Große Besorgnis, geringer Einsatz: die Bundesregierung und die Verbrechen an den Uigur*innen

Die Volksrepublik China interniert derzeit etwa eine Million Uigur*innen in Lagern. Dass es sich hierbei nicht um reine Fortbildungsstätten handelt, ist unbestritten. Die deutsche Bundesregierung hat sich vielfach gegen dieses Vorgehen ausgesprochen, es verurteilt und an China appelliert, die schweren Menschenrechtsverstöße zu beenden. Doch was unternimmt Deutschland jenseits der Rhetorik? Bedauerlich wenig, wie eine Bestandsaufnahme zeigt.

von Paul Stewens und Emilia von Mettenheim


Das Investitionsabkommen zwischen der EU und China

In den letzten Tagen des vergangenen Jahres und der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist gelungen, was einige als Durchbruch, andere als “schamlosen Ausverkauf europäischer Werte” bezeichnen: eine Einigung über ein Investitionsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Volksrepublik China. Der Vertrag soll chinesischen Investitionen in der EU den Weg ebnen, für fairen Wettbewerb sorgen und China auf Umwelt- und Sozialstandards verpflichten, etwa durch eine angestrebte Ratifikation mehrerer Konventionen gegen Zwangsarbeit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO).

Hierbei ist jedoch mehr als fraglich, ob und inwieweit die Verhandlungsergebnisse tatsächlich zu einer Besserung der Menschenrechtssituation in der Volksrepublik beitragen können. Neben dem Eingriff in die Selbstbestimmung von Hongkong durch den Erlass des umstrittenen Sicherheitsgesetzes sowie der Unterdrückung ethnischer und religiöser Minderheiten in Tibet steht die chinesische Regierung vor allem für ihre Behandlung der muslimischen Minderheit der Uigur*innen in der Autonomen Provinz Xinjiang im Westen des Landes stark in der Kritik.

Bereits seit einigen Jahren gibt es Berichte von Internierungslagern, in denen Angehörige der Volksgruppe der Uigur*innen sowie anderer muslimischer Minderheiten, die überwiegend muslimischen Glaubens sind und eine eigene Sprache sprechen, festgehalten. Sie sollen dort im Sinne der chinesischen Regierung “umerzogen” werden. Diese leugnete die Existenz der Lager zunächst. Als diese Behauptung nach mehreren Leaks (wie den China Cables) nicht mehr haltbar war, lenkte sie jedoch ein und behauptete, die Lager dienten der Berufsaus- und Fortbildung der uigurischen Bevölkerung. Diese Begründung steht im starken Kontrast zu den Berichten von Misshandlungen in den Lagern. Selbes gilt für den Vorwand der Terrorismusbekämpfung, obwohl Xinjiang durchaus eine längere Geschichte extremistischer Anschläge hat. Das Xinjiang Data Project des Australian Strategic Policy Institute identifiziert insgesamt 380 mutmaßliche Internierungseinrichtungen. Hinzu kommen Hinweise auf eine umfassende Zerstörung uigurischer Kulturgüter (vor allem religiöser Gebäude), Zwangsarbeit (etwa bei der Baumwollernte) sowie Zwangssterilisierungen zur Dezimierung der uigurischen Volksgruppe. Die Zahl der Internierten wird verschiedentlich eingeschätzt, gemeinhin wird aber von etwa einer Million Menschen ausgegangen.

Angesichts dieser besorgniserregenden Lage sowie entschlossener Reaktionen anderer Staaten, wie den USA, die Anfang Januar den Import verschiedener Produkte aus Xinjiang verboten haben und seit dem 20. Januar sogar von einem Völkermord an den Uigur*innen sprechen, stellt sich die Frage, inwiefern die deutsche Bundesregierung auf das Handeln Chinas in Xinjiang bisher reagiert hat.

Bi- und multilaterale Stellungnahmen

Die Bundesregierung hat sich zunächst zu zahlreichen parlamentarischen Anfragen geäußert. Auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen teilte die Bundesregierung im April 2020 mit, sie sehe die Menschenrechtssituation in China und insbesondere in Xinjiang mit großer Sorge. Außerdem bekennt sie sich zu der oben dargestellten Faktengrundlage und gibt an, bereits vielfach auf bi- und multilateraler Ebene Stellung zur Lage in Xinjiang genommen zu haben. Hierzu zählt der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, wo Stellungnahmen abgegeben, ein Brief an die Präsidentin verfasst und gezielte Nachfragen zur Menschenrechtsbilanz der Volksrepublik im Staatenberichtsverfahren gestellt wurden. Auch  der dritte Ausschuss der VN-Generalversammlung, der sich mit sozialen, humanitären und kulturellen Fragen befasst, ist ein solches Forum. Stellungnahmen wurden dabei stets mit Partnerländern abgegeben, teils sogar durch Vertreter der Bundesrepublik im Namen von Staatenkoalitionen – so etwa Anfang Oktober des vergangenen Jahres. Auf die letztgenannte Stellungnahme reagierte China mit einer offensiven Gegendarstellung, die ihrerseits 45 Staaten unterstützten.

Darüber hinaus war die Situation der Uigur*innen regelmäßig Gegenstand bilateraler Gespräche zwischen Deutschland und China. Bei seinem Antrittsbesuch in China 2018 verkündete Außenminister Heiko Maas, man könne sich mit “Konzentrationslagern” nicht abfinden. Im Deutsch-Chinesischen Strategiedialog im Februar 2020 wurde die Thematik erneut aufgegriffen, ebenso wie bei einem Treffen zwischen Maas und seinem chinesischen Pendant Wang Li in Berlin Anfang September 2020. Im selben Monat griff die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Bärbel Kofler das Thema Uigur*innen im Deutsch-Chinesischen Menschenrechtsdialog auf. Das Format war im Jahr zuvor und 2017 bereits von chinesischer Seite ausgesetzt worden – unter Verweis auf das fehlen einer konstruktiven Gesprächsatmosphäre und eine Missbilligung kritischer Äußerungen deutscher Regierungsvertreter*innen. Solche Stellungnahmen wurden etwa von Außenminister Maas im Rahmen des Berlin Foreign Policy Forum am 26. November 2019 oder von Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem Bundestag am darauffolgenden Tag getätigt.

Kritik der Menschenrechtslage und mangelnden Zugangs für Beobachter*innen

Der Inhalt der deutschen und multilateralen Stellungnahmen überschneidet sich überwiegend. Sie beruft sich darin auf entsprechende Berichte internationaler Gremien und drückt ihre ernstliche Besorgnis aus. Diese gilt die Menschenrechtssituation in China insgesamt und insbesondere der Lage ethnischer und religiöser Minderheiten – vor allem mit Blick auf Xinjiang, aber ebenso auf Hongkong und Tibet. Daran schließen sich Appelle an die chinesische Regierung an, ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen und bestehende Verletzungen umgehend zu beenden. Auch ein adäquatet Schutz von Minderheiten- und Autonomierechten sowie die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit, Glaubens- und Pressefreiheit werden gefordert. Weiterhin spricht sich die Bundesregierung für eine Implementierung der vom UN-Ausschuss für die Beseitigung von Rassendiskriminierung empfohlenen Maßnahmen aus. Diese deutliche Kritik an der Einhaltung der chinesischen Menschenrechtsverpflichtungen lässt daran zweifeln, dass die Verpflichtungen bezüglich Sozialstandards und Zwangsarbeit aus dem beschlossenen Investitionsabkommen eine Besserung der Lage der Uigur*innen zur Folge hätten. Hinzu kommt, dass sich China nicht zur Ratifikation der ILO-Konvention verpflichtet, sondern lediglich darauf hinzuwirken hat. Diese Sorge teilen auch Mitglieder des Europäischen Parlaments, die eine Ratifikation des Investitionsvertrages womöglich verweigern könnten.

Weiterhin haben Vertreter*innen der Bundesregierung zu verschiedenen Anlässen die Forderung an China formuliert, unabhängigen Beobachter*innen Zugang zu ermöglichen. Diese beziehen sich in erster Linie auf die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen Michelle Bachelet und ihr Büro. Sich erstrecken sich außerdem auf Personen, die in den diversen Menschenrechtsorganen der Vereinten Nationen für deren Überwachung zuständig sind. Eine solche Einladung hat China bereits mehrfach ausgesprochen, etwa bei der Pressekonferenz anlässlich des Deutsch-Chinesischen Strategischen Dialogs am 13. Februar 2020. Erneut war das im September desselben Jahres der Fall, als Reaktion auf eine entsprechende Forderung der Europäischen Union. Ausländische Journalist*innen berichten aber von erheblichen Behinderungen ihrer Arbeit. Die massiven Einschränkungen der Pressefreiheit in der Volksrepublik China, die im World Press Freedom Index der NGO Reporters without Borders auf dem viertletzten Platz rangiert, ist ein weiterer Ausdruck der Behinderung der Berichterstattung aus Xinjiang durch die chinesische Regierung. Bachelet selbst hatte bereits 2018 Zugang zur Region und uneingeschränkten Zutritt zu sämtlichen Anlagen gefordert, befindet sich in dieser Hinsicht aber nach wie vor in Verhandlungen mit der chinesischen Regierung.

Die Geltendmachung von Menschenrechten im Einzelnen

Die Geltendmachung der menschenrechtlichen Aspekte in diesem Fall ist von Seiten der Bundesregierung zwar erfolgt, würde aber nur hinsichtlich der Gesetzesinitiative des Lieferkettengesetzes konkrete Konsequenzen erreichen – und dieses Gesetzgebungsverfahren hat wenig Aussicht auf Erfolg. Noch im März 2019 wird in einer Mitteilung der EU-Kommission und des Europäischen Auswärtigen Dienstes angekündigt (Action 7), sich entschlossen solchen Versuchen der Volksrepublik China, international etablierte völkerrechtliche Standards zu verletzen oder zu verschieben, entgegenzustellen. Hierin wurde die Kommission nach eigener Aussage von der Bundesregierung unterstützt. 

So hat sie sich an einer nachdrücklichen Erinnerung Chinas an die Ratifizierung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte beteiligt. Sie hat sich außerdem für die Freilassung von Menschenrechtsverteidiger*innen eingesetzt. Konkret hat sie die Verstärkung der Berichterstattungen der Auslandsvertretungen hinsichtlich der Umsetzungen der Regeln des Nationalen Aktionsplans für Wirtschaft und Menschenrechte angeordnet. Die deutschen Unternehmen mit Produktionsstätten in Xinjiang hat die Bundesregierung dahingehend beraten, wie mit Menschenrechtsverletzungen entlang der Lieferketten umzugehen sei. Diese Beratungen waren freiwillig. Die durch das Bundesamt für Ausfuhr zu erteilenden Ausfuhrgenehmigungen für bestimmte nach China zu exportierende Ware werden im Einzelfall geprüft, so wie dies auch vorher der Praxis entsprach. Dies gilt nur für ausfuhrgenehmigungspflichtige Ware. Einzig und allein die Gesetzesinitiative des Lieferkettengesetzes, das automatisch eine Auswirkung auf die deutschen in Xinjiang produzierenden Unternehmen hätte, stellt einen aktiven Einsatz für die Menschenrechte in Xinjiang dar. Ob das Gesetz vom Bundestag beschlossen wird, bleibt hierbei ungewiss. Es ist zu erwarten, dass hier die Initiative auf europäischer Ebene abgewartet werden soll.

Die Menschenrechte, die China einzuhalten aufgefordert wird, schließen mit dem Verbot der Rassendiskriminierung und der Sklaverei außerdem sog. Verpflichtungen erga omnes mit ein. Solche Pflichten besitzt ein Staat nicht gegenüber einem anderen Staat, sondern gegenüber der internationalen Gemeinschaft insgesamt. Eine Verletzung dieser Pflichten kann daher auch von jedem Staat geltend gemacht werden – unabhängig davon, ob er selbst davon betroffen ist oder nicht. Der Internationale Gerichtshof hat darüber hinaus festgestellt, dass im Falle einer Verletzung einer Pflicht erga omnes allen anderen Staaten die Pflicht zukommt, auf eine Beendigung dieser Verletzung hinzuwirken. Eine solche Pflicht kommt Deutschland im Fall der Uigur*innen wohl zu, und es ist mehr als fraglich, ob es ihr angemessen nachkommt.

Sanktionsmaßnahmen der Europäischen Union

Darüber hinaus forderte das EU-Parlament bereits im Dezember 2019 im Zusammenhang mit der Unterdrückung der Uigur*innen Sanktionen gegen China (Entschließungsantrag, zu 13.) und 16.). Die Bundesregierung hat sich an diesen Gesprächen beteiligt. Nun hat die EU ihren Handlungsspielraum zur Ahndung von Menschenrechtsverletzungen vergrößert, und eine Regelung entworfen, mit welcher sie Vermögen von Einzelpersonen einfrieren und Einreiseverbote aussprechen kann. Diese Regelung befindet sich derzeit im Abstimmungsverfahren. Dessen Ausgang ist ungewiss, denn einige EU-Mitgliedstaaten  wie Griechenland und Ungarn haben sich in der Vergangenheit bereits gegen solche Maßnahmen im Zusammenhang mit China gestellt.

Asyl für Uigur*innen, Kredite für Xinjiang

Weitere Bereiche, in denen Berührungspunkte mit der Provinz Xinjiang und der Gruppe der Uigur*innen besteht, sind Asyl und Entwicklungszusammenarbeit. Von den 962 Asylsuchenden aus China im Jahr 2019 hatten 193 angegeben, der muslimischen Minderheit anzugehören – beinahe dreimal so viele wie im Jahr zuvor. 96% dieser Anträge wurden positiv beschieden, während die Schutzquote für Anträge aus der Volksrepublik insgesamt lediglich 19% betrug. Unklar ist allerdings, ob die Mehrzahl der asylsuchenden Uigur*innen auch tatsächlich direkt aus China kommt. Der Anthropologe Rune Steenberg vermutet etwa, dass viele der Uigur*innen, die Deutschland dieser Tage erreichen, nicht direkt aus China kämen, sondern aus der Türkei. Vor dem Hintergrund dieser Unsicherheit ist die hohe Schutzquote nur unter Vorbehalt als entschlossenes Handeln der Bundesregierung in der Causa Xinjiang zu betrachten. 

Die “klassische” Entwicklungszusammenarbeit mit China hat die Bundesregierung bereits 2009 eingestellt, seitdem erhält die Volksrepublik keine Mittel mehr aus dem Bundeshaushalt. Allerdings finanzierte die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) eine Reihe von Projekten in China. In der Region Xinjiang war die KfW dabei an zwei Projekten beteiligt: dem Bau der Xinjiang Vocational University, einer Hochschule mit berufsbildendem Fokus (Darlehensvertrag von 2014, Umfang: 20 Mio. €) und der Urumqi Metro Linie 1, einer U-Bahnlinie (Darlehensvertrag von 2016, Umfang: 100 Mio. €). Weitere Projekte in der Region plant die KfW nicht. Für die Wahrung von Menschenrechten im Zusammenhang mit der Umsetzung der geplanten Projekte verweist die KfW auf ihre eigenen Richtlinien sowie das Menschenrechtskonzept des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), deren Einhaltung bei Planung und Vorbereitung der Projekte kontrolliert werde. Diese Ziele seien außerdem in den Darlehensverträgen verankert. Über einen Zusammenhang der Xinjiang Vocational University und den Internierungslagern, die die chinesische Regierung als “vocational training camps” ausgibt, ist der KfW nichts bekannt.

Fazit

In der Zusammenschau zeigt sich ein ernüchterndes Bild. Die Auswirkungen vielfacher Beteuerungen von Vertreter*innen der Bundesregierung, den Umgang Chinas mit den Uigur*innen nicht zu dulden, und Forderungen, die Menschenrechtsverletzungen zu beenden, auf das tatsächliche Handeln Deutschlands sind kaum sichtbar. Diese Diskrepanz zwischen Rhetorik und faktischen Konsequenzen für den Umgang mit der Volksrepublik verwundert – besonders für einen Staat, für den die Verhinderung von Massenverbrechen Teil der Staatsräson ist. Der Einsatz Deutschlands und der EU verbessert die Lage der Uigur*innen nicht und zeigt, dass im Umgang mit China deutlichere Signale gesetzt werden müssten. Dazu haben Genocide Alert und viele andere zivilgesellschaftliche Organisationen kürzlich bereits in einem offenen Brief aufgerufen.