Schutzzone in Nordsyrien? Für Zivilisten hätte es mehr gebraucht
Annegret Kramp-Karrenbauers Vorschlag für eine Schutzzone in Syrien ist umstritten. Aber die Debatte unterstreicht: Die Politik muss sich dringend mit möglichen deutschen Reaktionen auf Massenverbrechen befassen. Im starken Kontrast zur türkischen sogenannten “Sicherheitszone” müssen Schutzzonen immer den Schutz von Zivilisten in den Mittelpunkt stellen.
Was bleibt: Die hoffnungslose Lage der Zivilbevölkerung
Eine Umsetzung von Kramp-Karrenbauers Ruf nach einer Schutzzone in Nordsyrien ist nicht mehr erwartbar. Der Koalitionspartner ist pikiert, die internationalen Verbündeten wurden überrumpelt. Nachdem Außenminister Heiko Maas vorab lediglich per SMS über den Vorstoß Kramp-Karrenbauers informiert wurde, konnte die deutsche Verteidigungsministerin auf dem NATO-Treffen in Brüssel weder auf Rückendeckung des Koalitionspartners noch des Auswärtigen Amtes setzen. Auch im eigenen Ministerium schien zumindest zum Zeitpunkt der Ankündigung kein Konzept vorzuliegen. Ohne politische Unterstützung des Koalitionspartners im Bundestag ist keine deutsche militärische Beteiligung machbar. So bleibt der Vorschlag wenig mehr als ein auf der außenpolitischen Bühne offen vorgetragenes Gedankenspiel, dem es an Umsetzbarkeit und politischem Rahmen fehlt. Internationale Partner überzeugt man so nicht, für eine gefährliche Mission erhebliche Mengen an Soldaten und Kampfgerät bereitzustellen.
Die US-Regierung gab schon vor dem NATO-Treffen bekannt, die Idee zwar akzeptabel zu finden, sich militärisch aber nicht daran beteiligen zu wollen. Die Türkei und Russland einigten sich unterdessen nur einen Tag nach Kramp-Karrenbauers Vorschlag auf ihre eigene Version einer Sicherheitszone in Nordsyrien. Die Implementierung von Kramp-Karrenbauers Vorschlag wäre im UN-Sicherheitsrat zumindest auf die Tolerierung Russlands und vor Ort auf Unterstützung der Türkei angewiesen. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik hat einen merkwürdigen und schlecht koordinierten Auftritt hingelegt, der mit dem Besuch von Heiko Maas ausgerechnet in der Türkei seinen Höhepunkt fand. Was bleibt, jenseits der politischen Schuldzuweisungen und innenpolitischem Wahlkampfgeplänkel, ist die hoffnungslose Lage der Zivilbevölkerung in Syrien.
Kramp-Karrenbauers Vorstoß initiiert eine überfällige Debatte
Seit mehr als sieben Jahren werden in Syrien schwerwiegende Massenverbrechen begangen. Seit mehr als sieben Jahren stehen Deutschland und die europäischen Partner vor allem an der Seitenlinie und hoffen, dass der Krieg schon irgendwann vorüber geht. Doch der Krieg ist längst nicht zu Ende; insbesondere die Massenverbrechen nicht, die auch in den Foltergefängnissen Assads andauern werden. Es werden weiterhin systematische Kriegsverbrechen verübt, etwa durch die syrische und russische Armee in Idlib oder beim aktuellen türkischen Einmarsch in die kurdische de facto Selbstverwaltungszone.
Die türkischen Pläne, arabische Geflüchtete in den kurdischen Gebieten Syriens anzusiedeln, Kurden zu vertreiben und somit die demografische Struktur zu ändern, könnten de facto auf eine ethnische Säuberung des Gebietes hinauslaufen. Gerade angesichts der von den Syrian National Army begangenen Kriegsverbrechen, die mit der Türkei verbündet sind, kann dies durchaus als reale Gefahr betrachtet werden.
Kramp-Karrenbauers Vorschlag ist daher trotz allem eine überfällige Initiative zur Frage, wie Deutschland auf Massenverbrechen reagieren soll und wie Zivilisten im Kriegsgebiet geschützt werden können. Dass es dafür erst einer völkerrechtswidrigen Intervention eines NATO-Partners bedarf, ist eine traurige Ironie.
Das Leid der Zivilisten in Syrien jetzt in den Mittelpunkt zu stellen und die Debatte neu aufzurollen, ist deshalb essenziell, weil ihnen eine Schutzzone tatsächlich helfen könnte. Der unausgegorene Vorstoß wurde auch deshalb bei den internationalen Partnern und in deutschen außen- und sicherheitspolitischen Kreisen nicht vollends abgekanzelt, da er in eine Bresche schlägt, die längst hätte gefüllt werden müssen.
Der Schutz von Zivilisten muss das klare Ziel sein
Die Bundesregierung hat sich in ihren Leitlinien “Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern” erneut zu ihrer Verantwortung bekannt, Zivilisten vor Massenverbrechen zu schützen. Für Extremfälle, wenn andere Mittel aussichtlos erscheinen, kann dies im Rahmen der Schutzverantwortung (englisch: Responsibility to Protect) auch ein militärisches Engagement, also etwa eine Schutzzone beinhalten. Der Schutzzonen-Vorschlag der Verteidigungsministerien blieb allerdings insgesamt vage.
Bemerkenswert ist, dass der Schutz von Zivilisten keine zentrale Rolle zu spielen scheint. Kramp-Karrenbauer nannte als Ziele unter anderem die Bekämpfung des IS, die Umsetzung türkischer Sicherheitsinteressen oder die Stabilisierung der Region als Voraussetzung für zivilen Wiederaufbau und die freiwillige Rückkehr von Geflüchteten. Das eindeutige Hauptziel einer Schutzzone muss dagegen immer zunächst der Schutz der dort lebenden Zivilbevölkerung sein. Dies kann eine Schutzzone unter den richtigen Voraussetzungen leisten. Langfristig Konflikte lösen können Schutzzonen dagegen nicht, wie die Erfahrungen von Srebrenica und zahlreichen weiteren historischen Beispielen belegen.
Ohne politische Lösung bleibt die Integrität einer Schutzzone von fragilen Abkommen oder dem militärischem Engagement Dritter abhängig. Vor allem aber fehlt es ohne politische Einbettung an klaren Zielvorgaben und Ausstiegsoptionen. Was soll der Einsatz erreichen? Wann wäre ein solcher Einsatz nicht länger tragbar? Die Forschung zu Schutzzonen zeigt außerdem, dass diese selten Fluchtbewegungen aufhalten und wenn, dies in einer Vielzahl von Fällen nur unter Missachtung des non-refoulement Grundsatzes des Genfer Flüchtlingskonvention erreichen. Eine Schutzzone zum Schutz von Zivilisten bedarf daher immer zwangsläufig auch einer Einbettung in eine politische und langfristige Strategie.
“Schutzzone” vs. “Sicherheitszone”: Es braucht klare Begriffe
Die türkische Regierung fordert seit langem eine Sicherheitszone in Nordsyrien. Sie meint damit allerdings eine militärische Pufferzone gegen die Kurden, die nichts mit einer Zone zum Schutz der Zivilbevölkerung gemein hat, sondern eher wie ein Instrument zur ethnischen Säuberung anmutet. Dieser Referenzpunkt sollte einer deutschen Verteidigungsministerin bewusst sein, wenn sie in der aktuellen Situation von “Sicherheitszonen” spricht. Für einen ergebnisorientierten Vorschlag bedarf es einer präziseren Wortwahl. In Kramp-Karrenbauers Stellungnahmen ist mal die Rede von “Schutzzone”, mal von “international kontrollierter Sicherheitszone”. In der politischen Diskussion kursiert eine ganze Reihe weiterer Begrifflichkeiten. In Wahrheit ist keiner dieser Begriffe eindeutig im Völkerrecht oder in der Wissenschaft definiert. Im Englischen lassen sich bisweilen mehr als ein Dutzend Begriffe auflisten, die verwandte Phänomene nahezu austauschbar beschreiben. Grundsätzlich gilt aber: Wer von “Schutzzonen” spricht, sollte damit auch ein Instrument zum Schutz der Zivilbevölkerung meinen. Diese Wortwahl steht in der Tradition von verschiedenen Versuchen die Zivilbevölkerung zu schützen, beispielsweise im früheren Jugoslawien der 1990er, im Nordirak nach dem ersten Golfkrieg oder im heutigen Südsudan.
Militärische Absicherung oder Kooperation: Es muss Klarheit über das Vorgehen herrschen
Sollten Schutzzonen – in Syrien oder anderswo – Teil des deutschen Instrumentariums zur Reaktion auf Massenverbrechen werden, ist Klarheit über die korrekte Vorgehensweise entscheidend. Die Forschung zu Schutzzonen zeigt, dass drei, grundsätzlich verschiedene Logiken bei der Errichtung existieren:
- Der erste Ansatz basiert auf einer freiwilligen, im Idealfall vertraglich zugesicherten, Zustimmung aller beteiligten Parteien. Der Schutz in einem demilitarisierten Gebiet ergibt sich dabei einzig und allein aus der Zurückhaltung aller Seiten. Dieser, für den “klassischen” zwischenstaatlichen Krieg in den Genfer Konventionen kodifizierte Ansatz, erscheint in Syrien und anderen asymmetrischen Kriegen unrealistisch. Es wäre naiv anzunehmen, dass das Assad-Regime, der IS, die YPG, die Türkei, Russland, der Iran, die USA und unzählige weitere Gruppierungen eine gemeinsame demilitarisierte Schutzzone respektieren würden. Das systematische Vorgehen gegen drei der vier 2017 in Astana vereinbarten “De-Eskalationszonen” unterstreicht darüber hinaus massive Zweifel an der Verlässlichkeit Russland, Irans und des Assad-Regimes.
- Die Alternative dazu ist eine militärisch durchgesetzte und abgesicherte Schutzzone. Dies würde de facto eine massive internationale Militäroperation bedeuten. Der bisherige Verlauf des Syrien-Kriegs lässt eine Flugverbotszone für dieses Szenario als unausweichlich erscheinen. Ein Einsatz von Bodentruppen dürfte ebenso nicht vermeidbar sein. Der Völkermord in der kollabierten Schutzzone in Srebrenica lehrt uns hierbei allerdings, dass eine militärische Drohkulisse allein im Zweifel nicht ausreicht. Im Notfall muss eine militärisch eingerichtete Schutzzone auch robust verteidigt werden können. Dabei sollten im Verteidigungsministerium vor der Einrichtung einer militärischen Schutzzone in Syrien nicht zuletzt folgende Fragen durchgeplant werden: Was ist zu tun, wenn es zu einer Konfrontation der Bundeswehr mit Staaten wie Russland oder dem Iran kommt? Wie ist damit umzugehen, wenn – wie in den 1990er Jahren in der Schutzzone im Nordirak geschehen – mit der Türkei sogar ein NATO-Partner die Integrität der Schutzzone militärisch in Frage stellt?
- In jedem Fall vermieden werden sollte die dritte Logik von Schutzzonen: das Verlassen einzig auf internationale Legitimität. In einem Szenario, in dem weder das Einverständnis aller Kriegsparteien noch die Bereitschaft zur kostspieligen und gefährlichen militärischen Durchsetzung vorliegen, gäbe es auch die Option eine Schutzzone einfach im Namen der internationalen Gemeinschaft auszurufen. Kurzfristig genügt manchmal tatsächlich schlicht die Präsenz eines blauen Helmes oder verstärke internationale Aufmerksamkeit um einzelne Attacken abwenden. Erfahrungen aus Ruanda und Bosnien haben aber gezeigt, dass solche nicht ausreichend abgesicherten Schutzzonen einem direkten Angriff im Zweifel nichts entgegenzusetzen haben. Schlimmer noch: Durch die räumliche Konzentration von Zivilisten, die auf den Schutz der internationalen Gemeinschaft vertrauen, erhöhen sie sogar die Gefahr von Massenverbrechen.
Sollte die deutsche Außenpolitik Schutzzonen ernsthaft in Erwägung ziehen, muss sie klar machen, ob diese im Einverständnis mit den Konfliktparteien eingerichtet oder auch ohne Kooperation durchgesetzt werden sollen. In Syrien scheint derzeit nur eine militärisch abgesicherte Variante realistisch. Unausgereifte und undurchdachte Schutzzonen-Vorschläge, wie Kramp-Karrenbauers aktueller Vorstoß, bieten dagegen die Gefahr, dass am Ende nicht viel mehr als guter Wille und international Aufmerksamkeit zum Schutz aufgeboten werden kann.
Fazit: Ein unklarer Vorschlag, aber eine wichtige Debatte
Der aktuelle Schutzzonen-Vorschlag ist unausgereift und potentiell gefährlich. Unpräzise Begriffe, Unklarheit über die Ziele und zahlreiche Fragen zum konkreten Vorgehen – sollte der Vorschlag je so umgesetzt werden, er liefe Gefahr den zu schützenden Zivilsten vor allem zu schaden. Doch Annegret Kramp-Karrenbauers Vorstoß ist wichtig: Trotz des Bekenntnisses zur Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen in den Leitlinien zur Krisenprävention, steht Deutschland Massenverbrechen häufig tatenlos gegenüber. Immerhin holt der Vorstoß die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik aus der Reserve. Es wird Zeit, den Schutz von Zivilisten in den Mittelpunkt der deutschen Syrien-Bemühungen zu stellen.
Autoren: Robin Hering & Jens Stappenbeck