den „Holodomor“ von 1932/33, eine oft als Genozid eingeordnete Hungersnot in der Ukraine. Andere Völkermorde wiederum wurden offen für ökonomische Ziele begangen: Der chinesischen Kulturrevolution oder den Roten Khmer in Kambodscha ging es nicht (nur) um die Vernichtung ethnischer Minderheiten, sondern auch um die Befreiung des Proletariats von der vermeintlich ausbeuterischen Bourgeoisie. Manchmal bereichern sich wirtschaftliche Akteure auch an Genoziden, wie die Nürnberger Folgeprozesse gegen Verantwortliche in den Konzernen IG Farben, Krupp und Flick eindrücklich belegen. 

Obwohl sich also durchaus wirtschaftliche Aspekte von Massenverbrechen finden lassen, denken wir erstaunlich selten über Völkermorde in ökonomischen Modellen nach. Intuitiv erscheinen uns die mathematischen volkswirtschaftlichen Theorien von egoistisch zweckrationalen Agenten nicht zur fanatischen Grausamkeit von Massenverbrechen zu passen: Mit Völkermorden verbinden wir grausame Diktaturen, Ideologien und abgestumpfte Täter, die „nur Befehle ausführen“. Was wir bei dieser Vorstellung allerdings oft vergessen, ist, dass Völkermorde nicht einfach „passieren“, sondern geplant werden. Genozide ereignen sich nicht im volkswirtschaftlichen Vakuum: Sie haben (oft wirtschaftliche oder politökonomische) Wurzeln und wirken sich auf die Wirtschaft eines Landes aus. 

Um diesen Verflechtungen theoretisch zu beschreiben, gibt es in der Volkswirtschaftslehre vermehrt eigene Theorien, die spezifisch auf „economics of genocide“ zugeschnitten sind und mithilfe ökonomischer Modelle die Motive und Dynamiken hinter Genoziden verstehen wollen. Obwohl dieser Blickwinkel einige interessante neue Perspektiven eröffnet, handelt es sich bei der ökonomischen Genozidforschung aber noch immer um ein eher wenig bekanntes Randgebiet. Zwar gibt es bereits einen etablierten Zweig der VWL namens „conflict economics“, der sich mit ökonomischen Aspekten bewaffneter Konflikte auseinandersetzt. Die direkte Frage nach Völkermorden als spezifischem Problem wurde von der ökonomischen Literatur aber oft vernachlässigt. Einige Forscher sprechen deshalb von einer „genocide gap”, einer „Völkermordlücke“, innerhalb der ökonomischen Forschung (Anderton 2014). Erst in den letzten Jahrzehnten scheint es hier zu einem Umdenken gekommen zu sein. 

Ein sehr kurzer historischer Abriss 

Obwohl sich die ökonomische Forschung selbst also erst seit vergleichsweise kurzer Zeit mit Genoziden beschäftigt, wurde die Bedeutung wirtschaftlicher Aspekte von Völkermorden in der Wissenschaft schon sehr früh erkannt. Bereits der “Vater der Genozidforschung” Rafael Lemkin (1944, S. 85) hob in seinem revolutionären Buch Axis Rule in Occupied Europe hervor, dass wirtschaftliche Faktoren für den Holocaust wichtig waren. Einerseits bemerkte Lemkin, dass das Deutsche Reich andere Nationen nicht nur physisch, sondern auch finanziell besetzt habe, wie etwa durch Einrichtung von Parallelwährungen, Raub von Bankreserven und die Überbewertung der Reichsmark. Andererseits, und hierin beschreibt Lemkin die Neuartigkeit des Holocaust im Vergleich zu vorherigen Massenverbrechen, nutzte die deutsche Verwaltung auch gezielt Methoden zur ökonomischen Vernichtung bestimmter Volksgruppen, die als Zwangsarbeitende ausgebeutet oder deren Lebensgrundlagen geraubt wurden. Obwohl Lemkin mit dieser akribischen Dokumentationsarbeit als einer der Ersten die Wichtigkeit wirtschaftlicher Aspekte für Massenverbrechen beschrieb, geht er in seinem Werk nicht auf größere Dimensionen volkswirtschaftlichen Denkens ein: Was nämlich sind die ökonomischen Faktoren und Mechanismen, die Genozide überhaupt ermöglichen?  

In der Tat klaffte hier lange Zeit eine theoretische und empirische Forschungslücke. Die Hauptaufgabe der Volkswirtschaftslehre lag und liegt schwerpunktmäßig in der Beschreibung volkswirtschaftlicher  Phänomene. Das ist aus zwei Gründen bedauerlich: Erstens interagieren Wirtschaft und Völkermord. Regierungen können z. B. aus wirtschaftlichen Motiven Massenverbrechen begehen oder ökonomische Anreize ausnutzen, um Opfer und Täter in bestimmte Verhaltensmuster zu drängen. Ebenso wirken sich Völkermorde auf die Wirtschaft eines Landes aus, wenn Ressourcen von anderen staatlichen Aufgaben abgezogen und für Massenverbrechen verwendet werden Anderton und Brauer (2016, S. 5 ff.). 

Zweitens verfügt die Volkswirtschaftslehre über ein breites Instrumentarium an Ideen und Perspektiven, mit denen sich soziale Handlungen, auch Genozide, erforschen lassen.1 Einer der Ersten, der ökonomische Theorien auf nicht-ökonomische Probleme anwandte, war der spätere Nobelpreisträger Gary Becker. In einem Aufsatz aus den 1960ern argumentierte er, dass Personen, die (normale) Verbrechen begehen, nicht zwangsläufig „krank“ oder „anders“ als normale Menschen sein müssen. Im Gegenteil, Kriminelle könnten einfach besonders risikofreudige Personen sein und aus rationalen, durch mathematische Modelle darstellbaren Motiven Verbrechen begehen (Becker 1968). Auch wenn sich diese Pionierarbeit noch nicht mit Massenverbrechen befasste, zeigte sie dennoch, dass menschliches Verhalten oft ein Ergebnis der Umgebung darstellt und dass Kriminelle nicht per se “krank” oder “asozial” sein müssen. Ließe sich mittels wirtschaftlicher Modelle dann nicht auch besser verstehen, wie „ganz normale Männer“ (Christopher Browning) zu Völkermördern werden können? 

Knappheit und Zielkonflikte 

Es gibt eine Reihe an methodischen und formalen Differenzen zwischen Ökonomie und anderen Sozialwissenschaften. Im Kern unterscheidet sich die Volkswirtschaftslehre von anderen Disziplinen dadurch, dass sie sehr viele Probleme auf „Knappheit“ zurückführt.2 Knappheit meint, dass in der Realität fast immer weniger von einer bestimmten Ressource (Zeit, Geld, Waren etc.) vorhanden ist, als es ideal wäre. Im Völkermord-Kontext können das etwa knappe Rohstoffe sein, die sich verschiedene ethnische Gruppen teilen müssen. Um ein stark vereinfachtes Beispiel im Kontext von Massenverbrechen zu geben: Wenn das Ziel einer (wohlwollenden) Regierung z.B. lautet, Konflikte in ihrem Land zu verhindern, dann muss sie sich etwa entscheiden, ob sie eher Geld für präventive Bildungsmaßnahmen oder zusätzliche Sicherheitskräfte ausgibt. Da die Regierung dasselbe Geld nicht für zwei Dinge gleichzeitig ausgeben kann, sollte sie ökonomisch betrachtet herausfinden, in welcher Mischung beide Maßnahmen am effektivsten wirken, und dann ihre Mittel entsprechend nutzen.   

Dieses intuitive Verhalten wird von Volkswirten als eine Optimierung unter Bedingungen bezeichnet. Als „Bedingung“ versteht man etwa, dass die exemplarische Regierung nicht mehr Geld ausgeben kann, als sie insgesamt einnimmt. Dabei wird gewöhnlich angenommen, dass der entsprechende Entscheidungsträger „rational“ ist, er also die Methode ermitteln kann, mit der sich selbstgewählte Ziele am einfachsten mit gegebenen Mitteln verwirklichen lassen. Diese Annahme wird oft in der Bezeichnung “Homo Oeconomicus” zusammengefasst, also in der Hypothese, dass die handelnde „Modellperson“ ein „ökonomischer Mensch“ ist, der bestimmte Ziele erreichen will und zweckrational handelt. Dieser Zweck kann etwa im Fall einer wohlmeinenden Regierung die Genozidprävention sein oder für ein Opfer von Verfolgung das schlichte Überleben. Aber Rationalität meint nicht, dass die Ziele selbst nachvollziehbar sein müssen: Auch ein Anführer, der im Namen einer irrationalen Ideologie ein Massenverbrechen begehen will, kann dennoch im ökonomischen Sinne „zweckrational“ über die Methoden entscheiden, die er zur Erreichung absurder Ziele nutzen will. 

Anreize und „optimale“ Entscheidungen? 

“Zweckrational” handelnde völkermörderische Regime versuchen etwa, die Entscheidungen der Opfer und Täter über ökonomische Anreize gezielt zu manipulieren. Ein Beispiel von Anderton und Brauer (2016, S. 9) sind die „ganz normalen“ Deutschen, die aktiv oder passiv den Holocaust unterstützten. Unter gewöhnlichen Umständen hätten die wenigsten ihre jüdischen Mitmenschen ermordet. Im Dritten Reich wurde allerdings die Unterstützung von Juden durch Sanktionen “verteuert“. Gleichzeitig wurde es auch wirtschaftlich attraktiv, sich an der Verfolgung zu beteiligen, wenn man z.B. bei Pogromen straffrei jüdisches Eigentum erbeuten konnte. Sicherlich wurden dadurch nicht alle Deutschen über Nacht zu Mittätern, aber dennoch passten auch nicht-ideologische Personen ihr Verhalten in den Jahren nach der Machtergreifung systematisch an diese perversen ökonomischen Anreize an. Selbst ohne Zugriff auf ideologische oder psychologische Theorien lässt sich somit schon ein Teil der Kollaboration der deutschen Zivilbevölkerung am Holocaust nachvollziehen. Auch wenn uns ökonomische Theorien somit keine vollumfängliche Erklärung für das Auftreten von Völkermorden liefern, können ihre Modelle helfen, individuelles Verhalten in solchen Situationen zu erklären. 

Hinter dieser Argumentation steckt die Idee, dass Menschen auf Anreize reagieren – sprich, der rationale “Homo Oeconomicus” wird systematisch sein Verhalten ändern, wenn er erwartet, dass bestimmte Handlungen belohnt oder bestraft werden. Völkermörderische Regime können diese Mechanismen ausnutzen, Täter z. B. für ihre Teilnahme belohnen oder hohe Fluchthürden für Opfer schaffen. Andererseits können auch externe Akteure wie etwa andere Staaten versuchen, durch Sanktionen gegen Regierungen oder Täter Anreize für die Verhinderung von Massenverbrechen zu setzen. Mit dieser Form externer Intervention soll die Durchführung von Genoziden für die Täter „verteuert“ werden, sodass sich das Verbrechen im Rahmen ihrer individuellen Kosten-Nutzen-Kalkulation „nicht mehr lohnt“. Allerdings sind die Mechanismen der Anreize oft unübersichtlich und besonders im Fall externer Sanktionen für Außenstehende schwer zu durchschauen. Verschiedene Gruppen beeinflussen einander und die Interaktionen sind oft so komplex, dass die Verhaltensänderungen anders verlaufen als erwartet – und mitunter sogar die Situation verschlimmern, wie es z. B. eine theoretische Studie von Kydd und Straus (2013) für Sanktionen im Kontext von Bürgerkriegen zeigt. 

Jenseits des Homo Oeconomicus? 

So interessant diese theoretischen Ergebnisse sind, beruhen sie doch auf starken Vereinfachungen der Realität; nicht alles menschliche Verhalten lässt sich durch Theorien abbilden. In den Wirtschaftswissenschaften gibt es daher auch Untersuchungen, die sich an den Daten realer Konflikte (in denen Massenverbrechen oft geschehen) orientieren und ihre Abläufe besser verstehen wollen. Diese Forschungsströmung besteht schon mindestens seit den 1960ern, als zum ersten Mal große Datensätze für die Erforschung gewalttätiger Konflikte erhoben wurden, z. B. im „Correlates of War“-Projekt (ein guter historischer Abriss zu dieser Entwicklung findet sich bei Anderton 2014). Durch die Verfügbarkeit neuer Datensätze und leistungsfähiger Computer hat sich die empirische Forschung hier in den letzten Jahrzehnten in teilweise völlig neue Gebiete vorgewagt. 

Besonders interessant ist, dass sich einige Volkswirte auch mit der Rolle von Kultur und der Beständigkeit von Vorurteilen beschäftigen, die schwerer in Modelle mit einem rational handelnden homo oeconomicus zu integrieren ist. Kultur und Gesellschaft sind immer wiederkehrende Themen, auch in der quantitativen Wirtschaftswissenschaft. Für das nationalsozialistische Deutschland etwa lässt sich zeigen, dass Hass und Vorurteile gegenüber Juden im Dritten Reich keineswegs nur ein Ergebnis der rassistischen Propaganda waren, sondern im Gegenteil auf Muster von Pogromen im Hochmittelalter zurückgehen (Voigtländer und Voth 2012). Diese geschichtliche Entwicklung half dann dem Aufstieg des Nationalsozialismus, dessen eigener Einfluss sich wiederum bis heute in Wahlergebnissen für rechtspopulistische Parteien niederschlägt (Cantoni, Hagemeister und Westcott 2019). Neben diesen Aspekten werden auch soziale Netzwerke der Informationsweitergabe zwischen Menschen immer wieder als mögliche Kanäle für die Weitergabe von Vorurteilen untersucht (Satyanath, Voigtländer und Voth 2017). 

Schließlich sind auch die Konsequenzen von Genoziden nicht immer in formalen Modellen abbildbar. Einerseits gibt es persönliche Folgen für die Opfer von Genoziden, Verluste Angehöriger, körperliche Schäden und Traumata, die sich nicht in Modelle kondensieren lassen. Diese Folgen haben aber auch eine gesellschaftliche Dimension: Forschung zu Bürgerkriegen etwa  deutet darauf hin, dass die Kosten aus vorzeitigen Todesfällen und körperlichen Schäden für die betroffene Gesellschaft immens sein können, auch nach dem Ende der eigentlichen Gewalt (Ghobarah, Huth und Russett 2003). 

Massenverbrechen zerstören Volkswirtschaften 

Angesichts dieser immensen Nachteile ist es nicht nur aus moralischer, sondern auch aus ökonomischer Sicht also irrational, dass Regierungen und nichtstaatliche Akteure überhaupt Genozide begehen: Warum sollte eine zweckrationale Regierung Massenverbrechen vorbereiten, die schlussendlich den Tätern selbst große Schäden zufügen?  

In manchen Fällen wie dem Holocaust mag die Vernichtung rein ideologisch begründet sein. Regierungen glauben wohl mitunter, dass die Vernichtung bestimmter Gruppen notwendig für die Erreichung ihrer Ziele wäre: Man denke etwa an die erzwungene „Dekulakisierung“ der Sowjetunion oder die bereits oben erwähnten Massenverbrechen der Roten Khmer in Kambodscha. Aber andererseits erliegen vielleicht auch einige Politiker der Illusion, dass nur die Opfer der Verfolgung leiden und die Täter profitieren können. Potentielle Täter teilen diesen Glauben vielleicht oder wollen sich schlicht durch Plünderungen bereichern. Durch diese Denkmuster zieht sich die Erzählung, dass sich Massenverbrechen zumindest für die Täter lohnen müssten, da sie ja an Vermögen und Ressourcen gewinnen. 

Obwohl dies kurzfristig mitunter stimmen kann, zeichnet sich langfristig gesehen aus wirtschaftlicher Sicht ein völlig anderes Bild: Interessanterweise leiden selbst die Täter beziehungsweise ihre Nachkommen auch noch Jahre bis Jahrzehnte an den Folgen der von ihnen begangenen Massenverbrechen. Ein von Testa (2021) dokumentiertes Beispiel ist die Vertreibung der deutschen Bürger der Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg (ein Massenverbrechen, wenngleich kein Genozid). Sicherlich, einige tschechische Bürger haben kurzfristig durchaus von dieser Vertreibung profitiert, da sie verlassene deutsche Güter übernehmen konnten. Gleichzeitig verschwand durch diese Vertreibung aber auch ethnisch deutsches Fachpersonal, Häuser wurden mutwillig zerstört oder verfielen durch Leerstand. Außerdem gab es nicht genug tschechische Migranten, um die entleerten Landstriche wieder zu besiedeln, und zudem kam es zu Streit um die Neudefinition der Eigentumsrechte. Obwohl die Vertreibung also kurzfristig wie eine Revanche und Möglichkeit der persönlichen Bereicherung schien, war es langfristig ein wirtschaftliches Fiasko für die heutige Tschechische Republik: Bis heute bleiben vormals überwiegend deutschsprachige Regionen vergleichsweise unterbevölkert und weisen höhere Arbeitslosigkeit sowie ein niedrigeres Bildungsniveau auf (Testa 2021). 

Dass auch Völkermorde aufgrund ihrer offensichtlichen Vernichtung von (Human-)Kapital die Gesamtwirtschaft ebenso schwächen wie Vertreibungen, wird in der Forschung allgemein akzeptiert. Allerdings ist umstritten, wie verheerend die Konsequenzen langfristig sind. Soudis, Inklaar und Maseland (2016) argumentieren anhand eigener Daten etwa, dass Genozide in den ersten drei Jahren nach ihrem Beginn die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung eines Landes um ca. 10% senken und die Wirtschaft auch langfristig nicht wieder zu ihrem Potential von vor dem Genozid zurückkehrt, weil jeder einzelne Arbeiter weniger produktiv ist. Obwohl ihre Interpretation aufgrund der schwierigen Datenlage spekulativ bleibt, wäre eine mögliche Erklärung für die sinkende Produktivität, dass die massive Gewalt das gesellschaftliche Vertrauen unterwandert. Dadurch könnten Austausch und Kooperation zwischen verschiedenen Menschen, die allgemein als Grundlage für eine gesunde Volkswirtschaft gelten, verhindert werden. Andere Autoren wie z.B. Chen, Loayza und Reynal-Querol (2008), die allerdings nur allgemein Bürgerkriege und nicht spezifisch Genozide untersuchen, sind etwas optimistischer, dass nach der Wiederherstellung des Friedens ein Großteil der Verluste wiederhergestellt werden kann. Dass aber keine Bevölkerung wirklich wirtschaftlich von Massenverbrechen profitieren kann, scheint eine in der Forschung weitgehend akzeptierte Ansicht zu sein. Genozide sind schlussendlich kein Gewinn und nicht einmal ein Null-Summen-Spiel, sondern zerstören Gesellschaften und schaden damit langfristig allen Beteiligten, auch der Tätergruppe. 

Fazit: Welcher Platz für die „Economics of Genocide“? 

Die wenigen Ausschnitte aus der ökonomischen Genozidforschung, die hier vorgestellt werden konnten, illustrieren das Potenzial der Volkswirtschaftslehre für die Erklärung und Verhinderung von Massenverbrechen. Völkermorde lassen sich bis zu einem gewissen Grad durch die ökonomischen Theorien von Knappheit, Anreizen und Verteilungskonflikten modellieren, auch wenn andere Faktoren wie Kultur und Ideologie ebenso einbezogen werden können, um ein vollständiges Bild zu zeichnen. Für wohlmeinende externe Akteure, wie etwa ausländische Regierungen, die Massenverbrechen verhindern wollen, ist ein Verständnis der wirtschaftlichen Mechanismen hinter Genoziden umso wichtiger, weil falsch gesetzte Anreize oft gegenteilige Konsequenzen hervorrufen können. Währenddessen mahnen die langfristigen ökonomischen Folgen von Massenverbrechen, dass ein funktionierender Rechtsstaat und Kooperation zwischen verschiedenen Menschen der einzige Weg in eine langfristig erfolgreiche Zukunft sind. 

Trotz dieser positiven Bilanz der Forschung werden volkswirtschaftliche Erkenntnisse vielfach auch von der Gegenseite für ihre perversen Politiken missbraucht: Völkermörderische Regime nutzen bestimmte Anreize wie Werkzeuge, um Täter und Opfer in bestimmte Verhaltensweisen zu zwingen, bereichern sich durch ökonomische Ausbeutung und zerstören dabei die wirtschaftlichen Grundlagen ihrer eigenen Länder. Die ökonomische Forschung zeigt uns, dass es nicht so bleiben muss.   

Weiterführende Literatur 

Anderton, Charles H. (Jan. 2014). „A research agenda for the economic study of genocide: signposts from the field of conflict economics“. In: Journal of Genocide Research 16.1, S. 113–138. https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/14623528.2014.878118?journalCode=cjgr20 

Anderton, Charles H. und Jurgen Brauer (2016). „On the Economics of Genocides, Other Mass Atrocities, and Their Prevention“. In: Economic Aspects of Genocides, Other Mass Atrocities, and TheirPreventions. Oxford, England, UK: Oxford University Press. ISBN: 978-0-19937831-9. https://academic.oup.com/book/2614/chapter-abstract/142991514?redirectedFrom=fulltext 

Becker, Gary (1968). “Crime and Punishment: An Economic Approach”. In: Journal of Political Economy 76(2), 169-217. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-1-349-62853-7_2 

Cantoni, Davide, Felix Hagemeister und Mark Westcott (2019). Persistence and activation of rightwing political ideology. Working Paper. https://epub.ub.uni-muenchen.de/60795/1/Cantoni_Hagemeister_Persistence_and_Activation_of_Right-Wing_Political_Ideology.pdf 

Chen, Siyan, Norman V Loayza und Marta Reynal-Querol (2008). “The Aftermath of Civil War”. In: World Bank Economic Review 22, 63–85. https://elibrary.worldbank.org/doi/10.1093/wber/lhn001 

Ghobarah, Hazem Adam, Paul Huth und Bruce Russett (2003). „Civil wars kill and maim people—long after the shooting stops“. In: American Political Science Review 97.2, 189–202. https://www.cambridge.org/core/journals/american-political-science-review/article/abs/civil-wars-kill-and-maim-peoplelong-after-the-shooting-stops/7E0EB818993415A57F08969803C8733B 

Kydd, Andrew H. und Scott Straus (März 2013). „The Road to Hell? Third-Party Intervention to PreventAtrocities“. In: American Journal of Political Science 57.3, S. 673–684. ISSN: 1540-5907. DOI: 10.1111/ajps.12009. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdf/10.1111/ajps.12009?casa_token=oYtLPRbUpOwAAAAA:Rhdy3Oa8qrMTNp7lh1KrdwXcgwnqyf_KaPgBwMtxsxacg0S_aoZuf_xNGEHOzIKEMmfZG_Vpxji3CIk_ 

Lemkin, Rafael (1944). Axis rule in occupied Europe , laws of occupation, analysis of government, proposals for redress, by Raphal Lemkin. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k9443228?rk=21459;2 

Mankiw, N. Gregory und Mark P. Taylor (2016). Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. 6. Überarbeitete und Erweiterte Auflage, Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart. https://shop.schaeffer-poeschel.de/prod/grundzuege-der-volkswirtschaftslehre  

Satyanath, Shanker, Nico Voigtländer und Hans-Joachim Voth (März 2017). „Bowling for Fascism: Social Capital and the Rise of the Nazi Party“. In: Journal of Political Economy. DOI: 10.1086/ 690949. https://www.journals.uchicago.edu/doi/10.1086/690949   

Soudis, Dimitrios, Robert Inklaar und Robbert Maseland (2016). „The Macroeconomic Toll of Genocide and the Sources of Economic Development“. In: Economic Aspects of Genocides, Other Mass Atrocities, and Their Preventions. Oxford, England, UK: Oxford University Press. https://academic.oup.com/book/2614/chapter-abstract/142996046?redirectedFrom=fulltext    

Testa, Patrick A. (Juli 2021). „The Economic Legacy of Expulsion: Lessons from Post-War Czechoslovakia“. In: The Economic Journal. 131.637, S. 2233–2271. ISSN: 0013-0133. DOI: 10.1093/ej/ueaa132. https://academic.oup.com/ej/article/131/637/2233/6021415  

Voigtländer, Nico und Hans-Joachim Voth (Aug. 2012). „Persecution Perpetuated: The Medieval Origins of Anti-Semitic Violence in Nazi Germany“. In: Quarterly Journal of Economics. 127.3, S. 1339–1392. ISSN: 00335533. DOI: 10.1093/qje/qjs019. https://academic.oup.com/qje/article/127/3/1339/1922392