Großes Interesse an Genocide Alert Workshops zur Prävention
von Völkermord und Massenverbrechen
Unter dem Titel „20 Jahre nach Srebrenica“ vermittelte Genocide Alert in zwei Workshops, am 25. und 26. Juli in Frankfurt und am 1. und 2. August 2015 in Berlin, Studierenden und jungen Berufstätigen Grundlagenwissen über die Entwicklung der Prävention von Massenverbrechen seit dem Völkermord in Srebrenica 1995. Insgesamt haben sich 29 Teilnehmerinnen und Teilnehmer (13 in Frankfurt und 16 in Berlin) ein Wochenende Zeit genommen, um sich intensiv mit der Materie auseinanderzusetzen. In mehreren Themenblöcken informierten sie sich über Ablauf des Völkermordes während des Bosnienkrieges, die nachträgliche Aufarbeitung, Instrumente zur Prävention solcher Verbrechen sowie die von der internationalen Gemeinschaft gezogenen Lehren. Das Ergebnis waren mehrere Gruppenpräsentationen, eigene Ideen zur Prävention und Aufarbeitung von Massenverbrechen und ergebnisreiche Diskussionen. Bereichert wurden die interaktiven Einheiten des Workshops in Frankfurt durch Vorträge von der Transitional Justice-Forscherin Dr. Eva Ottendörfer und dem langjährigen Mitherausgeber des Friedensgutachtens Dr. Bruno Schoch. In Berlin wurde das das Workshop-Programm ergänzt durch Vorträge des Peacekeeping-Experten Sebastian Gräfe, des Vergangenheitsbewältigungsforschers Christian Braun und der Konfliktbearbeitungsexpertin Dr. Martina Fischer.
In Frankfurt fand der Workshop in den Räumen des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens – und Konfliktforschung statt. Für den Workshop in Berlin konnte Genocide Alert die Räumlichkeiten der BMW Stiftung Herbert Quandt nutzen. Beide Workshops waren inhaltlich weitgehend gleich, auch wenn sich der zeitliche Ablauf sowie die vortragenden Referentinnen und Referenten unterschieden. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhielten während des Workshops einen Reader mit Arbeitsmaterialien und Hintergrundinformationen, welchen Genocide Alert dank finanzieller Unterstützung aus dem Solidaritätsfond der Hans-Böckler-Stiftung kostenlos zur Verfügung stellen konnte.
Thematische Einleitung, Frühwarnung und Risikofaktoren sowie Transitional Justice
Nach einer thematischen Einleitung in Form von Gruppenarbeiten unter der Moderation von Timo Leimeister (Genocide Alert), informierten sich die Teilnehmer anhand des bereitgestellten Readers gegenseitig über das Stattfinden von ethnischen Säuberungen und Massakern in der Republik Srspka, welche später vom Internationalen Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien als Völkermord definiert werden sollten. Weiterhin beschäftigten sie sich mit der historischen Entwicklung und den Schwierigkeiten einer genauen Definition von Völkermord und ethnischen Säuberungen.
Die zweite Einheit des Workshops widmete sich der Frühwarnung von Massenverbrechen anhand der Analyse und Wertung von Risikofaktoren. Jens Stappenbeck (Stellv. Vorsitzender von Genocide Alert) stellte zunächst den in Kürze erscheinenden Monitor von Genocide Alert vor. Darüber hinaus erläuterte er das, auf automatisierter Datenanalyse und Experteneinschätzungen beruhende, Frühwarnprojekt des US Holocaust Memorial Museums. Zu guter Letzt ging er auf den jüngst entwickelten Analyserahmen der Vereinten Nationen ein. Jens Stappenbeck verdeutlichte den Charakter dieses Frühwarnsystems, das nicht als Checkliste missverstanden werde sollte, sondern stark situationsabhängig ist. Weiterhin verwies er auf weitere Methoden, wie Risikofaktoren frühzeitig identifiziert und kommuniziert werden können, welche von SMS-Systemen bis zu einem Einsatz von Satellitensystemen reichen.
Welche Bedeutung der Post-Konflikt Phase zukommt war Thema der dritten Einheit und eines Vortrages von Dr. Eva Ottendörfer (Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Institutes für Politikwissenschaft in Darmstadt). Vergangenheitsaufarbeitung (Transitional Justice) sei als Spannungsfeld zwischen Gerechtigkeit und Frieden zu betrachten, welche auf verschiedenen Instrumenten basieren sollte. Diese sei nicht nur auf Institutionen zu beschränken, sondern müsste auch auf Versöhnungsprozesse innerhalb der betroffen Gesellschaft basieren. Gleichzeitig bestehe das Problem, dass strafrechtliche Gerechtigkeit nicht automatisch wiedergutmachender Gerechtigkeit entspreche – zumal oft nur die hochrangigen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
Beendet wurde dieser Teil des Workshops mit Vorschlägen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wie man eine von Massenverbrechen betroffene Gesellschaft in eine Gemeinschaft transformieren könne, in der demokratische und friedenssichernde Verhältnisse herrschen. In der von Jessica von Farkas (Genocide Alert) moderierten Diskussion wurde zum Beispiel die Bedeutung von Schulbüchern betont, die alle Seiten des Konflikts beleuchten und somit Geschichtsrevisionismus zu bekämpfen, der zu einer weiteren Trennung der ehemaligen Konfliktparteien beiträgt.
Prävention von Völkermord, Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten und Abschlussdiskussion
Wie können Massenverbrechen vorgebeugt werden? Mit dieser durchaus komplexen Frage startete der zweite Tag des Workshops. Unter Anleitung von Aurora Kastrati (Genocide Alert) sammelten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Einstieg Ideen für präventive Maßnahmen. Die Ergebnisse wurden anschließend von Gregor Hofmann (Stellv. Vorsitzender von Genocide Alert und wissenschaftlicher Mitarbeiter der HSFK) strukturiert, erweitert und mit einem inhaltlichen Hintergrund versehen. Zusammen mit den Teilnehmern wurde erkannt, dass ein Konflikt vielschichtig sein kann und deshalb auch die Prävention multidimensional stattfinden muss. So gilt es nicht nur, staatliche-demokratische Strukturen zu stärken, sondern auch rassistische Vorbehalte innerhalb der Gesellschaft abzubauen. Auch die besondere Rolle internationaler Netzwerke zwischen Regierungsoffiziellen, Nichtregierungsorganisationen und dem UN Sekretariat wurde diskutiert.
Wenn präventive Maßnahmen fehlschlugen und Menschen sich in Konflikte verwickeln, gilt es, unbeteiligte Zivilisten zu schützen. Dass sich diese Annahme erst über Jahrzehnte innerhalb der Vereinten Nationen entwickeln musste wurde von Gregor Hofmann und Christoph Schlimpert (Stellv. Vorsitzender von Genocide Alert) in der nächsten Einheit erläutert. Ein effektiver Schutz von Zivilisten durch UN-Truppen war keineswegs Kerninhalt traditioneller Friedenssicherungsmissionen seitens der internationalen Staatengemeinschaft. Christoph Schlimpert verdeutlichte diese Aussage in seinem Vortrag über den Schutz von Zivilisten im Kongo. Zuvor hatte Gregor Hofmann das Spannungsfeld verdeutlicht, in das UN-Interventionen einzuordnen sind. Ist staatliche Souveränität höher einzuordnen als der Schutz von Menschenrechten? Dieses Dilemma existiere bis heute, zumal gerade der politische Wille auf internationaler Ebene, angesichts stattfindender Massenverbrechen etwas zu unternehmen, stark von den geopolitischen Interessen der Großmächte abhänge. Nichtsdestotrotz sei die internationale Gemeinschaft heute sehr aktiv im Hinblick auf den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten: Neun der aktuell sechzehn UN Friedensmissionen hätten ein Mandat zum Schutz von Zivilisten. Allerdings, so Christoph Schlimpert, erfüllten die Missionen ihre Mandate häufig nur unzureichend. Um dies zu verändern, finde derzeit ein erneuter Anlauf zur Reform des Friedenssicherungssystems statt.
Die letzte Einheit des Workshops wurde zunächst durch ein Referat von Dr. Bruno Schoch geprägt, welcher eine inhaltliche Einordnung der behandelten Themen vornahm und anschließend für eine Diskussion zur Verfügung stand: „Gibt es schlimmeres als Krieg?“ Diese Frage habe Theodor W. Adorno dazu geführt, so Schoch, einen neuen kategorischen Imperativ zu entwickeln: Angesichts des Holocausts seien die Menschen aufgefordert „ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnliches geschehe“. Im 20. Jahrhundert kam es nicht nur zu zwischenstaatlichen Konflikten, sondern auch zu grausamen staatlich Verordneten Massenmorden sowie zu unfassbaren Gräueltaten im Rahmen innerstaatlicher bewaffneter Konflikte. Der Gedanke der dem seit 2005 etablierten internationalen Konzept einer Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) innewohne, nämlich dass Menschen auch vor Gewalt ihres eigenen Staates beschützt werden müssen und staatliche Souveränität nicht missbraucht werden dürfe sei ein Fortschritt, so Dr. Schoch. Dadurch entstehe jedoch auch ein Dilemma: Wie kann man die Motive derjenigen deuten, die eine Intervention zum Schutz der Menschenrechte propagieren? Schließlich mache sich der, der ohne humanitäre Motive interveniere gleichermaßen schuldig wie derjenige, der Massenverbrechen nicht mittels einer Intervention verhindert hat. Wie die Staaten heute mit Thematiken wie diese umgehen, wurde von den Teilnehmern, Dr. Schoch und dem Workshop-Team von Genocide Alert im Anschluss ausgiebig diskutiert.
Der Workshop in Berlin
Unser Workshop in Berlin war bezüglich der Inhalte mit dem in Frankfurt identisch. Die von Genocide Alert entwickelten Einheiten wurden jedoch von Vorträgen anderer Referenten ergänzt. So bereicherte Christian Braun, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg, unseren Workshop mit persönlichen Einblicken in seine Feldforschung in Srebrenica und Bosnien-Herzegowina. Themen waren vor allem das Spannungsfeld Opfer vs. Täter, welches vor allem in Serbien häufig nicht klar unterschieden werden kann und zu Problemen in der Aufarbeitung führt. Daran könne auch der Internationale Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien nichts ändern, da die Entscheidungen des Gerichtshofs vor Ort medienwirksam umgedeutet würden und teilweise das Opfer/Täter Denken verstärkten, statt eine gemeinsame und friedliche Zukunft in Aussicht zu stellen. Vorteile einer justiziellen Aufarbeitung würden aber im späteren kollektiven Gedächtnisses liegen, welche ein auf Wahrheit basierende historisches Bild verstärken würde
Sebastian Gräfe (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik / Zentrum Zivil-Militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr) bearbeitete gemeinsam mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Theorie und Praxis des Schutzes von Zivilisten in bewaffneten Konflikten. Die Aufgabe der Friedensmissionen vor Ort, so Gräfe, gingen über den physischen Schutz von Zivilisten hinaus. Sie müssten zudem ein Umfeld herstellen, in welchem Schutz überhaupt möglich sei und gleichzeitig die Suche nach einer politischen Lösung des bewaffneten Konflikts unterstützen, ohne selbst zur Zielscheibe zu werden.
Wie schwierig dies ist erläuterte er anhand des Beispiels der UN Mission im Südsudan, wo er ein Jahr lang als Analyst gearbeitet hatte. Als dort 2013 der Bürgerkrieg ausbrach, hatte die UN-Mission (UNMISS) die Tore ihrer Stützpunkte für Vertriebene geöffnet. In den Lagern können Hilfsorganisationen humanitäre Hilfe, Unterkünfte und medizinische Versorgung bereitstellen, während UN-Truppen und Polizeieinheiten physischen Schutz bieten und weitere Notleidende zu diesen Schutzzonen eskortieren. Doch es gebe auch Beschränkungen und große Probleme in der Praxis solcher Friedensmissionen: Häufig fehlten neben angemessenen finanziellen Mittel auch die notwendige Ausrüstung und Transportkapazitäten. Zudem würden die Truppen für UN Blauhelmmissionen von den Mitgliedstaaten oft nur langsam an den Einsatzort verlegt, was die ohnehin bereits existierenden Schwächen verstärke. Auch seien UN-Missionen auf die Zustimmung des Gastgeberlandes angewiesen – was es schwierig mache auf Fälle, in denen Regierungstruppen Massenverbrechen begehen, zu reagieren.
Die letzte Referentin, Dr. Martina Fischer von der Berghof Foundation, verdeutlichte die drei Dichotomien der Transitional Justice (Peace vs. Justice, Truth vs. Justice, Täter vs. Opferperspektive). Weiterhin präsentierte sie einen Abriss der mittlerweile 20 jährigen Arbeit des Internationalen Gerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. So sei ein deutlicher Fortschritt für die internationale Rechtsprechung zu erkennen. Kritik sei vor allem regional in Bosnien und Serbien zu erkennen. Das Gericht sei als Schaubühne für Kriegsverbrecher genutzt worden, welche auch in der Heimat weiterhin im gesellschaftlichen Fokus stehen. Weiterhin sei der Opferschutz nicht ausreichend gewesen und ein Freispruch häufig als Reinwaschung von Straftaten umgedeutet worden sein.
Positives Feedback der TeilnehmerInnen
Die 23- bis 30-jährigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bewerteten in einer abschließenden Evaluation den Workshop äußerst positiv. Nicht nur über die Geschehnisse in Srebrenica, sondern auch über heutige Instrumente zur Prävention von Völkermord und Gräueltaten hätten sie viel gelernt. Insbesondere die gute Vorbereitung des Organisationsteams sowie die hohe Qualität der Referentenbeiträge wurden in der Evaluation hervorgehoben.
Für Genocide Alert können die beiden Workshops daher als voller Erfolg gewertet werden. Wir danken dem Solidaritätsfond der Hans-Böckler-Stiftung für die finanzielle Unterstützung des Workshops sowie dem Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung sowie der BMW-Stiftung Herbert Quandt für die kostenlose Bereitstellung der Räume.
Viele der im Workshop verwendeten Materialien sowie weiterführende Links und Informationen zum Völkermord in Srebrenica und den im Workshop behandelten Themen, sind in einer Materialsammlung zur Prävention von Massenverbrechen auf der Genocide Alert Homepage zusammengestellt.
Autoren:
Timo Leimeister, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Genocide Alert
und Gregor Hofmann, stellvertretender Vorsitzender bei Genocide Alert