Völkermord an den Armeniern: Diplomatische Rücksichtnahme darf Anerkennung nicht im Weg stehen

Vor einem Jahrhundert wurden weite Teile des armenischen Volkes im Osmanischen Reich in einem Völkermord ausgelöscht. Das Deutsche Reich war ein enger Verbündeter der damaligen osmanischen Regierung und stellte die Bündnispolitik über das Überleben der Armenier. Trotz möglicher diplomatischer Verstimmungen sollte Deutschland nicht davor zurückschrecken, den damaligen Völkermord als solchen ausdrücklich zu benennen. Durch ein Eingeständnis auch der eigenen historischen Verantwortung an den Geschehnissen kann die Bundesrepublik im Gegenteil den Vertretern einer Aussöhnung in der Türkei den Rücken stärken.

„Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“

Adolf Hitler, Geheimrede auf dem Obersalzberg vor seinen Generälen, 22. August 1939

Das Deutsche Kaiserreich war im Ersten Weltkrieg ein enger Verbündeter der jungtürkischen Regierung. Zum Ende des Krieges waren rund 800 deutsche Offiziere im Osmanischen Reich stationiert. Die militärischen und politischen Vertreter des deutschen Kaiserreichs waren über den Völkermord an den Armeniern bestens informiert. So schrieb der deutsche Botschafter in Konstantinopel am 7. Juli 1915 an Reichskanzler Bethmann-Hollweg, dass die aktuellen Vorgänge „zeigen, daß die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten“. Politische Interventionen seitens des Deutschen Reiches blieben aus. Der deutsche Reichskanzler selbst merkte unter einer Depesche an, dass es das Ziel sei, die Türkei als Verbündeten im Krieg zu halten, auch wenn die Armenier daran zugrunde gehen würden.

Die deutsche Rolle wird in der Forschung eindeutig bewertet: Ohne die schützende Hand des Kaiser-reiches wäre der Völkermord im Osmanischen Reich in dieser Form schwer möglich gewesen. Auch deswegen sollte sich die Bundesrepublik ihrer historischen Mitverantwortung in gleicher Weise stellen, wie Sie dies in vorbildlicher Weise mit Blick auf den Holocaust tut.

Einhellige Meinung der Forschung

Die Bewegung der Jungtürken gelangte 1913 durch einen Militärputsch im Osmanischen Reich an die Macht. In den sozial-darwinistischen Vorstellungen der jungtürkischen Eliten galten Armenier als nicht-integrierbar. Schwere Niederlagen nach Eintritt in den Ersten Weltkrieg führten zur Ergreifung radikaler Maßnahmen: Fortan galten Armenier als Verräter, als „Fünfte Kolonne“ Russlands. Es kam zu gewalttätigen Übergriffen und Massakern an Armeniern, insbesondere in der ostanatolischen Provinz Van. Als Reaktion probte die Bevölkerung der Provinz im April 1915 den Aufstand. Vier Tage nach Ausbruch der Revolte wurden armenische Intellektuelle in Konstantinopel systematisch verhaftet, deportiert und ermordet. Von Norden nach Süden wurden armenische Dörfer geräumt und die dort lebende Bevölkerung in die syrische Wüste deportiert. Männer wurden oftmals vor Ort exekutiert. Frauen und Kinder starben während der Todesmärsche, auf denen sie Überfällen schutzlos ausgeliefert waren. Schätzungen über die Anzahl der Opfer des Völkermordes variieren zwischen 800.000 und 1,5 Millionen Toten.

Die große Mehrheit der Forscher wertet die Ereignisse im Osmanischen Reich 1915 als Völkermord. Völkerrechtlich wird Genozid durch den Internationalen Strafgerichtshof definiert als „jede der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten: Tötung von Mitgliedern der Gruppe; Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Vernichtung ganz oder teilweise herbeizuführen; Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.

Die International Association of Genocide Scholars hat mehrere Resolutionen verabschiedet, in denen die Türkei zur Anerkennung des Völkermordes aufgefordert wird. Es gibt eine Vielzahl an Belegen, die die Absicht der jungtürkischen Führung zur Vernichtung der Armenier beweisen. Zudem weisen die Ereignisse charakteristische Elemente eines Genozids auf: Die Ermordung der intellektuellen Eliten, die Deportation der Opfer, die Überführung von Kindern in neue Familien und der Einsatz einer Spezialeinheit für die Durchführung der Vernichtung in einigen Gebieten.

Die Verantwortung der Bundesrepublik

Bis heute haben erst 20 Staaten die Ereignisse im Osmanischen Reich von 1915 offiziell als Völkermord anerkannt. Die Türkei selbst weigert sich leider nach wie vor, die Geschehnisse als Genozid zu bezeichnen und eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte vorzunehmen.

Auch in Deutschland wurde der Begriff lange vermieden. Zwar gedachte der Bundestag zum 90. Jahrestag im Jahr 2005 mit der Resolution Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 und rief zur gemeinsamen Aufklärung der Ereignisse auf. Allerdings findet sich nur im Anhang der Verweis, dass viele unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen die Ereignisse als „Völkermord“ bezeichnen.

Die Bundesregierung äußerte sich lange zurückhaltend zu den Ereignissen und fordert eine wissenschaftliche Aufarbeitung statt einer politischen Stellungnahme. Wenn jedoch ein erdrückender Teil der Wissenschaft hierzu klar Stellung bezogen und die Ereignisse als Genozid bezeichnet hat, sollte Deutschland trotz aller diplomatischer Rücksichtnahme das Kind beim Namen nennen:

Unter den wissenden Augen der deutschen Reichsregierung wurde von der osmanischen Regierung ein Völkermord an den Armeniern begangen.

Das Schicksal der Armenier in diesem Jahr als beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen des 20. Jahrhundert zu verstehen, ist ein wichtiger Schritt zur Anerkennung der historischen Verantwortung der Bundesrepublik. Es stärkt denjenigen in der Türkei den Rücken, die sich entgegen öffentlichen Drucks für eine ehrliche Aufarbeitung der historischen Realität und Aussöhnung mit den Armeniern einsetzen.

Autoren: Timo Leimeister und Matthias Winkler, wissenschaftliche Mitarbeiter bei Genocide Alert

Download: Das Policy Brief Völkermord an den Armeniern – Diplomatische Rücksichtnahme darf Anerkennung nicht im Weg stehen als PDF herunterladen.