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Ist der Internationale Strafgerichtshof unbrauchbar?

Kritiker werfen dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vor, dieser sei als Gerichtshof unbrauchbar, um begangene Massenverbrechen gerecht und effektiv zu bestrafen und damit nicht in der Lage zur Wahrung des Weltfriedens beizutragen. Afrikanische Staaten werfen ihm Selektivität und mangelnde Glaubwürdigkeit vor, angesichts der starken Konzentration auf Geschehnisse in Afrika. Israel bezeichnet den IStGH sogar als terrorismusfördernd und fordert im Zusammenhang mit der Aufnahme von Vorermittlungen zu Massenverbrechen in Palästina zum Boykott des IStGH auf. Dabei könnten die Vorermittlungen in Israel auch als Chance gesehen werden, auf Kriegsverbrechen seitens der Hamas aufmerksam zu machen. Häufig wird bei aller Kritik jedoch das eigentliche Problem des IStGH ignoriert: die Reformbedürftigkeit des durch das Veto-System nicht selten blockierten Sicherheitsrates der UN, der damit auch die Arbeit des IStGHs beeinträchtigt.

von Dana Schirwon

Zu welchen Zwecken wurde der IStGH errichtet – und zu welchen gerade nicht?

Der IStGH wurde 1998 als eine Institution errichtet, die der Wahrung und Wiederherstellung des Weltfriedens dient: Er soll begangene Massenverbrechen aufarbeiten, Verantwortliche benennenund diese bestenfalls bestrafen. Hintergrund waren vor allem die vielen Gräueltaten des 20. Jahrhunderts, denen unzählige Zivilisten zum Opfer fielen. Schwerste Verbrechen des Völkerrechts wie beispielsweise Völkermorde sollten künftig vor einem einheitlichen Gericht wirksam verfolgt werden, so stellt es bereits die Präambel des Gründungsdokuments, dem Rom-Statut, fest. Mit der Errichtung wurde aber auch die Verhütung künftiger Massenverbrechen bezweckt, zum einen durch die Entstehung einer Abschreckungswirkung und andererseits durch die positive Bekräftigung elementarer Regeln des Völkerrechts.

Trotzdem kann und darf der IStGH nicht „Weltgerichtshof“ in dem Sinne sein, dass er alle weltweit begangenen Verbrechen vor Gericht bringt und bestraft. Er dient vielmehr einzig zur Ergänzung der nationalen Gerichtsbarkeit im Hinblick auf elementare völkerrechtliche Verbrechen und gerade nicht zu deren Ersetzung (sogenanntes „Komplementaritätsprinzip“). Der IStGH ist lediglich zuständig, sofern die nationale Gerichtsbarkeit „nicht willens oder nicht in der Lage (ist), die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen“ (Art. 17 Rom-Statut). Effektive Strafverfolgung bleibt damit prinzipiell Aufgabe der individuellen Staaten. Eine vergleichbare Strafverfolgung kann daher vom IStGH nicht erwartet werden.

Strafbefugnis des IStGH: Ist der Gerichtshof mangels Allzuständigkeit unbrauchbar?

Aufgrund des großen Gegenwindes kritisch eingestellter Staaten konnte man sich 1998 in Rom bloß auf eine begrenzte Zuständigkeit des IStGHs einigen. Der IStGH kann seine Gerichtsbarkeit überhaupt nur ausüben, wenn entweder das vermutliche Verbrechen in einem Vertragsstaat des Rom-Statuts begangen wurde, oder die beschuldigte Person die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt (Art. 12 Rom-Statut). Inhaltlich dürfen nur die sogenannten „Kernverbrechen“, also Völkermord (Art. 6 Rom-Statut), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7 Rom-Statut) und Kriegsverbrechen (Art. 8 Rom-Statut) Gegenstand eines Verfahrens vor dem IStGH sein. Das zwar bereits in Rom 1998 beschlossene doch erst jetzt näher definierte Verbrechen der Aggression wird bald als vierter Tatbestand noch hinzukommen. Der Gerichtshof kann aber nur Verbrechen verfolgen, welche nach dem Inkrafttreten des Rom-Statuts am 1. Juli 2002 bzw. nach dem Beitritt des jeweiligen Staates zum Rom-Statut begangen wurden.

Grund für diese starke Beschränkung war vor allem die mangelnde Akzeptanz für eine generelle Zuständigkeit des IStGH für alle Massenverbrechen unabhängig vom Mitgliedsstatus involvierter Staaten. Eher skeptisch eingestellte Staaten, wie beispielsweise die USA, befürchteten eine Einbuße ihrer staatlichen Souveränität und stellten sich eher einen bloß symbolischen Gerichtshof für völkerstrafrechtliche Verbrechen vor.

Als ausgleichendes Moment für diese begrenzte Zuständigkeit könnte jedoch die Möglichkeit des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen dienen, dem eigentlich nicht zuständigen IStGH im Wege einer Sicherheitsrats-Resolution einen Fall zu unterbreiten. Doch hier müssen sich mindestens 9 der 15 Sicherheitsratsmitglieder einigen, darunter alle 5 ständigen Mitglieder, die sogenannten „Veto-Staaten“. Leider scheitert eine Einigung im Sicherheitsrat in völkerstrafrechtlich relevanten Fällen häufig genau an einem oder mehreren der Veto-Staaten; so verhinderte auch das Veto Russlands und Chinas im Sicherheitsrat, die Unterbreitung des Falles Syrien, in dem bis August 2015 laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte ca. 250.000 Menschen im Bürgerkrieg ihr Leben gelassen haben.

Angesichts der Tatsache, dass der IStGH bis zum Jahr 2013 ausschließlich im Hinblick auf Massenverbrechen in Afrika tätig wurde, ist der Vorwurf einseitiger Ermittlungen in Den Haag und die Enttäuschung afrikanischer Staaten darüber verständlich. Teilweise wird das Gericht dabei sogar des Rassismus bezichtigt. In nahezu allen Fällen wurde der IStGH hier jedoch sogar auf Ersuchen des selbst betroffenen Staates aktiv. Darüber hinaus stellt Afrika mit mittlerweile 34 Mitgliedstaaten die größte Regionalgruppe innerhalb des Rom-Statuts. Gleichzeitig sind die Mehrheit der Amtsträger in Den Haag Staatsbürger afrikanischer Staaten. All dies zeigt einerseits den eigentlich sehr hohen Stellenwert, den der IStGH in Afrika genießt, andererseits entkräftet es den teilweise geäußerten Rassismus-Vorwurf in Gänze. Doch sollten sich alle anderen Mitgliedstaaten des IStGH ein Beispiel an den afrikanischen Staaten nehmen, die das Rom-Statut durch die vielfache Überweisung von Fällen an den IStGH zumindest in der Hinsicht deutlich ernster nehmen.

Gerade Syrien als aktuelles Beispiel zeigt, dass die Kritik am IStGH hinsichtlich dessen begrenzter Zuständigkeit durchaus zu Recht geäußert wird. Wenn unzählige Zivilisten Opfer illegaler Giftgasattacken werden, wenn Oppositionelle systematisch verfolgt, gefoltert und ermordet werden und wenn ohne Rücksicht auf Zivilisten Regierungstruppen ganze Städte dem Erdboden gleich machen, fragt man sich zurecht, warum ein völkerstrafrechtliches Gericht hier nicht ermitteln kann. Leider ist genau dies aktuell nicht möglich. Da Syrien dem Rom-Statut nicht beigetreten ist, kann der Ankläger des IStGH nicht selber Ermittlungen einleiten. Gleichzeitig wird der Sicherheitsrat durch Russland und China blockiert und kann den Fall nicht dem IStGH unterbreiten. Zwar ist die Kritik hinsichtlich der Untätigkeit des IStGH im Fall Syrien durchaus verständlich, doch ist es nicht die Aufgabe des IStGH, in einem Bürgerkriegsland wie Syrien den den Frieden wiederherzustellen, sondern durch gerichtliche Ermittlungen begangene Verbrechen aufzuarbeiten und zu verfolgen. Die Aufgabe, geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung des Weltfriedens zu treffen, kommt vielmehr in erster Linie dem Sicherheitsrat zu (vgl. Art. 39 VN Charta), der sich aber nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen kann.

Eine berechtigte Kritik muss weitergehen und nicht den IStGH angreifen, sondern sich vielmehr auch an den reformbedürftigen Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wenden. Von der Satzung der Vereinten Nationen eigentlich als Hüter und Verteidiger des Weltfriedens angelegt, wird der Sicherheitsrat häufig durch das Veto-Prinzip blockiert und kann seine Aufgabe dadurch in vielen Fällen nur begrenzt wahrnehmen. In diesem Zusammenhang haben sich auch zuletzt einige Nichtregierungsorganisationen, darunter auch Genocide Alert, in einem offenen Brief mit dem Anliegen an die Mitgliedsstaaten der UN gewandt, einen Code of Conduct zu befolgen, kein Veto bei Resolutionen einzulegen, die schlimmste Massenverbrechen betreffen. Dieser Code of Conduct wurde von der informellen Staatengruppe Accountability Coherence and Transparency erarbeitet und wird mittlerweile von über 100 Staaten unterstützt. In die gleiche Richtung zielt eine Initiative der französischen und mexikanischen Regierung, die sich in einer Erklärung auch dafür aussprechen, das Veto-Recht im Sicherheitsrat bei Beschlüssen hinsichtlich der Bekämpfung von Massenverbrechen im Einverständnis mit den Veto-Mächten auszusetzen.

Fehlende Exekutivkraft: Ist der IStGH mangels „Weltpolizei“ unbrauchbar?

Wie die Vereinten Nationen selbst, ist auch der IStGH ohne eigene Exekutivkraft geschaffen worden. Er hat im Gegensatz zu unseren staatlichen Gerichten keine eigenen polizeilichen Kräfte zur Verfügung, die ihn bei der Verfolgung von Tatverdächtigen oder auch bei der Durchsetzung von Urteilen unterstützt. Dem IStGH fehlt sozusagen eine „Weltpolizei“. Ähnlich wie die Vereinten Nationen ist der IStGH vielmehr auf die Unterstützung der einzelnen Staaten angewiesen und muss auf die Treue seiner Mitgliedsstaaten hoffen. Zwar haben sich diese vertraglich dazu verpflichtet, etwaige Haftbefehle des IStGH und dergleichen umzusetzen, doch sieht auch hier die Praxis teilweise anders aus. So konnte im Juni dieses Jahres der amtierende sudanesische Präsident al-Baschir, der in Den Haag wegen Völkermordes, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen des Darfur-Konfliktes angeklagt ist, trotz eines gegen ihn durch den IStGH ausgestellten Haftbefehls ohne Probleme in den IStGH-Mitgliedsstaat Südafrika ein- und ausreisen. Grund dafür war eine Resolution der Afrikanischen Union aus dem Jahr 2008. Diese forderte die Mitgliedstaaten dazu auf, dem Haftbefehl des IStGH gegen al-Baschir nicht Folge zu leisten, da man fürchtete durch eine Inhaftierung al-Baschirs könnten laufende Friedensverhandlungen im Südsudan torpediert werden. Deswegen sah sich die Chefanklägerin des IStGH Fatou Bensouda, die selbst teilweise in der Kritik steht, im Dezember 2014 auch zur Einstellung der Ermittlungen gezwungen. „Da der Internationale Strafgerichtshof nicht über eine eigene Polizei verfüge, sei es stets so, als fahnde man nach Al Capone – aber bloß mit der höflichen Bitte an Capone, ob er sich nicht selbst stellen wolle, sowie mit der Bitte an andere mächtige Gruppen, ob sie ihn nicht einfangen und abgeben könnten (…)“, so Bensouda zur Begründung ihrer Entscheidung.

Doch stellt sich auch die Frage, ob eine Exekutivkraft des IStGHs diesen überhaupt stärken und damit eher zur Wahrung des Weltfriedens beitragen würde. Dem kann direkt entgegen gehalten werden, dass ein derart mächtig konstituierter Gerichtshof vielen eher skeptisch eingestellten Staaten wohl deutlich zu weit gegangen wäre und damit kaum so breite Anerkennung gefunden hätte. Darüber hinaus begäbe sich der IStGH damit umso mehr in Gefahr, als bloßes post-imperialistisches Mittel des Westens wahrgenommen zu werden. Es erscheint hier vielmehr auf den zweiten Blick die deutlich effektivere Variante zu sein, die Strafverfolgung und -vollstreckung nicht zu oktroyieren sondern den Individualstaaten zu überlassen, auch wenn dies im Einzelfall zu unbefriedigenden Situationen führen kann.

Fazit

Die Gründung des IStGH vor fast 20 Jahren entgegen allen Widerstands ist als große Errungenschaft der internationalen Staatengemeinschaft auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts zu verstehen. Trotz verschiedenster nationaler Erfahrungen und Eindrücke mit Massenverbrechen im vergangenen Jahrhundert schaffte man es in Rom, sich auf ein Statut zu einigen, dem mittlerweile 123 Staaten beigetreten sind. Insofern kann nicht die Rede davon sein, der IStGH sei unbrauchbar. Gleichzeitig ist das Statut mit seinen teilweise zuvor erwähnten Tücken als Kompromiss zu verstehen. Weitergehende Befugnisse hätten weder zu einer Einigung in Rom noch zu einer mittlerweile so großen Zahl an Beitrittsländern geführt. Jedoch muss weiterhin daran gearbeitet werden, das Gericht in Den Haag noch effektiver zu gestalten: einerseits durch eine konsequentere Überweisung von Fällen an den IStGH ungeachtet von Bündnisinteressen und andererseits durch eine Reform des UN-Sicherheitsrats im Hinblick auf die Bekämpfung von Massenverbrechen. Mit einem Boykott-Aufruf ist jedenfalls keinem geholfen.

 

Autorin: Dana Schirwon, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Genocide Alert