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25 Jahre Srebrenica: Damaliges Versagen der UN ist bis heute eine Mahnung

Die bosnische Stadt Srebrenica ist bis heute ein Mahnmal des Scheiterns der Vereinten Nationen und der internationalen Gemeinschaft im Angesicht eines Völkermordes. Im Juli 1995 ermordeten dort bosnisch-serbische Truppen mehr als 8.000 muslimische Bosniaken. Es ist das schwerste Kriegsverbrechen auf europäischem Boden seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die in Srebrenica stationierten UN-Blauhelmsoldaten hatten den bosnisch-serbischen Truppen nichts entgegenzusetzen, die unter der Führung von Ratko Mladić im Juli 1995 in die Stadt einmarschierten. Zwar wurden die damaligen Geschehnisse international juristisch und politisch aufgearbeitet. Die Erinnerung an Srebrenica muss aber weiter als Mahnung verstanden werden: Auch heute noch kommt es zu ethnisch motivierter Gewalt sowie einseitiger Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten. Trotz aller politischen Bekenntnisse könnten sich Grausamkeiten wie 1995 in Srebrenica auch heute noch wiederholen. Wir müssen uns fragen: Sollten unsere Regierungen und die UN sich nicht intensiver und früher engagieren, um Menschen zu schützen?  

Die Probleme der UN-Mission UNPROFOR in Bosnien-Herzegowina 

In Folge der Unabhängigkeitserklärung Bosnien-Herzegowinas vom Vielvölkerstaat Jugoslawien im Februar 1992 brach ein Bürgerkrieg aus, mit christlichen bosnischen Serben und muslimischen Bosniaken als Hauptkonfliktparteien. Angesichts der eskalierenden Gewalt beauftragte der UNSicherheitsrat im Juni 1992 zunächst die vor Ort stationierte UN-Mission UNPROFOR damit, bei der Bereitstellung humanitärer Hilfe zu leisten. Er erteilte aber nicht das Mandat, Gewalt zum Schutz von Zivilisten anzuwenden. Dies ergänzte er ab Oktober 1992 durch eine von der NATO durchgesetzte Flugverbotszone über Bosnien-Herzegowina. Diese änderte jedoch wenig an der Lage. Die Kämpfe und Übergriffe eskalierten weiter.  

Im April und Mai 1993 verlangte der UNSicherheitsrat schließlich die Schaffung „sicherer Zonen” (safe areas“) um die bosnischen Städte Srebrenica, Sarajevo, Gorazde, Zepa, Tuzla und Bihac, die von serbischen Truppen belagert wurden. Im Juni 1993 beschloss er unter Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen eine weitere Erweiterung des Mandats der UNPROFOR. Die Mission sollte so in die Lage versetzt werden, Angriffe auf diese in Deutschland meist als Schutzzonen bezeichneten Gebiete zu verhindern und einen Rückzug bosnisch-serbischer Einheiten zu überwachen.  

Hierbei sahen sich die Blauhelme jedoch mit einem grundlegenden Problem konfrontiert. Die Rahmenbedingungen des Mandats basierten auf den klassischen Prinzipien des UN-Peacekeeping: Zustimmung der Konfliktparteien, Unparteilichkeit und minimaler Gewalteinsatz zur Selbstverteidigung. Die Aufgaben der UNPROFOR Mission, einschließlich der Absicherung humanitärer Hilfe und der Abschreckung von Angriffen auf die errichteten Schutzzonen, gingen jedoch weit über das hinaus, was die üblicherweise nur leicht bewaffneten Blauhelmsoldaten mit ihrer kleinen Truppenstärke leisten konnten.  

Statt der eigentlich von UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali für die Sicherung der Schutzzonen geforderten 34.000 UN-Soldaten bewilligte der UN-Sicherheitsrat lediglich 7.600 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten. Zudem war unklar, inwiefern sie überhaupt Gewalt einsetzen durften, um das Mandat zu erfüllen. Gleichzeitig konnten sich die Vereinten Nationen und die NATO lange nicht auf den Umfang des Mandats der NATO in der Verteidigung der Flugverbotszone sowie der Erlaubnis für Luftangriffe auf bosnisch-serbische Truppen einigen.  

Nachdem die NATO ab 1994 begann vereinzelt bosnisch-serbische Truppen am Boden zu bombardieren, um deren Rückzug aus vereinbarten Schutzzonen zu erzwingen, zeigte sich die Verwundbarkeit der UN-Truppen deutlich. Immer wieder nahmen bosnisch-serbische Truppen UN-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sowie Blauhelme als Geiseln, um Luftangriffe der NATO abzuschrecken.  

Die Eroberung Srebrenicas und die Ermordung von mehr als 8.000 Menschen 

Srebrenica lag damals inmitten serbisch kontrollierter Gebiete und wurde jahrelang belagert. Die serbische Seite erkannte eine Zugehörigkeit von Srebrenica und anderen Schutzzonen zum bosniakischen Gebiet nicht an.  

Der Präsident der bosnisch-serbischen Republika Srpska, Radovan Karadžić, befahl im März 1995, in der Schutzzone Srebrenica und in anderen Schutzzonen gezielt Unsicherheit durch Militäroperationen zu schaffen. Die Eingeschlossenen sollten die Hoffnung auf einen Ausweg verlieren. Im Sommer 1995 begannen die bosnisch-serbischen Truppen dann die sicheren Zonen anzugreifen. Die unerfahrenen und unzureichend ausgerüsteten UNPROFOR-Blauhelme standen zahlenmäßig überlegenen, entschlossenen serbischen Truppen gegenüber, die die Schutzzonen erobern wollten.  

Ab dem 6. Juli rückten die bosnisch- serbischen Truppen unter der Führung von General Mladić auf die Schutzzone um Srebrenica vor und griffen Posten der UNPROFOR an. Blauhelm-Kommandeur Thomas Karremans forderte mehrfach Luftunterstützung im UNPROFOR-Hauptquartier an. Dort war man jedoch überzeugt, Mladić wolle lediglich strategisch wichtige Positionen erobern und nicht Srebrenica an sich angreifen. Zudem fürchteten UN und NATO um das Leben niederländischer Blauhelmsoldaten, die zuvor als Geiseln genommenen worden waren. Hinzu kamen Befürchtungen, dass ein zu entschiedenes Vorgehen gegen die bosnischen Serben die Konfliktlösung für ganz Jugoslawien erschweren könnte. Weitere Kontrollposten der Blauhelme vor Ort wurden überrannt. Als die bosnisch-serbischen Truppen erkannten, dass die UNPROFOR-Truppen nicht in der Lage oder nicht willens waren ihren Vormarsch zu stoppen, rückten sie endgültig auf Srebrenica vor.  

Ratko Mladić und seine Truppen marschierten schließlich am 11. Juli in Srebrenica ein. Rund 20.000 Menschen suchten indessen im Verlauf des Vormarsches Schutz im UN-Truppenhauptquartier in Potočari, einem Vorort von Srebrenica. Die meisten davon Frauen und Kinder, jedoch auch rund 300 Männer. Die rund 400 niederländischen Soldaten vor Ort konnten jedoch nichts unternehmen, um die Menschen zu verteidigen. Ein Fluchtversuch einer Kolonne von rund 10.000 Menschen scheiterte. Als Mladic auch in Potočari einrückte, stimmten die Blauhelme aus Angst vor den Angreifern seinen Forderungen zu.   

Erst am 12 Juli 1995 verurteilte der UNSicherheitsrat den Angriff auf Srebrenica und forderte Mladić zum Rückzug auf. Die Resolution blieb aber wirkungslos. Mladić Truppen begannen damit, die Bevölkerung zu selektieren: Frauen und Kinder wurden in Bussen abtransportiert und in die Nähe muslimisch-kontrollierter Gebiete gebracht. Männer und Jungen im wehrfähigen Alter wurden gefangen genommen, in die umliegenden Wälder gebracht und in den folgenden Tagen dort erschossen. Ihre Leichen wurden in Massengräbern verscharrt. Später wurden die Gräber wieder geöffnet und die Leichen auf weitere Gräber verteilt, um den Massenmord zu vertuschen.  

Innerhalb weniger Tage wurden somit über 8.000 Bosniaken, meist Jungen und Männer, ermordet. 

Internationale Aufarbeitung und Lehren aus Srebrenica  

Das Internationale Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) arbeitete die Geschehnisse später umfassend auf und stufte die Geschehnisse als Völkermord ein. Insgesamt wurden bislang 15 Offiziere und Offizielle der bosnischen Serben für ihre Beteiligung am Massaker von Srebrenica verurteilt. Der Anführer der bosnischen Serben Radovan Karadžić und auch der damalige General Ratko Mladić wurden als Hauptverantwortliche für den Völkermord zu lebenslanger Haft verurteilt. Auch Slobodan Milošević, der damalige Präsident Serbiens, war vor dem ICTY wegen einer Mitverantwortung am Massaker in Srebrenica angeklagt. Er starb jedoch 2006 noch vor Abschluss des Verfahrens. 

Auch in den Niederlanden wurden die Ereignisse umfassend aufgearbeitet. Eine von der Regierung eingesetzte Kommission kam in ihrem Abschlussbericht 2002 zu dem Urteil, dass die niederländischen Blauhelme in Srebrenica in eine aussichtslose Mission geschickt worden seien. Später strebten Hinterbliebene der Opfer, organisiert im Verein „Mütter von Srebrenica“ eine Zivilklage gegen den niederländischen Staat an. Ihr Vorwurf: Die Blauhelmsoldaten hätten nicht genug getan, um die Männer vor Ort vor den Truppen von Mladić zu schützen. Nach mehreren Instanzen erging hierzu 2019 das finale Urteil: Die UNBlauhelmsoldaten hätten zwar kaum eine Chance auf Erfolg gehabt, sie hätten aber mehr tun müssen, um die 300 Männer im Blauhelmquartier in Potočari zu schützen. Die Niederlande müsse den Angehörigen daher eine Entschädigung zahlen. 

Die Erfahrungen der UN-Missionen in Bosnien sowie Somalia und Ruanda führten zu einem Umdenken im UNSicherheitsrat. Ein Anfang der 1990er Jahre existenter Glaube an die Möglichkeiten des UN-Peacekeeping wich einer Ernüchterung über die Erfolgsaussichten in Situationen, in denen es gar keinen Frieden zu schützen gibt. Es wurde deutlich, dass unangemessene und vage Mandate, die etwa nur leichte Bewaffnung vorsehen, unklare Einsatzvorgaben und Zielsetzungen und unzureichende materielle und personelle Ressourcen das schlechteste aller Szenarien für die Blauhelme bedeuteten.  

Hinzu kam, auch im Falle Srebrenica, ein fehlender politischer Wille im Sicherheitsrat robustere Maßnahmen zu autorisieren sowie organisatorische Probleme, sowohl vor Ort zwischen den verschiedenen Truppenstellern als auch auf der Planungs- und Kommunikationsebene zwischen UN und Mitgliedstaaten und im UN-Sekretariat selbst. Wie ein späterer Bericht der UN zu den Geschehnissen in Srebrenica zeigt, flossen die Informationen zwischen dem Balkan und dem UN-Hauptquartier sehr langsam. Später zeigte sich zudem, dass die Geheimdienste Großbritanniens und der USA schon im Juni 1995 ahnten, dass Angriffe auf einige der Schutzzonen bevorstehen. Sie teilten diese Information jedoch nicht mit den Niederländern. Bereits im Frühjahr 1995 wurde im Sicherheitsrat diskutiert, dass die Truppen zu schwach seien, um die Schutzzonen zu verteidigen. Die USA befürchteten jedoch, dass die UNPROFOR ihre Positionen auch mit zusätzlichen Kräften nicht halten würden können. Der Sicherheitsrat stockte die Truppen infolgedessen nicht auf. 

Die Debatte über Srebrenica und den Krieg in Bosnien-Herzegowina floss Ende der 1990er prägend in die Diskussion über eine Reform des UNPeacekeeping sowie über die internationale Schutzverantwortung, die sogenannte Responsibility to Protect, ein. Ab 1999 begann die UN damit, den Schutz von Zivilistinnen und Zivilisten zum Kernbestandteil vieler Blauhelmmissionen zu machen. Rund 90 Prozent der seit 1999 beschlossenen neuen Peacekeeping-Missionen haben ein Mandat zum Schutz von Zivilisten. Heutige Friedensmissionen mit einem solchen Mandat haben den Auftrag, den Schutz von Zivilistinnen und Zivilisten nicht nur durch Präsenz und Dialog mit den Konfliktparteien, sondern auch durch die Beförderung eines sicheren Umfelds, etwa durch Unterstützung von Sicherheitssektorreformen, sowie durch notfalls gewaltsamen physischen Schutz sicherzustellen. Auch wenn dies aus unterschiedlichen Gründen – wie oftmals mangelnder Ausrüstung, geringer Truppenstärke und unterschiedlichen Regelauslegungen durch die truppenstellenden Staaten – häufig nicht wie beabsichtigt funktioniert, ist dies doch eine deutliche Veränderung im Vergleich zu den UN-Missionen wie einst in Bosnien-Herzegowina. 

Srebrenica ist bis heute eine Mahnung 

Srebrenica ist bis heute eine Mahnung dafür was passieren kann, wenn nicht rechtzeitig auf Warnungen vor möglichen Massenverbrechen reagiert wird. Auch heute noch sind viele der großen Gewaltkonflikte durch schwere Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten geprägt. Gesundheitseinrichtungen, werden angegriffen, ganze Dörfer zerstört, sexualisierte Gewalt wird immer wieder als Kriegstaktik angewandt. Dies zeigt nicht zuletzt die hohe Zahl an Menschen, die tagtäglich vor Krieg und Gewalt fliehen. Und auch wenn sich die UN-Blauhelmmissionen besser aufgestellt haben und effektiver geworden sind: In vielen Situationen, wie etwa in Mali, Südsudan oder der Demokratischen Republik Kongo, drohen auch heute noch Friedensmissionen an ihren Aufgaben zu scheitern. 

Gleichzeitig kommt es auch heute noch zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermorden in Friedenszeiten. Das jüngste Beispiel ist Myanmar. Eine Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrates wirft den dortigen Behörden vor, in ihrem Vorgehen gegen mutmaßliche Terroristen ab August 2017 eine genozidäre Absicht verfolgt zu haben, d.h. das Ziel verfolgt zu haben die Rohingya-Gemeinschaft in Myanmar zu zerstören. Der UN-Sicherheitsrat reagierte jedoch nicht darauf. 

Angesichts dessen muss der 25. Jahrestag des Völkermordes in Srebrenica auch als Anlass gesehen werden, die Prioritätensetzung in der UN, aber auch in der deutschen und europäischen Außenpolitik und der Entwicklungszusammenarbeit kritisch zu prüfen. Können wir mehr tun, um Menschen vor Massenverbrechen zu schützen und können wir es nicht früher tun, bevor es überhaupt zu Gewaltausbrüchen kommt?  

Gerade in der Erinnerung an Srebrenica sollte dabei auch die personelle, materielle und finanzielle Ausstattung von UN-Friedensmissionen verbessert werden. Dort wo diese angemessen ausgestattet sind, so die einschlägige Forschung, nimmt die einseitige Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten ab und die Risiken für ein Wiederausbrechen von Gewalt nach Konflikten sinken. 

 

Autor: Gregor Hofmann