Die Umsetzung und Weiterentwicklung der Schutzverantwortung seit 2005
Der Weltgipfel der Vereinten Nationen im September 2005 endete mit einem für die Schutzverantwortung positiven Abschlussdokument. Die Staats- und Regierungschefs erkannten an, dass jeder Staat die Verantwortung zum Schutz seiner Bevölkerung vor Massenverbrechen hat und dass die internationale Gemeinschaft die Staaten dabei unterstützen soll. Scheitert ein Staat darin wäre die Staatengemeinschaft bereit aktiv zu werden. In den darauf folgenden Jahren hat sich jedoch herauskristallisiert, dass die Hauptherausforderung darin besteht, diese grundsätzliche Akzeptanz in wirksames Handeln auf allen Ebenen umzusetzen.
Seit dem Weltgipfel versuchen das UN Sekretariat und einige wohlgesinnte Staaten die Schutzverantwortung in der Arbeit der Vereinten Nationen zu verankern. So wurde am 28. April 2006, sechs Monate nach dem Gipfel, im Sicherheitsrat die Resolution 1674 über den Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten verabschiedet, in der sich der Sicherheitsrat zum ersten Mal auf die Schutzverantwortung bezog und die Zustimmung des Rats zu den Paragraphen 138 und 139 des Abschlussdokuments bekräftigte. Im gleichen Jahr nahm die Resolution 1706, die den Einsatz von 17.300 UN-Friedenstruppen in Darfur erlaubte, direkten Bezug auf die RtoP.
Im Jahr 2009 bekräftigte der Sicherheitsrat zwar in Resolution 1894 zum Schutz von Zivilisten nochmals die Paragraphen des Abschlussdokuments. Erst seit 2011 bezieht sich der Sicherheitsrat aber häufiger auf die Schutzverantwortung beim Auftreten von Massenverbrechen: Die Resolutionen 1970 und 1973 erinnerten daran, dass „die libyschen Behörden die Verantwortung [haben], ihre Bevölkerung zu schützen“. Resolution 1973 genehmigte die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen, um diesen Schutz sicherzustellen. Auch in der Resolution 1975 zur Situation in der Elfenbeinküste wurde unterstrichen, dass „die primäre Verantwortung eines jeden Staates der Schutz der Zivilbevölkerung“ ist. Die Resolution betätigte zudem die Aufgabe der UN-Mission und französischer Truppen in der Elfenbeinküste im eskalierenden Konflikt über die Präsidentschaftswahlen Zivilisten vor Übergriffen zu schützen. Auch Ende 2012 schrieb Resolution 2085 die Schutzverantwortung in den Aufgabenkatalog der Internationalen Unterstützungsmission in Mali unter afrikanischer Führung (AFISMA): Neben der Bekämpfung islamistischer Rebellen im Norden Malis gehörte auch die Unterstützung der „malischen Behörden bei der Wahrnehmung ihrer Hauptverantwortung für den Schutz der Bevölkerung“ zu ihren Aufgaben. Die Schutzverantwortung bietet im Sicherheitsrat inzwischen immer häufiger den politischen Rahmen für Diskussionen über bewaffnete Konflikte und Massenverbrechen. Das Global Center for the Responsibility to Protect in New York zählte bis Mai 2016 insgesamt 47 Bezüge auf die Schutzverantwortung in Resolutionen des Sicherheitsrates.
Widerstand und Herausforderungen
Der Widerstand gegen eine allzu häufige Anwendung des Konzepts hält aber bis heute an. So stimmten Südafrika, China und Russland am 12. Januar 2007 gegen einen Resolutionsentwurf, der das brutale Vorgehen der Militärjunta gegen die Proteste in Myanmar verurteilte. Die Vertreter dieser Länder argumentierten, dass Burma keine Bedrohung für den Frieden darstelle und die inneren Angelegenheiten eines Staates nicht im Sicherheitsrat zu diskutieren seien. Beiträge von Mitgliedern des Sicherheitsrates während dieser Diskussion werfen die Frage nach der Rolle des Rates bei innerstaatlichen Situationen auf, in der die Bevölkerung von Menschenrechtsverletzungen im großen Ausmaß bedroht wird. Auch in der Resolution 1769 (vom 31. Juli 2007), die den Einsatz einer 26.000 Mann starken gemeinsamen UN/AU-Blauhelmtruppe für Darfur autorisierte, wurde davon Abstand genommen, auf die Schutzverantwortung oder die offene Debatte über den Schutz von Zivilpersonen Bezug zu nehmen.
Doch auch die Anwendung der Schutzverantwortung stieß auf Bedenken: Insbesondere nach der NATO-geführten Libyen Intervention äußerten viele Staaten massive Kritik an der Umsetzung des vom Sicherheitsrat erteilten Mandats. Der gewaltsame Regimewechsel erntete Missbilligung und wurde scharf angegriffen, da viele Staaten das Vorgehen der NATO und ihrer Verbündeten in Libyen als Mandatsüberschreitung ansahen. Das aktuell dramatischste Beispiel für internationalen Widerstand gegen eine Reaktion unter der Schutzverantwortung bietet der seit 2011 andauernde Bürgerkrieg in Syrien. Vor allem Russland und China blockierten mit ihren Vetos im Sicherheitsrat jegliche Entwicklung, aber auch Länder wie Brasilien, Indien oder Südafrika äußerten starke Kritik. Auch hinsichtlich der von der UN dokumentierten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Nordkorea blieb die Staatengemeinschaft bislang tatenlos.
In einer Vielzahl von Konflikten kommt es auch weiterhin zu Massenverbrechen (»Genocide Alert Monitor). Die Staatengemeinschaft kann sich jedoch nur in Einzelfällen auf eine Reaktion einigen und kann oftmals vor Ort nur wenig bewirken.
Die Umsetzung bestimmter Aspekte der Schutzverantwortung ist bisher noch nicht vollständig vollzogen. Anstatt sich zum Beispiel auf die Frage der Prävention von Massenverbrechen zu konzentrieren, stand lange vor allem die Fähigkeit des Sicherheitsrates im Mittelpunkt der Diskussion, akuten Massenverbrechen Einhalt zu gebieten. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon merkte im Jahre 2009 an, dass viele institutionelle Empfehlungen, einschließlich der Frühwarnung, Analyse und Weiterbildung, noch nicht vollständig umgesetzt seien. Die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedstaaten seien außerdem nicht genügend gerüstet, um ihrer grundlegendsten Präventions- und Schutzverantwortungen gerecht zu werden.
Umsetzung der Schutzverantwortung in der UN
Diese hier beschriebenen Schwierigkeiten sollten aber nicht außer Acht lassen, dass die Schutzverantwortung seit der ersten Erwähnung durch die ICISS-Kommission und ihrer offiziellen Verabschiedung durch die UN-Vollversammlung 2005 einen weiten Weg beschritten hat. Heute ist die Schutzverantwortung ein Prinzip, das häufig herangezogen wird, um die Priorität des Schutzes der Zivilbevölkerung hervorzuheben. So hat die Generalversammlung am 7. Oktober 2009 eine Resolution verabschiedet, die an die Beschlüsse des Abschlussdokuments vom Weltgipfel erinnert, den Bericht des Generalsekretärs zur Umsetzung der Schutzverantwortung zur Kenntnis nimmt und die weitere Beschäftigung mit dem Thema beschließt.
Im UN-Sekretariat ist die Suche nach Wegen zur Umsetzung der Schutzverantwortung bereits fest verankert: Am 29. Mai 2007 ernannte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon Francis Deng als Sonderberater zur Verhinderung von Völkermord. Zu diesem, seit 2004 existierenden, Mandat des Sonderberaters gehört, vorhandene Informationen innerhalb des UN-Systems zusammenzutragen, als Frühwarnsystem zu dienen und dem Sicherheitsrat über den Generalsekretär Empfehlungen zu machen. Ein weiterer wichtiger Schritt zur Festigung der RtoP war die Ernennung von Edward C. Luck zum Sonderberater für die Schutzverantwortung am 21. Februar 2008. Seine primäre Rolle ist die konzeptionelle Entwicklung und Konsensbildung für die sich entwickelnde Norm. Er soll zudem die Generalversammlung unterstützen, die Diskussionen zum Thema fortzusetzen. Diese geschieht vor allem in Form jährlicher Berichte des Generalsekretärs zur Umsetzung der Schutzverantwortung und den damit verknüpften informellen interaktiven Dialogen der Generalversammlung zur RtoP.
Seit der senegalesische Diplomat Adama Dieng 2012 das Amt des Sonderberaters für Völkermordprävention übernahm und die Politikwissenschaftlerin Jennifer Welsh 2013 zur Sonderberaterin für die RtoP ernannt wurde ist zudem ein stärkerer Fokus auf aktuelle Konflikte feststellbar. In zahlreichen Stellungnahmen zu aktuellen Fällen in denen Massenverbrechen drohen oder begangen werden erinnern sie Staats-und Regierungschefs an ihre Zusagen, die sie auf dem Weltgipfel 2005 zur RtoP gemacht hatten. Sie werden in ihrer Arbeit von einem gemeinsamen Büro unterstützt. Das Büro der beiden Sonderberater hat auch einen Analyserahmen zur Früherkennung von möglichen Massenverbrechen und ein darauf basierendes Ausbildungsprogramm für Diplomaten entwickelt.
Den Grundstein für diesen Analyserahmen legte der Bericht des Generalsekretärs vom 14. Juli 2010 zum Thema „Frühwarnsysteme, Beurteilung und die Schutzverantwortung“. Darin empfiehlt er die Stärkung der Mechanismen für den Austausch und die Analyse von Informationen und für die Verbesserung der Frühwarnsysteme. Wie in den beiden Jahren zuvor fand auch 2011 ein informeller Dialog der Generalversammlung zu einem weiteren Bericht des Generalsekretärs zur Rolle von regionalen Organisationen bei der Umsetzung der Schutzverantwortung statt. Trotz des andauernden Disputs über die Vorgehensweise der NATO in Libyen, bekannten sich viele Staaten zur Schutzverantwortung. Im Herbst desselben Jahres legte Brasilien zudem ein Konzeptpapier für eine „Responsibility while Protecting“ (RwP) vor und forderte damit eine zeitliche Reihenfolge für die drei Säulen der Schutzverantwortung, um ein militärisches Eingreifen zu verzögern. Zudem solle ein Rechenschaftsmechanismus für durch den Sicherheitsrat legitimierte Schutzverantwortungs-Interventionen wie in Libyen geschaffen werden. Viele Staaten begrüßten diesen Vorstoß, sahen sie doch den von der NATO forcierten Regimewechsel in Libyen als Überdehnung des ursprünglich erteilten Mandats. Im Westen wurde die RwP eher kritisch gesehen: Eine strikte zeitliche Abfolge der drei Säulen der RtoP könnte, so die Argumentation, eine schnelle Reaktion auf andauernde Massenverbrechen verzögern. Zwar reagierte Brasilien zunächst auf die Kritik und passte die RwP-Idee an, verfolgte die Initiative daraufhin aber nur noch halbherzig weiter.
Im Jahr 2012 legte der UN-Generalsekretär wieder einen Bericht vor und diskutierte darin die unter der dritten Säule der Schutzverantwortung verfügbaren Instrumente zur Reaktion der internationalen Gemeinschaft in Fällen, in denen Staaten ihrer Schutzverantwortung nicht nachkommen können oder wollen. In den Folgejahren widmeten sich die Berichte des Generalsekretärs dem Thema der Prävention von Massenverbrechen. So diskutierte der Bericht aus dem Jahr 2013 die Verantwortung der einzelnen Staaten und erörterte Möglichkeiten zur nationalen Umsetzung von Prävention. Im Jahr 2014 standen dann Möglichkeiten der internationalen Unterstützung in der Prävention von Massenverbrechen im Mittelpunkt des Berichts. Der Bericht im Jahr 2015 stellte das „vitale und andauernde Bekenntnis“ der Staatengemeinschaft zur Umsetzung der Schutzverantwortung in den Mittelpunkt. In seinem Bericht ging der Generalsekretär dabei auf die zehnjährige Entwicklung der Schutzverantwortung ein und identifizierte sechs Prioritäten für die nächsten zehn Jahre:
- Internationale Gemeinschaft, Regionalorganisationen und Staaten sollten ein ihr politisches Bekenntnis zum Schutz von Menschen vor Massenverbrechen bekräftigen;
- Prävention sollte im Mittelpunkt der R2P-Agenda stehen;
- die Möglichkeiten für zügige und entschiedene Reaktionen auf Massenverbrechen sollten dabei jedoch ebenfalls konkretisiert und ausgebaut werden;
- das Risiko des Wiederauftretens von Massenverbrechen nach dem Ende von Krisen müsse thematisiert werden;
- Regionale Aktivitäten in den Bereichen Prävention und Reaktion auf Massenverbrechen müssten gestärkt werden
- internationale Netzwerke, die sich der Prävention von Völkermord und anderen Gräueltaten widmeten, müssten gestärkt werden.
Entsprechend dieser Prioritäten, diskutierte der Bericht des Generalsekretärs zur RtoP im Jahr 2016, wie internationales kollektives Handeln zur Umsetzung der Schutzverantwortung mobilisiert werden kann. Der 2017 ins Amt gekommene UN-Genersalsekretär António Guterres setzte die Umsetzung der Schutzverantwortung durch das Sekretariat fort. Im Jahr 2017 rückte sein Bericht zur R2P die Frage der Verantwortlichkeit für die Prävention von Massenverbrechen ins Zentrum.
Die Berichte des Generalsekretärs stießen bisher zwar immer auf allgemeine Zustimmung in der Staatengemeinschaft. Die aktive Rolle des Generalsekretärs sowie die wiederkehrenden Bezüge auf die Schutzverantwortung in Resolutionen sowohl des Sicherheitsrates wie auch der Generalversammlung zeigen, dass das Prinzip der RtoP bedeutende Befürworter innerhalb der Vereinten Nationen gefunden und sich inzwischen etabliert hat.
Die Debatten über die Berichte des UN-Generalsekretärs zur internationalen Schutzverantwortung zeigen aber auch grundsätzliche Meinungsunterschiede hinsichtlich der richtigen Art der Umsetzung der Schutzverantwortung. Die Hürden für eine effektive Umsetzung der sogenannten Responsibility to Protect sind weiterhin hoch. Die Staatengemeinschaft reagiert im Angesicht von Massenverbrechen häufig nur schwach oder langsam – Beispiele sind Syrien, Jemen oder Zentralafrika. In seinem Bericht zur Umsetzung der Schutzverantwortung 2017 deutet Generalsekretär Guterres auf diese Probleme. Dabei fordert er, dass die Staaten endlich ihrer rechtlichen, moralischen und politischen Verantwortung nachkommen sollten, mehr für die Prävention von Massenverbrechen zu tun.
Fortschreitende Institutionalisierung der R2P
Die vom Generalsekretär angeregte weitere Institutionalisierung der RtoP schlägt sich bereits in einigen zwischenstaatlichen Netzwerken nieder: Bereits seit 2010 existiert die „R2P Focal Point Initiative“. Ungefähr 60 Staaten haben inzwischen eine solche nationale Kontaktperson für die Umsetzung der RtoP eingesetzt. Im Jahr 2012 wurde außerdem das „Latin American Network for Genocide and Mass Atrocity Prevention“ ins Leben gerufen, an welchem inzwischen fast alle Staaten Südamerikas beteiligt sind. Seit 2013 versucht zudem die Initiative „Global Action against Mass Atrocity Crimes“ (GAAMAC) Staaten dazu anzuregen und dabei zu unterstützen, Präventionsprojekte anzustoßen und diese miteinander zu vernetzen.
Auch wenn noch viel erreicht werden muss und trotz der häufigen Tatenlosigkeit der Staatengemeinschaft in Fällen von Massenverbrechen, hat sich seit 2005 einiges getan hinsichtlich der Umsetzung der RtoP. Es ist zu erwarten, dass die Schutzverantwortung auch zukünftig weiterentwickelt wird und ihre Kernaussagen schrittweise die Art und Weise verändern, wie die Staatengemeinschaft mit schweren Menschenrechtsverletzungen und Brüchen des humanitären Völkerrechts umgeht.
(Stand Mai 2018)
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