Drohende Massenverbrechen – drei Konfliktherde im Schlaglicht

Äthiopien, Demokratische Republik Kongo, Sudan – drei Staaten, in denen die Gefahr für Massenverbrechen hoch ist, die aber in der deutschen Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit erhalten. Dieser Beitrag wirft ein Schlaglicht auf drei Konfliktherde, die jeder für sich allein gesehen das Risiko bergen, jederzeit in neue Massenverbrechen zu eskalieren. 

Gregor Hofmann

Fast täglich erreichen uns neue, schockierende Berichte über Gräueltaten im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Zu Recht unterstützt die Bundesregierung mit Partnern Bemühungen, solche Gräueltaten durch Unterstützung der ukrainischen Regierung sowie mit strafrechtlichen Mitteln zu verhindern und zu verfolgen.  

Politische, mediale und öffentliche Aufmerksamkeit sind daher stark gebunden. Zugleich ereignen sich jedoch in anderen Weltregionen schwere Menschenrechtsverletzungen und eskalieren Konflikte in gewaltsame Ausmaße, die ein Wegschauen nicht erlauben. Schließlich hat die Bundesregierung sich dazu bekannt, dass die Prävention von Völkermord Teil deutscher Staatsräson ist und somit schwerste Menschenrechtsverletzungen nicht ignoriert werden dürfen.  

Äthiopien: Massenverbrechen aufklären, Gewalt beenden  

Anfang April reiste die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg, nach Äthiopien und in den Südsudan. Im Vorfeld betonte sie das anhaltende Leid der Menschen im Norden Äthiopiens sowie die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der massiven Menschenrechtsverletzungen im jüngsten Konflikt. Diese Reise fand in der deutschen Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit und das, obwohl Äthiopien eines der politisch einflussreichsten Länder Ostafrikas ist. 

Im November 2020 war in der äthiopischen Region Tigray ein Konflikt zwischen der Regierung von Äthiopien und der Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF) ausgebrochen, welche vor dem Amtsantritt des derzeitigen Präsidenten Abiy Ahmed die äthiopische Politik dominiert hatte. Im Laufe des Konflikts wurden auch das Nachbarland Eritrea sowie Milizen aus der äthiopischen Region Amhara zu Konfliktparteien. Die massiven Kampfhandlungen hatten schwere Menschenrechtsverletzungen und eine humanitäre Katastrophe in den betroffenen Regionen Tigray, Amhara und Afar zur Folge. 

Allen Konfliktparteien werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und erhebliche Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht vorgeworfen. So beklagt eine UN-Untersuchungskommission (International Commission of Human Rights Experts on Ethiopia – ICHREE) in ihrem Bericht im September 2022 insbesondere Angriffe auf die Zivilbevölkerung, außergerichtliche Tötungen, Vergewaltigungen, sexuelle Gewalt und Aushungern als Mittel der Kriegsführung sowie die Verweigerung und Behinderung humanitärer Hilfe. Human Rights Watch und Amnesty International dokumentierten in einem Bericht im April 2022 auch ethnische Säuberungen in Tigray: Beamte der Region Amhara sowie regionale Spezialkräfte und Milizen seien, unterstützt durch föderale Kräfte, verantwortlich für die ethnische Säuberung gegen Tigrayer*innen in West-Tigray. 

Ein Friedensabkommen zwischen der Regierung und der TPLF im November 2022 sorgte für eine Beruhigung, der Konflikt ist jedoch noch nicht vollständig gelöst. Das Abkommen sieht eine Waffenruhe, eine Entwaffnung der TPLF, die Freilassung von Gefangenen, den Rückzug der eritreischen Truppen und Zugang für humanitäre Hilfe vor. Die Umsetzung kommt jedoch nur schleppend voran. Die UN-Untersuchungskommission klagt über fehlenden Zugang ins Land. Zugleich hatte Äthiopien erst auf Druck westlicher Staaten seine Bemühungen im UN-Menschenrechtsrat eingestellt, die Untersuchungen seitens der UN bezüglich Massenverbrechen im Konflikt vorzeitig zu beenden. Berichte über Menschenrechtsverletzungen und Gewalt gegen Zivilist*innen in Tigray setzen sich fort, die humanitäre Lage bleibt alarmierend. 

Es ist erforderlich, den Druck auf die äthiopische Regierung und die anderen Konfliktparteien hinsichtlich einer Aufklärung der Massenverbrechen und der Verhinderung weiterer Gräueltaten aufrecht zu erhalten. Deutschland sollte sich gemeinsam mit der EU und anderen Partnerstaaten für eine Verlängerung der UN-Untersuchungskommission sowie eine angemessene Finanzierung und personelle Besetzung der ICHREE einsetzen, anstatt sich auf eine rein inneräthiopische Aufarbeitung zu verlassen. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch erheben weiterhin Vorwürfe bezüglich anhaltender Massenverbrechen in Tigray, insbesondere durch eritreische Truppen. 

Demokratische Republik Kongo: Möglichen Völkermord verhindern 

Die Afrikareise des Papstes im Februar 2023 lenkte den Blick der internationalen Öffentlichkeit kurzzeitig auf die Demokratische Republik Kongo (DRK). Trotzdem bleibt hierzulande weitgehend unbeachtet, dass sich dort aktuell ein neuer Völkermord gegen die Bevölkerungsgruppe der Tutsi zu entfalten droht – 29 Jahre nach dem Völkermord im Nachbarland Ruanda.  

Der Konflikt im Osten des Landes erschüttert es seit Jahrzehnten. Es gibt zahlreiche ethnische Gruppen in der Region, die teilweise seit langem bewaffnete Konflikte gegeneinander führen. Unterschiedlichste Milizen kämpfen um die Kontrolle über Land und Ressourcen, teilweise auch unterstützt durch internationale Akteur*innen. Der Konflikt hat bereits Millionen von Menschenleben gekostet und zu einer anhaltenden humanitären Krise im Land geführt. Die seit rund 20 Jahren im Land präsente UN-Mission MONUSCO ist dabei nicht in der Lage, die Zivilbevölkerung zu schützen oder die Konfliktparteien zur Rechenschaft zu ziehen. MONUSCO leidet zum einen unter schlechter Ausrüstung und einem eher friedenserzwingend ausgerichteten Mandat, bei teilweise fehlendem Handlungswillen seitens der oftmals aus autoritären Staaten stammenden Blauhelme. Zum anderen fehlt es inzwischen immer mehr an Akzeptanz bei der lokalen Bevölkerung, infolge unzureichender Schutzbemühungen seitens der Schutztruppe, aber auch da Vorwürfen gegen Blauhelmsoldaten erhoben werden, in Fälle sexueller Ausbeutung verstrickt zu sein.  

Derzeit eskaliert die Lage weiter. Die UN-Sonderbeauftragte für Völkermordprävention, Alice Wairimu Nderitu, betonte bereits im November 2022 nach einer Reise in die DRK: “Die gegenwärtige Gewalt ist ein Warnsignal für die Fragilität der Gesellschaft und ein Beweis für das Fortbestehen von Bedingungen, die es in der Vergangenheit ermöglicht haben, dass Hass und Gewalt in großem Maßstab zu einem Völkermord führen konnten“. Der Nachrichtensender NTV zitiert in einem Bericht den Vorsitzenden der Tutsi-Gemeinschaft in der ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu mit den Worten: „Der Völkermord ist schon im vollen Gange.“ 

Die Angriffe gegen die Tutsi-Minderheit – jener Bevölkerungsgruppe, die 1994 auch Ziel des Völkermordes in Ruanda war – stehen in Zusammenhang mit dem gewaltsamen Vorrücken der Rebellengruppe M23 im Osten Kongos. Diese Rebellengruppe rekrutiert viele Tutsi und wird Berichten zufolge durch die Regierung Ruandas unterstützt. In Reaktion auf das grausame Vorgehen der Rebellen richten andere bewaffnete Gruppen ihre Gewalt gegen die Tutsi im Allgemeinen. Eine tragische Hauptrolle spielt hier insbesondere die Hutu-Miliz FDLR, die unter anderem aus 1994 geflüchteten ruandischen Militärs sowie der ruandischen Hutu-Miliz Interahamwe hervorgegangen war, die einst den Völkermord in Ruanda organisiert hatte. Die FDLR unterstützt nun im Osten der Demokratischen Republik Kongo die kongolesische Armee im Kampf gegen die M23. 

Zeitgleich eskalieren weitere Konflikte im Land: Auch in der benachbarten Region Ituri, einer Provinz im Nordosten der DRK, wurden nach Berichten des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) allein seit Anfang April mehr als 150 Zivilist*innen getötet. In dieser Region ist ein lange ruhender Konflikt zwischen den Volksgruppen der Hema und Lendu 2017 wieder aufgeflammt und hat seitdem mehrere Tausend Menschenleben gefordert und mehr als 1,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben. 

Deutschland sollte gemeinsam mit Partnern und den Vereinten Nationen Druck auf Regierungen ausüben, damit die Unterstützung für Massenverbrechen begehende Rebellengruppen eingestellt wird. Dies muss sich sowohl an die Regierung Ruandas richten, damit diese ihre Unterstützung für die M23 einstellen, als auch an die Regierung der Demokratischen Republik Kongo, damit die Armee nicht mehr länger das Treiben der FDLR toleriert oder gar unterstützt. Zugleich muss die UN-Mission MONUSCO gemeinsam mit der kongolesischen Regierung und anderen internationalen und regionalen Organisationen, wie der Ostafrikanischen Gemeinschaft, die mit einer eigenen Militärpräsent im Osten der DRK im Kampf gegen M23 präsent ist, sowie der Zivilgesellschaft Maßnahmen zur Schlichtung der Spannungen zwischen den Volksgruppen in Ituri und Kivu intensivieren. MONUSCO muss besser ausgestattet werden und personell aufgestockt werden, um sein Mandat zum Schutz von Zivilisten wahrnehmen zu können und insbesondere die Gefahr eines Völkermordes an den Tutsi in Nord-Kivu bannen. 

Sudan: Zivilbevölkerung im Krieg zweier Generäle schützen 

Unter der Führung von General Abdel Fattah al-Burhan stürzte das Militär im Sudan im Oktober 2021 den zivil-militärischen Übergangssouveränitätsrat, der sich nach der Revolution und der Absetzung des Langzeitdiktators Omar al-Baschir im April 2019 gebildet hatte. 

Am 15. April 2023 eskalierte nun ein lange schwelender Machtkampf zwischen zwei wichtigen Fraktionen im sudanesischen Militärregime – kurz bevor die Macht im Land eigentlich wieder in zivile Hände hätte übergehen sollen. Die sudanesische Armee steht hinter General Abdel Fattah al-Burhan, seit dem Putsch Machthaber im Land. Auf der anderen Seite folgt die paramilitärische Gruppe „Rapid Support Forces“ (RSF) dem einstigen Warlord General Mohamed Hamdan Dagalo, bekannt als Hemedti. 

Die Kämpfe haben nach Angaben der Vereinten Nationen eine humanitäre Katastrophe zur Folge. Das Gesundheitssystem stehe kurz vor dem Zusammenbruch, Gesundheitseinrichtungen seien geplündert worden und würden teilweise für militärische Zwecke genutzt. Das UN-Welternährungsprogramm hat seine Arbeit eingestellt, nachdem Mitarbeitende getötet wurden. 

Der Machtkampf zwischen den beiden militärischen Gruppen hat seine Wurzeln in der Herrschaftszeit von Omar al-Bashir, der gezielt verschiedene Sicherheitskräfte aufgebaut hatte, die er gegeneinander ausspielte. Brisant in dieser Situation ist: Die RSF ging unter anderem aus Milizen in Darfur hervor, die auch als Janjaweed bekannt waren und von Bashir genutzt wurden, um eine Rebellion in Darfur niederzuschlagen. Das brutale Vorgehen der RSF resultierte in massiven Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Beobachter*innen auch als Völkermord einstuften. Omar al-Bashir wird für diese Gräueltaten vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gesucht. Hemedti widersetzt sich einer Integration der paramilitärischen RSF in die Streitkräfte scheint so – ebenso wie Fattah al-Burhan – seine Position in Sudan durch einen Griff nach der Macht sichern zu wollen. 

Hunderte, wenn nicht mehr Menschen, sind in den vergangenen zwei Wochen infolge der Kampfhandlungen im Sudan gestorben insbesondere in der Hauptstadt Karthum. Auch in anderen Regionen des Landes wird hart gekämpft –  wie z.B. in Darfur. Die Versorgungslage im Land ist ohnehin schlecht – so sind laut UN OCHA mehr als 15 Millionen Menschen im Land auf humanitäre Unterstützung angewiesen.  

Verschiedenen Berichten zufolge sind Beobachter*innen der Region zunehmend besorgt, dass sich die Kämpfe weiter auf die Region Darfur und andere Teile des Landes ausdehnen. Beobachter*innen befürchten gar einen Bürgerkrieg in Darfur, da die Kämpfe zwischen Militär und RSF in Darfur ein Sicherheitsvakuum geschaffen hätten: Bewaffnete Gruppen würden in Darfur Gesundheitseinrichtungen plündern und Häuser niederbrennen. Die Zivilbevölkerung in Darfur habe zugleich begonnen, sich gegen Milizen und gegen die Rapid Support Forces zu bewaffnen. Die geschieht vor dem Hintergrund neu entflammter Gewalt in den vergangenen Jahren: In West-Darfur haben in der jüngeren Vergangenheit arabische Milizen gemeinsam mit der RSF immer wieder Angriffe gegen nicht-arabische Gemeinschaften verübt. Seit Oktober 2021 eskaliert interkommunale Gewalt in den sudanesischen Regionen Darfur und Kordofan sowie im Bundesstaat Blue Nile, was immer wieder zu Opfern unter der Zivilbevölkerung und Menschenrechtsverletzungen führte. 

Die Sicherheitskräfte im Sudan und insbesondere die RSF sind in der Vergangenheit mit wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung vorgegangen und haben immer wieder auch gezielt Zivilist*innen angegriffen. Die Massenverbrechen in Darfur bleiben bis heute ungesühnt, wie auch Amnesty International mahnt.  

Die ohnehin schwere Situation sowie die Lebensmittelknappheit im Land würden sich durch ein Andauern der Gewalt gravierend verschärfen. So warnen die Vereinten Nationen: Die Zivilbevölkerung im Sudan, darunter zahlreiche Binnenvertriebene und Flüchtlinge insbesondere auch in Darfur, sucht verzweifelt nach Sicherheit und leidet unter den katastrophalen Folgen der Gewalt im Land. Viele Hilfsmaßnahmen wurden unterbrochen, hundertausende sind auf der Flucht. Eine neue Hungerkrise drohe. Die internationale Gemeinschaft muss gemeinsam mit der Afrikanischen Union regionale Initiativen, wie die Ägyptens und Südsudans, unterstützen, um zügig einen stabilen Waffenstillstand zu etablieren. Die Macht in Sudan muss dann in zivile Hände übergeben werden. 

Prävention von Massenverbrechen: Hinsehen, Ansprechen, Handeln

Auch in Zeiten geopolitischer Umbrüche müssen sich Deutschland und die EU weiterhin für die Prävention von Massenverbrechen einsetzen. Die deutsche Politik darf Situationen wie im Osten der Demokratischen Republik Kongo, in Nord-Äthiopien und Sudan nicht ignorieren, auch wenn konstruktives Handeln auf den ersten Blick schwierig erscheint. Es gilt regionale Initiativen zur Konfliktbearbeitung zu unterstützen und Druck auf die handelnden Akteur*innen aufzubauen, um Gräueltaten zu beenden.