Vermeintlicher Schritt nach vorn, aber kein Durchbruch: der Koalitionsvertrag und die Menschenrechtspolitik

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Im Vorfeld der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 wertete Genocide Alert die Wahlprogramme der sieben Parteien, die eine realistische Chance hatten, im Bundestag vertreten zu sein, hinsichtlich ihrer Menschenrechtspolitik aus. Die Ergebnisse waren insgesamt defizitär, weshalb in dem Ranking kein erster Platz vergeben wurde. Die Unionsparteien nahmen in dem Ranking den fünften Platz ein und gingen aus der Bundestagswahl knapp vor der AfD als stärkste Kraft hervor. Die SPD erreichte den vierten Platz und wurde drittstärkste Kraft. Diese zwei Parteien nahmen auf schnelle Sondierungen folgend Mitte März Koalitionsverhandlungen auf. Der in den Verhandlungen erarbeitete Koalitionsvertrag stellt die Arbeitsgrundlage der am 6. Mai 2025 ernannten, neuen Bundesregierung dar. Genocide Alert hat diesen Vertrag mit derselben Methodik wie die Wahlprogramme ausgewertet, um zu ermitteln, wie sich die Bundesregierung menschenrechtspolitisch aufstellt und welche Ziele und Maßnahmen sie in diesem Politikfeld in den kommenden vier Jahren anstrebt.
Im Vergleich zu den Wahlprogrammen stellt der Koalitionsvertrag der Unionsparteien und der SPD mit acht Punkten eine überraschende Verbesserung dar. Themen wie Krisenprävention und die strafrechtliche Verfolgung von Massenverbrechen, die in den Wahlprogrammen beider Parteien gänzlich fehlten, finden nun Eingang in das gemeinsame Regierungsprogramm. Gleichzeitig dominieren in der praktischen Ausgestaltung wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen, sodass insbesondere in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit und der Migrationspolitik ein konsequenter menschenrechtlicher Maßstab weitgehend ausbleibt. Dennoch lässt sich eine normative Orientierung deutlicher erkennen als während des Wahlkampfes.
Als zentrale außenpolitische Anliegen hebt der Koalitionsvertrag die nationale Sicherheit und wirtschaftliche Stärke hervor, die zugleich aber auch in Beziehung zu Entwicklungs- und Klimapolitik sowie der Verteidigung von Menschenrechten gesetzt werden (Frage 2). Menschenrechte werden als „Fundament der regelbasierten internationalen Ordnung“ beschrieben. Damit einhergehend bekennt sich der Koalitionsvertrag klar zur Stärkung internationaler menschenrechtlicher Institutionen. Der Europarat und die Vereinten Nationen sollen geschützt werden, u.a. strebt die Koalition den Abschluss der Beitrittsverhandlungen der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention an (Frage 13). Auch der Internationale Strafgerichtshof soll gestärkt sowie in seiner Kompetenz erweitert werden: die neue Bundesregierung spricht sich für die Reform der Zuständigkeitsregeln für das Verbrechen der Aggression im Rom-Statut aus (Frage 14). Das Verbrechen der Aggression bleibt damit in diesem Vertrag jedoch das einzige explizit genannte zu verhindernde Massenverbrechen (Frage 1), das im Falle des Angriffskrieges auf die Ukraine auch mittels eines Sondertribunals geahndet werden soll.
Besonderes Augenmerk gilt dem Schutz von Frauen, sowohl in Deutschland als auch in bilateralen Beziehungen bspw. gegenüber Syrien und dem Iran. Hier sollen bestehende UN-Vereinbarungen sowie EU-Instrumente gestärkt und weiterentwickelt werden. Darüber hinaus wird die besondere Schutzbedürftigkeit “religiöser und weltanschaulicher Minderheiten”, insbesondere von Christ:innen, benannt (Frage 3). Sanktionen aufgrund schwerster Menschenrechtsverletzungen werden in den Fällen Iran, Russland und Belarus geplant, die Schärfung und umfassendere Anwendung der globalen Sanktionsregeln der EU wird angestrebt (Frage 17). Hier lässt sich jedoch anmerken, dass der restriktive Migrationskurs in anderen Teilen des Koalitionsvertrags an diesem Bekenntnis zweifeln lässt. So heißt es im Koalitionsvertrag, der Familiennachzug subsidiär Schutzberechtigter werde für zwei Jahre ausgesetzt, Grenzkontrollen und Rückführungsabkommen sollen ausgeweitet, Abschiebungen auch nach Syrien und Afghanistan wieder aufgenommen werden. Das steht im Widerspruch zu einem menschenrechtsbasierten Ansatz, der schutzbedürftigen Personen Priorität gibt.
Während der restriktive Kurs in der Migrationspolitik menschenrechtliche Bedenken aufwirft, plant die Bundesregierung zugleich, ihr Engagement in der Krisenprävention als Teil eines umfassenderen sicherheits- und außenpolitischen Ansatzes zu erweitern. Um Kapazitäten auszubauen, sollen unter anderem Frühwarnsysteme gestärkt und ein Nationaler Krisenstab sowie eine Nord-Süd-Kommission gegründet werden, um im Falle humanitärer Krisen auf Gesprächskanäle zu Partnern des Globalen Südens zurückgreifen zu können (Frage 5). Hierfür soll eine „auskömmliche Finanzierung“ sichergestellt werden (Frage 6).
Allerdings bleiben in anderen Bereichen konkrete Schritte für eine konsequente menschenrechtsbasierte Außenpolitik aus. Rüstungsexportkontrollen sollen effizienter, aber nicht strenger werden (Frage 7). Eine klare Trennung von Mitteln für Sicherheits- und Entwicklungspolitik wird nicht angestrebt (Frage 4). Die Unterstützung von Sicherheitssektorreformen in Drittstaaten (Frage 11), die Zusammenarbeit mit regionalen Organisationen zum Menschenrechtsschutz (Frage 12) sowie Interventionen gegen stattfindende Massenverbrechen (Frage 16) werden ebenso wenig angedacht. Gleiches gilt für die Unterstützung von UN-Friedensmissionen und die Aufnahme vor Massenverbrechen fliehender Menschen. Auch die oben bereits erwähnte Forderung nach strafrechtlicher Verfolgung von Massenverbrechen ist selektiv nur auf den Fall des Ukrainekriegs bezogen und blendet andere aktuelle Fälle aus (Frage 15).
Dass wirtschaftliche und geopolitische Interessen überwiegen, zeigt sich auch in den Vorhaben zur Zusammenarbeit mit Drittstaaten. Im Falle der Türkei ist eine „grundlegende Verbesserung der demokratischen, rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Situation” zwar Teil der strategischen Partnerschaft (Frage 9), jedoch nicht zur Voraussetzung für die migrationspolitische Zusammenarbeit gemacht (Frage 10). Ähnliche Formulierungen finden sich in Bezug auf Syrien. Gleichzeitig hat die Menschenrechtslage in Ländern wie China oder Indien keinen Einfluss auf den Ausbau bilateraler Beziehungen (Frage 8).
Insgesamt sind die 15 Seiten des Koalitionsvertrages, die sich der Gestaltung der internationalen und europäischen Politik unter der neuen Bundesregierung widmen, um eine Verzahnung der betroffenen Politikfelder sowie einen globalen Blick bemüht.
Menschenrechte werden in diesem Rahmen als relevanter Bestandteil der gefährdeten internationalen liberalen Ordnung anerkannt und über bereits etablierte Strukturen und Mechanismen entsprechend gestärkt. Der klar restriktive Kurs in der Migrationspolitik scheint auch in der Außenpolitik durch, wenn bilaterale Zusammenarbeit nicht von menschenrechtlichen Kriterien abhängig gemacht wird, Entwicklungsgelder nicht von sicherheitspolitischer Unterstützung abgegrenzt werden oder ein Bekenntnis zur Bereitschaft der Aufnahme von vor Verbrechen fliehenden Menschen in Deutschland ausbleibt. Auch von allzu kostspieligen Handlungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland wie einer strengeren Rüstungsexportkontrolle nimmt die neue Bundesregierung Abstand.
Menschenrechte sind somit nicht die übergeordnete Priorität internationalen Handelns, aber sie gehen in der global angespannten wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Lage (man möchte fast schreiben – überraschenderweise) zumindest nicht unter. Das Bekenntnis zu ihrer primären Stärkung über multilaterale Strukturen ist in Zeiten des Systemwettbewerbs sinnvoll, obgleich eine stärkere Betonung der Menschenrechte in bilateralen Beziehungen aus menschenrechtlicher Perspektive ebenso wünschenswert wäre.
Zusammengefasst zeichnet der Koalitionsvertrag ein hoffnungsvolleres Bild als der Wahlkampf zu erwarten ließ – nun bleibt zu beobachten, wie viele Taten und (finanzielle) Ressourcen den dargelegten Absichtserklärungen folgen.
Bewertung im Detail
Auswertung des Koalitionsvertrages
Menschenrechte und Schutzverantwortung im Allgemeinen
1) | Werden die „Responsibility to Protect“ oder die Verhinderung massiver Gräueltaten, wie Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und ethnische Säuberungen, im Wahlprogramm affirmativ benannt? | Teils |
2) | Werden der Schutz von Menschenrechten, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung und Sicherheit als zusammenhängend behandelt? | Ja |
3) | Wird die spezielle Schutzbedürftigkeit marginalisierter Gruppen (z.B. ethnischer Minderheiten) anerkannt? | Ja |
Kapazitätsaufbau in Deutschland
4) | Wird eine Abgrenzung der finanziellen Mittel für die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit anderen Staaten (z.B. Ausbildung oder „Ertüchtigung“ der Streitkräfte) von den finanziellen Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit gefordert? | Nein |
5) | Wird der Ausbau institutioneller Kapazitäten im Bereich internationaler Menschenrechtsschutz/R2P angekündigt, wie zum Beispiel der Ausbau eines Frühwarnsystems, Aufstockung der Mittel für Menschenrechtsarbeit etc.? | Teils |
6) | Wird eine Aufstockung der Ressourcen für Maßnahmen der Krisenprävention gefordert? | Ja |
7) | Wird eine strengere Rüstungsexportkontrolle gefordert? | Nein |
Schutzverantwortung und Menschenrechtsschutz in der internationalen Zusammenarbeit
8) | Soll die Menschenrechtssituation in einem Land ein wichtiges Kriterium zur Ausgestaltung der bilateralen Beziehungen sein? | Nein |
9) | Ist die Verbesserung der Menschenrechtssituation in Drittstaaten ein erklärtes Ziel der Entwicklungszusammenarbeit? | Teils |
10) | Wird eine Zusammenarbeit mit Regierungen mit bedenklicher Menschenrechtsbilanz zur Unterbrechung von Migrationsbewegungen abgelehnt? | Nein |
11) | Werden institutionelle Sicherheitssektorreformen in Drittstaaten positiv benannt (z.B. Förderung der Rechtsstaatlichkeit, Ausbildung der Sicherheitskräfte auf Basis demokratischer und menschenrechtlicher Prinzipien, etc.)? | Nein |
12) | Wird eine Zusammenarbeit mit regionalen Organisationen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen gefordert? | Nein |
Reaktion auf Massenverbrechen
13) | Wird die Zusammenarbeit mit den Institutionen des internationalen und europäischen Menschenrechtsschutzes (z.B. dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte) und deren Unterstützung bekräftigt? | Ja |
14) | Wird die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und dessen aktive Unterstützung bekräftigt? | Ja |
15) | Wird die konsequente strafrechtliche Verfolgung von Massenverbrechen gefordert (z.B. vor nationalen Gerichten oder durch internationale Tribunale und Gerichte)? | Teils |
16) | Werden Interventionen zur Beendigung stattfindender Massenverbrechen als Ziel benannt? | Nein |
17) | Werden konkrete Instrumente zur Reaktion auf schwerste Menschenrechtsverletzungen im Wahlprogramm ausbuchstabiert (z.B. Verhängung von Sanktionen oder Waffenembargos, strafrechtliche Ermittlungen, etc.)? | Ja |
18) | Wird eine Unterstützung von Friedensmissionen durch die UN oder Regionalorganisationen angestrebt? | Nein |
19) | Werden der Schutz und die Aufnahme vor Massenverbrechen fliehender Menschen in Deutschland als Ziel benannt? | Nein |
Gesamtergebnis (19 Punkte erreichbar) | 8 |