Deutscher Bundestag
Drucksache 18/8613
18. Wahlperiode
31.05.2016
Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor den Opfern der Vertreibungen und Massaker an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten des Osmanischen Reichs, die vor über hundert Jahren ihren Anfang nahmen. Er beklagt die Taten der damaligen jungtürkischen Regierung, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich geführt haben. Ebenso waren Angehörige anderer christlicher Volksgruppen, insbesondere aramäisch/assyrische und chaldäische Christen von Deportationen und Massakern betroffen.
Im Auftrag des damaligen jungtürkischen Regimes begann am 24. April 1915 im osmanischen Konstantinopel die planmäßige Vertreibung und Vernichtung von über einer Million ethnischer Armenier. Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist. Dabei wissen wir um die Einzigartigkeit des Holocaust, für den Deutschland Schuld und Verantwortung trägt.
Der Bundestag bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs trotz eindeutiger Informationen auch von Seiten deutscher Diplomaten und Missionare über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht hat, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen. Das Gedenken des Deutschen Bundestages ist auch Ausdruck besonderen Respektes vor der wohl ältesten christlichen Nation der Erde.
Der Deutsche Bundestag bekräftigt seinen Beschluss aus dem Jahr 2005 (Drs. 15/5689), der dem Gedenken der Opfer wie auch der historischen Aufarbeitung der Geschehnisse gewidmet war und das Ziel verfolgte, zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beizutragen. Rednerinnen und Redner aller Fraktionen haben am einhundertsten Gedenktag, dem 24. April 2015, bei der Debatte im Deutschen Bundestag und insbesondere der Bundespräsident am Vorabend der Debatte den Völkermord an den Armeniern verurteilt, der Opfer gedacht sowie zur Versöhnung aufgerufen. Das Deutsche Reich trägt eine Mitschuld an den Ereignissen.
Der Bundestag bekennt sich zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands. Dazu gehört, Türken und Armenier dabei zu unterstützen, über die Gräben der Vergangenheit hinweg nach Wegen der Versöhnung und Verständigung zu suchen. Dieser Versöhnungsprozess ist in den vergangenen Jahren ins Stocken geraten und bedarf dringend neuer Impulse.
Der Deutsche Bundestag ehrt mit seinem Gedenken an die unvorstellbar grausamen Verbrechen nicht nur deren Opfer, sondern auch all diejenigen im Osmanischen Reich und im Deutschen Reich, die sich vor über hundert Jahren unter schwierigen Umständen und gegen den Widerstand ihrer jeweiligen Regierung in vielfältiger Weise für die Rettung von armenischen Frauen, Kindern und Männern eingesetzt haben.
Heute kommt schulischer, universitärer und politischer Bildung in Deutschland die Aufgabe zu, die Aufarbeitung der Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert in den Lehrplänen und -materialien aufzugreifen und nachfolgenden Generationen zu vermitteln. Dabei kommt insbesondere den Bundesländern eine wichtige Rolle zu.
Der Deutsche Bundestag ist der Ansicht, dass das Gedenken an die Opfer der Massaker und Vertreibungen der Armenier unter Berücksichtigung der deutschen Rolle einschließlich seiner Vermittlung an Mitbürgerinnen und Mitbürger türkischer und armenischer Herkunft auch einen Beitrag zur Integration und zum friedlichen Miteinander darstellt.
Der Deutsche Bundestag begrüßt die Zunahme von Initiativen und Beiträgen in den Bereichen von Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kunst und Kultur auch in der Türkei, welche die Aufarbeitung der Verbrechen an den Armeniern und die Versöhnung zwischen Armeniern und Türken zum Ziel haben.
Der Deutsche Bundestag ermutigt die Bundesregierung weiterhin, dem Gedenken und der Aufarbeitung der Vertreibungen und Massaker an den Armeniern von 1915 Aufmerksamkeit zu widmen. Auch begrüßt der Deutsche Bundestag jede Initiative, die diesem Anliegen Anschub und Unterstützung zu verleihen.
Die eigene historische Erfahrung Deutschlands zeigt, wie schwierig es für eine Gesellschaft ist, die dunklen Kapitel der eigenen Vergangenheit aufzuarbeiten. Dennoch ist eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte die wohl wichtigste Grundlage für Versöhnung sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch mit anderen. Es ist dabei zu unterscheiden zwischen der Schuld der Täter und der Verantwortung der heute Lebenden. Das Gedenken an die Vergangenheit mahnt uns außerdem, wachsam zu bleiben und zu verhindern, dass Hass und Vernichtung immer wieder Menschen und Völker bedrohen.
Der Deutsche Bundestag nimmt die seit 2005 unternommenen Versuche von Vertretern Armeniens und der Türkei wahr, in Fragen des Erinnerns und der Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen aufeinander zuzugehen. Das Verhältnis beider Staaten ist jedoch weiterhin spannungsreich und von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Deutschland sollte Türken und Armenier dabei unterstützen, sich anzunähern. Eine konstruktive Aufarbeitung der Geschichte ist dabei als Basis für eine Verständigung in Gegenwart und Zukunft unerlässlich.
Eine Entspannung und Normalisierung der Beziehungen zwischen der Republik Türkei und der Republik Armenien ist auch für die Stabilisierung der Region des Kaukasus wichtig. Deutschland sieht sich dabei im Rahmen der EU-Nachbarschaftspolitik aufgrund seiner geschichtlichen Rolle in den deutsch-armenisch-türkischen Beziehungen in einer besonderen Verantwortung.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:
- im Geiste der Debatte des Deutschen Bundestags vom 24. April 2015 zum 100. Jahrestag weiterhin zu einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung mit der Vertreibung und fast vollständigen Vernichtung der Armenier 1915/1916 sowie der Rolle des Deutschen Reiches beizutragen,
- die türkische Seite zu ermutigen, sich mit den damaligen Vertreibungen und Massakern offen auseinanderzusetzen, um damit den notwendigen Grundstein zu einer Versöhnung mit dem armenischen Volk zu legen,
- sich weiterhin dafür einzusetzen, dass zwischen Türken und Armeniern durch die Aufarbeitung von Vergangenheit Annäherung, Versöhnung und Verzeihen historischer Schuld erreicht wird,
- weiterhin wissenschaftliche, zivilgesellschaftliche und kulturelle Aktivitäten in der Türkei und in Armenien zu unterstützen und im Rahmen verfügbarer Haushaltsmittel zu fördern, die dem Austausch und der Annäherung sowie der Aufarbeitung der Geschichte zwischen Türken und Armeniern dienen,
- eine Aufarbeitung der historischen Ereignisse durch die Türkei und Armenien als ersten Schritt zur Versöhnung und zur längst überfälligen Verbesserung der türkisch-armenischen Beziehungen aktiv zu unterstützen, z.B. durch Stipendien für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Unterstützung zivilgesellschaftlicher Kräfte aus beiden Ländern, die sich für Aufarbeitung und Versöhnung engagieren,
- türkische und armenische Regierungsvertreter zu ermutigen, den derzeit stagnierenden Normalisierungsprozess der zwischenstaatlichen Beziehungen beider Länder fortzuführen,
- sich gegenüber der türkischen und der armenischen Regierung für die Ratifizierung der 2009 unterzeichneten Zürcher Protokolle einzusetzen, die eine Kommission zur wissenschaftlichen Untersuchung der Geschichte, die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen und die Öffnung der gemeinsamen Grenze vorsehen,
- dafür einzutreten, dass die in jüngster Zeit begonnene Pflege des armenischen Kulturerbes in der Republik Türkei fortgesetzt und intensiviert wird,
- im Rahmen finanzieller Möglichkeiten auch weiterhin innerhalb Deutschlands Initiativen und Projekte in Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Kultur zu fördern, die eine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen von 1915/1916 zum Thema haben.
Berlin, den 31. Mai 2016
Volker Kauder, Gerda Hasselfeldt und Fraktion
Thomas Oppermann und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion
Begründung
Die Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges war die größte und folgenschwerste Katastrophe in der mehrtausendjährigen Geschichte des armenischen Volkes. Den Deportationen und Massenmorden fielen nach unabhängigen Berechnungen über einer Million Armenier zum Opfer. Zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen bezeichnen die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord. Das Gedenken an diese Vertreibungen und Massaker ist deshalb neben Religion und Sprache von zentraler Bedeutung für die Identität dieses Volkes.
Der Deutsche Bundestag gedenkt der Ereignisse auch im Zusammenhang des aktuellen Erinnerns an den Ersten Weltkrieg. Das Deutsche Reich war militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches. Die damalige deutsche Reichsregierung, die über die Verfolgung und Ermordung der Armenier informiert war, blieb dennoch untätig. Die Bundesrepublik Deutschland sieht sich in der Verantwortung, die Aufarbeitung dieses Verbrechens zu fördern und die Erinnerung daran wach zu halten.
Bis heute bestreitet die Türkei entgegen der Faktenlage, dass der Vertreibung, Verfolgung und Ermordung der Armenier eine Planmäßigkeit zugrunde gelegen hätte bzw. dass das Massensterben während der Umsiedlungstrecks und die verübten Massaker von der osmanischen Regierung gewollt waren.
Insgesamt wird das Ausmaß der Massaker und Deportationen in der Türkei immer noch angezweifelt. Allerdings gibt es auch gegenläufige Tendenzen. Im Jahre 2008 gab es Anlass zur Hoffnung auf eine türkisch-armenische Annäherung, als die Staatspräsidenten beider Länder gemeinsam ein Fußballländerspiel besuchten und damit ihren Willen für weitere Gespräche demonstriert hatten. 2009 wurde zwischen den Außenministern beider Länder ein gemeinsames Protokoll unterzeichnet, in dem u.a. die Gründung einer Kommission vorgesehen war, welche die Geschichte wissenschaftlich untersuchen sollten. Dieses Protokoll wurde aber bis heute in keinem der Parlamente beider Länder verabschiedet.
Eine Versöhnung der beiden Völker ist nur dann denkbar, wenn die Ereignisse vor 100 Jahren grundlegend aufgeklärt und die Fakten nicht weiter bestritten werden. Dazu ist es erforderlich, dass Wissenschaftler und Journalisten in der Türkei bei der Aufarbeitung der Geschichte der Vertreibung und Ermordung von Armeniern frei und ohne Angst vor Repressionen arbeiten können. Es gibt bereits zahlreiche Initiativen in der Türkei, die die Aufarbeitung der Massaker zum Thema haben. Das Thema wird seit einigen Jahren in der türkischen Öffentlichkeit vermehrt kontrovers diskutiert. Diese Entwicklungen sind genauso zu begrüßen, wie grenzüberschreitende zivilgesellschaftliche Projekte, die vom Auswärtigen Amt seit vielen Jahren finanziell unterstützt werden.
Das Deutsche Reich war als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches ebenfalls tief in diese Vorgänge involviert. Sowohl die politische als auch die militärische Führung des Deutschen Reichs war von Anfang an über die Verfolgung und Ermordung der Armenier informiert. Als der evangelische Theologe Dr. Johannes Lepsius am 5. Oktober 1915 im Deutschen Reichstag die Ergebnisse seiner im Juli/August 1915 in Konstantinopel durchgeführten Recherchen vortrug, wurde das gesamte Thema von der deutschen Reichsregierung unter Zensur gestellt. Ebenso wurde sein „Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei“, den er direkt an die Reichstagsabgeordneten geschickt hatte, 1916 von der deutschen Militärzensur verboten und beschlagnahmt und den Abgeordneten erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs 1919 ausgehändigt. Trotz dringender Eingaben vieler deutscher Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und den Kirchen, darunter Politiker wie Philipp Scheidemann, Karl Liebknecht oder Matthias Erzberger und bedeutende Persönlichkeiten aus der evangelischen und katholischen Kirche wie z. B. Adolf von Harnack und Lorenz Werthmann, unterließ es die deutsche Reichsregierung, auf ihren osmanischen Verbündeten wirksamen Druck auszuüben.
Auch die Akten des Auswärtigen Amts, die auf Berichten der deutschen Botschafter und Konsuln im Osmanischen Reich beruhen, dokumentieren die planmäßige Durchführung der Massaker und Vertreibungen. Sie stellen die wichtigste staatliche Überlieferung zu den damaligen Geschehnissen dar. Das Auswärtige Amt hat diese Akten bereits vor vielen Jahren zugänglich gemacht. Bereits 1998 wurde Armenien ein kompletter Satz dieser Akten auf Mikrofiche übergeben. Die Türkei hat anschließend ebenfalls einen Satz erworben.