Bündnis 90/Die Grünen auf Platz 2
Bündnis 90/Die Grünen erreichen mit ihrem Wahlprogramm 10,5 von 19 Punkten und damit trotz großem Punktabstand nur einen schwachen zweiten Platz im Genocide Alert-Ranking der Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2025. Auffällig ist, dass zwar viele Anknüpfpunkte und Voraussetzungen für die Verhinderung von Massenverbrechen auftauchen, ein grundsätzlicher Ansatz aber zu vermissen ist. Damit erzielen die Grünen überdurchschnittlich viele ‘Teils’-Bewertungen.
An sich benennt das Wahlprogramm weder die Verhinderung von Massenverbrechen noch die Schutzverantwortung (Frage 1). Allerdings formulieren die Grünen aus der deutschen historischen Verantwortung für nationalsozialistische und koloniale Verbrechen ein klares Bekenntnis zum allgemeinen Schutz des Völkerrechts. Sie bekräftigen die internationale Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, „gegen schwerste Menschenrechtsverletzungen vorzugehen und diese strafrechtlich zu ahnden.” Daher wollen die Grünen die internationale Strafgerichtsbarkeit institutionell stärken, normativ fortentwickeln (Frage 14) und Massenverbrechen auch weiterhin nach dem Weltrechtsprinzip aufarbeiten und ahnden (Frage 15).
Interventionen gegen stattfindende Massenverbrechen benennen die Grünen nicht als grundsätzliches Ziel (Frage 16). Allenfalls führen sie konkrete Instrumente in Reaktion auf bestimmte schwerste Menschenrechtsverletzungen an: Mittel der Wahl sind sowohl industriespezifische als auch personenbezogene Sanktionen bezüglich der iranischen Revolutionsgarden und der russischen Aggression gegen die Ukraine. Auch sollen Rüstungsexporte an Israel im Einzelfall untersagt werden, sofern der Schutz der Zivilbevölkerung nicht ausreichend geachtet wird (Frage 17). Darüber hinaus befürworten die Grünen die weitere Teilnahme der Bundeswehr an UN-Friedenseinsätzen. Zu konkreter Unterstützung für Friedenseinsätze internationaler Organisationen äußern sich die Grünen nicht (Frage 18).
Daneben skizziert das Wahlprogramm konzeptionelle und strukturelle Grundlagen, die zu effektiver Präventionsarbeit und Reaktionen auf schwerste Menschenrechtsverletzungen beitragen können. Ein Alleinstellungsmerkmal unter den ausgewerteten Wahlprogrammen ist die breite Anerkennung der Schutzbedürftigkeit marginalisierter Gruppen (Frage 3). Zudem berufen die Grünen sich auf einen intersektional-feministischen Gerechtigkeitsanspruch und rücken auch menschliche Sicherheit in den Fokus. Dementsprechend sind Menschenrechte durch einen positiven und demokratischen Friedensbegriff mit Entwicklungs-, Außen- und Sicherheitspolitik verwoben (Frage 2). Somit kommen der Entwicklungszusammenarbeit, humanitären Hilfe und internationalen Partnerschaften tragende Rollen zu (Frage 9). Wenngleich Menschenrechtsschutz in den betreffenden Abschnitten kaum explizit angeführt wird, bietet das Gesamtpaket dennoch vielversprechende Voraussetzungen für eine ganzheitliche Strategie zur Verhinderung von Massenverbrechen.
Das möchten die Grünen auch strukturell in der internationalen Zusammenarbeit gezielt verfestigen (Frage 5). Anerkennend hervorzuheben sind ihre Pläne für institutionellen Kapazitätsausbau durch bedarfsorientierte und systemische Stärkung von ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen sowie internationalen- und Regionalorganisationen (Frage 12). Davon dürften auch internationale Friedenseinsätze profitieren (Frage 18). Weiterhin möchten die Grünen in Deutschland ein Zentrum für strategische Vorausschau mit ressortübergreifender Koordination und einem gemeinsamen Lagebild schaffen. Außerdem fordern sie ein eigenständiges Entwicklungsministerium (Frage 6), wodurch eine Finanzierung von sicherheitspolitischer Zusammenarbeit im Rahmen von Entwicklungsmaßnahmen jedoch nicht per se ausgeschlossen wird (Frage 4). Nicht zuletzt fordern die Grünen eine strengere gemeineuropäische Rüstungsexportpolitik, die Menschenrechtsverletzungen und die Unterstützung autokratischer oder diktatorischer Regime mit europäischen Rüstungsgütern verhindern soll. Wenngleich dabei neben Menschenrechten auch Werte und Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden sollen, fordern die Grünen konkrete Kontrollmechanismen für eine zukünftige europäische Rüstungsexportpolitik (Frage 7).
Verglichen mit den Ausführungen zur internationalen Strafgerichtsbarkeit wirkt das Verhältnis der Grünen zu den Institutionen des internationalen und europäischen Menschenrechtsschutzes wie eine nicht nennenswerte Selbstverständlichkeit. Auf internationale Menschenrechtsabkommen berufen sie sich zwar, und auch die Umsetzung der Istanbul-Konvention möchten sie vorantreiben. Gleichzeitig ist offenbar keine Unterstützung von Institutionen wie etwa des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vorgesehen. Nur im Rahmen ihrer weitestgehend progressiven Forderungen rund um erzwungene Migration sind Bezüge zu erahnen: Unter anderem fordern sie auf allen Ebenen Rechtssicherheit zugunsten kriminalisierter oder misshandelter Geflüchteter an den Außengrenzen und berufen sich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Frage 13), um den Schutz von Kriegsdienstverweigerern zu verteidigen. Schutz und Aufnahme von vor Massenverbrechen fliehenden Menschen in Deutschland sind als im bekräftigten europäischen Asylregime enthalten zu verstehen. Darüber hinaus fordern die Grünen Abschiebestopps in den Iran und für Jesid:innen (Frage 19) und sprechen sich gegen die Legitimierung des Taliban-Regimes durch Rückführungsabkommen aus. Dennoch trüben die Grünen ihre vielfache Betonung rechtsstaatlicher Maßstäbe im europäischen Kontext durch die Hinnahme des Status quo in puncto Migrationsabkommen mit Dritt- und Transitstaaten, die eine besorgniserregende Menschenrechtsbilanz aufweisen (Frage 10). Dies trägt zum Eindruck bei, dass die Grünen abseits von Afghanistan und dem Iran der Menschenrechtssituation in einem Land keinen besonderen Stellenwert für die Ausgestaltung bilateraler Beziehungen beimessen (Frage 8). Zumindest im Rahmen des EU-Beitrittsverfahrens der Türkei mahnen die Grünen institutionelle Sicherheitssektorreformen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte an (Frage 11).
Das grüne Wahlprogramm punktet mehrfach im Genocide Alert-Ranking: mit der konsequenten Unterstützung der internationalen Strafgerichtsbarkeit, dem integrierten und für Marginalisierung sensiblen Ansatz für internationale Zusammenarbeit sowie den Plänen für systematischen Kapazitätsaufbau in ziviler Krisenprävention und Konfliktbearbeitung. Sie berühren dabei viele Aspekte der Verhinderung von Massenverbrechen, verweisen ausdrücklich aber nur auf Strafverfolgung und vereinzelte Sanktionsinstrumente. Immerhin orientiert sich das Programm in internationalen Angelegenheiten an Rechtsstaatlichkeit und menschlicher Sicherheit; der Schutz von Menschenrechten, den die Grünen für unverhandelbar erklären, schwingt dabei regelmäßig mit. Im Kontext der in diesem Wahlkampf stark hervorgehobenen Migrationspolitik sorgen sie sich trotz progressiver Grundsätze leider etwas selektiv um Grundrechte. Dadurch ergibt das Wahlprogramm der Grünen insgesamt ein vielversprechendes Fundament, wenn auch mit begrenztem Anspruch an die deutsche Wahrnehmung der internationalen Schutzverantwortung.
Bewertung im Detail
Auswertung des Wahlprogramms von Bündnis 90/Die Grünen
Menschenrechte und Schutzverantwortung im Allgemeinen
1) | Werden die „Responsibility to Protect“ oder die Verhinderung massiver Gräueltaten, wie Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und ethnische Säuberungen, im Wahlprogramm affirmativ benannt? | Nein |
2) | Werden der Schutz von Menschenrechten, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung und Sicherheit als zusammenhängend behandelt? | Ja |
3) | Wird die spezielle Schutzbedürftigkeit marginalisierter Gruppen (z.B. ethnischer Minderheiten) anerkannt? | Ja |
Kapazitätsaufbau in Deutschland
4) | Wird eine Abgrenzung der finanziellen Mittel für die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit anderen Staaten (z.B. Ausbildung oder „Ertüchtigung“ der Streitkräfte) von den finanziellen Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit gefordert? | Nein |
5) | Wird der Ausbau institutioneller Kapazitäten im Bereich internationaler Menschenrechtsschutz/R2P angekündigt, wie zum Beispiel der Ausbau eines Frühwarnsystems, Aufstockung der Mittel für Menschenrechtsarbeit etc.? | Teils |
6) | Wird eine Aufstockung der Ressourcen für Maßnahmen der Krisenprävention gefordert? | Ja |
7) | Wird eine strengere Rüstungsexportkontrolle gefordert? | Ja |
Schutzverantwortung und Menschenrechtsschutz in der internationalen Zusammenarbeit
8) | Soll die Menschenrechtssituation in einem Land ein wichtiges Kriterium zur Ausgestaltung der bilateralen Beziehungen sein? | Nein |
9) | Ist die Verbesserung der Menschenrechtssituation in Drittstaaten ein erklärtes Ziel der Entwicklungszusammenarbeit? | Teils |
10) | Wird eine Zusammenarbeit mit Regierungen mit bedenklicher Menschenrechtsbilanz zur Unterbrechung von Migrationsbewegungen abgelehnt? | Nein |
11) | Werden institutionelle Sicherheitssektorreformen in Drittstaaten positiv benannt (z.B. Förderung der Rechtsstaatlichkeit, Ausbildung der Sicherheitskräfte auf Basis demokratischer und menschenrechtlicher Prinzipien, etc.)? | Teils |
12) | Wird eine Zusammenarbeit mit regionalen Organisationen zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen gefordert? | Teils |
Reaktion auf Massenverbrechen
13) | Wird die Zusammenarbeit mit den Institutionen des internationalen und europäischen Menschenrechtsschutzes (z.B. dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte) und deren Unterstützung bekräftigt? | Teils |
14) | Wird die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und dessen aktive Unterstützung bekräftigt? | Ja |
15) | Wird die konsequente strafrechtliche Verfolgung von Massenverbrechen gefordert (z.B. vor nationalen Gerichten oder durch internationale Tribunale und Gerichte)? | Ja |
16) | Werden Interventionen zur Beendigung stattfindender Massenverbrechen als Ziel benannt? | Nein |
17) | Werden konkrete Instrumente zur Reaktion auf schwerste Menschenrechtsverletzungen im Wahlprogramm ausbuchstabiert (z.B. Verhängung von Sanktionen oder Waffenembargos, strafrechtliche Ermittlungen, etc.)? | Ja |
18) | Wird eine Unterstützung von Friedensmissionen durch die UN oder Regionalorganisationen angestrebt? | Teils |
19) | Werden der Schutz und die Aufnahme vor Massenverbrechen fliehender Menschen in Deutschland als Ziel benannt? | Teils |
Gesamtergebnis (19 Punkte erreichbar) | 10,5 |