Beiträge

Drohende Massenverbrechen – drei Konfliktherde im Schlaglicht

Äthiopien, Demokratische Republik Kongo, Sudan – drei Staaten, in denen die Gefahr für Massenverbrechen hoch ist, die aber in der deutschen Öffentlichkeit nur wenig Aufmerksamkeit erhalten. Dieser Beitrag wirft ein Schlaglicht auf drei Konfliktherde, die jeder für sich allein gesehen das Risiko bergen, jederzeit in neue Massenverbrechen zu eskalieren. 

Gregor Hofmann

Fast täglich erreichen uns neue, schockierende Berichte über Gräueltaten im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Zu Recht unterstützt die Bundesregierung mit Partnern Bemühungen, solche Gräueltaten durch Unterstützung der ukrainischen Regierung sowie mit strafrechtlichen Mitteln zu verhindern und zu verfolgen.  

Politische, mediale und öffentliche Aufmerksamkeit sind daher stark gebunden. Zugleich ereignen sich jedoch in anderen Weltregionen schwere Menschenrechtsverletzungen und eskalieren Konflikte in gewaltsame Ausmaße, die ein Wegschauen nicht erlauben. Schließlich hat die Bundesregierung sich dazu bekannt, dass die Prävention von Völkermord Teil deutscher Staatsräson ist und somit schwerste Menschenrechtsverletzungen nicht ignoriert werden dürfen.  

Äthiopien: Massenverbrechen aufklären, Gewalt beenden  

Anfang April reiste die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg, nach Äthiopien und in den Südsudan. Im Vorfeld betonte sie das anhaltende Leid der Menschen im Norden Äthiopiens sowie die Notwendigkeit einer Aufarbeitung der massiven Menschenrechtsverletzungen im jüngsten Konflikt. Diese Reise fand in der deutschen Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit und das, obwohl Äthiopien eines der politisch einflussreichsten Länder Ostafrikas ist. 

Im November 2020 war in der äthiopischen Region Tigray ein Konflikt zwischen der Regierung von Äthiopien und der Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF) ausgebrochen, welche vor dem Amtsantritt des derzeitigen Präsidenten Abiy Ahmed die äthiopische Politik dominiert hatte. Im Laufe des Konflikts wurden auch das Nachbarland Eritrea sowie Milizen aus der äthiopischen Region Amhara zu Konfliktparteien. Die massiven Kampfhandlungen hatten schwere Menschenrechtsverletzungen und eine humanitäre Katastrophe in den betroffenen Regionen Tigray, Amhara und Afar zur Folge. 

Allen Konfliktparteien werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und erhebliche Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht vorgeworfen. So beklagt eine UN-Untersuchungskommission (International Commission of Human Rights Experts on Ethiopia – ICHREE) in ihrem Bericht im September 2022 insbesondere Angriffe auf die Zivilbevölkerung, außergerichtliche Tötungen, Vergewaltigungen, sexuelle Gewalt und Aushungern als Mittel der Kriegsführung sowie die Verweigerung und Behinderung humanitärer Hilfe. Human Rights Watch und Amnesty International dokumentierten in einem Bericht im April 2022 auch ethnische Säuberungen in Tigray: Beamte der Region Amhara sowie regionale Spezialkräfte und Milizen seien, unterstützt durch föderale Kräfte, verantwortlich für die ethnische Säuberung gegen Tigrayer*innen in West-Tigray. 

Ein Friedensabkommen zwischen der Regierung und der TPLF im November 2022 sorgte für eine Beruhigung, der Konflikt ist jedoch noch nicht vollständig gelöst. Das Abkommen sieht eine Waffenruhe, eine Entwaffnung der TPLF, die Freilassung von Gefangenen, den Rückzug der eritreischen Truppen und Zugang für humanitäre Hilfe vor. Die Umsetzung kommt jedoch nur schleppend voran. Die UN-Untersuchungskommission klagt über fehlenden Zugang ins Land. Zugleich hatte Äthiopien erst auf Druck westlicher Staaten seine Bemühungen im UN-Menschenrechtsrat eingestellt, die Untersuchungen seitens der UN bezüglich Massenverbrechen im Konflikt vorzeitig zu beenden. Berichte über Menschenrechtsverletzungen und Gewalt gegen Zivilist*innen in Tigray setzen sich fort, die humanitäre Lage bleibt alarmierend. 

Es ist erforderlich, den Druck auf die äthiopische Regierung und die anderen Konfliktparteien hinsichtlich einer Aufklärung der Massenverbrechen und der Verhinderung weiterer Gräueltaten aufrecht zu erhalten. Deutschland sollte sich gemeinsam mit der EU und anderen Partnerstaaten für eine Verlängerung der UN-Untersuchungskommission sowie eine angemessene Finanzierung und personelle Besetzung der ICHREE einsetzen, anstatt sich auf eine rein inneräthiopische Aufarbeitung zu verlassen. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch erheben weiterhin Vorwürfe bezüglich anhaltender Massenverbrechen in Tigray, insbesondere durch eritreische Truppen. 

Demokratische Republik Kongo: Möglichen Völkermord verhindern 

Die Afrikareise des Papstes im Februar 2023 lenkte den Blick der internationalen Öffentlichkeit kurzzeitig auf die Demokratische Republik Kongo (DRK). Trotzdem bleibt hierzulande weitgehend unbeachtet, dass sich dort aktuell ein neuer Völkermord gegen die Bevölkerungsgruppe der Tutsi zu entfalten droht – 29 Jahre nach dem Völkermord im Nachbarland Ruanda.  

Der Konflikt im Osten des Landes erschüttert es seit Jahrzehnten. Es gibt zahlreiche ethnische Gruppen in der Region, die teilweise seit langem bewaffnete Konflikte gegeneinander führen. Unterschiedlichste Milizen kämpfen um die Kontrolle über Land und Ressourcen, teilweise auch unterstützt durch internationale Akteur*innen. Der Konflikt hat bereits Millionen von Menschenleben gekostet und zu einer anhaltenden humanitären Krise im Land geführt. Die seit rund 20 Jahren im Land präsente UN-Mission MONUSCO ist dabei nicht in der Lage, die Zivilbevölkerung zu schützen oder die Konfliktparteien zur Rechenschaft zu ziehen. MONUSCO leidet zum einen unter schlechter Ausrüstung und einem eher friedenserzwingend ausgerichteten Mandat, bei teilweise fehlendem Handlungswillen seitens der oftmals aus autoritären Staaten stammenden Blauhelme. Zum anderen fehlt es inzwischen immer mehr an Akzeptanz bei der lokalen Bevölkerung, infolge unzureichender Schutzbemühungen seitens der Schutztruppe, aber auch da Vorwürfen gegen Blauhelmsoldaten erhoben werden, in Fälle sexueller Ausbeutung verstrickt zu sein.  

Derzeit eskaliert die Lage weiter. Die UN-Sonderbeauftragte für Völkermordprävention, Alice Wairimu Nderitu, betonte bereits im November 2022 nach einer Reise in die DRK: “Die gegenwärtige Gewalt ist ein Warnsignal für die Fragilität der Gesellschaft und ein Beweis für das Fortbestehen von Bedingungen, die es in der Vergangenheit ermöglicht haben, dass Hass und Gewalt in großem Maßstab zu einem Völkermord führen konnten“. Der Nachrichtensender NTV zitiert in einem Bericht den Vorsitzenden der Tutsi-Gemeinschaft in der ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu mit den Worten: „Der Völkermord ist schon im vollen Gange.“ 

Die Angriffe gegen die Tutsi-Minderheit – jener Bevölkerungsgruppe, die 1994 auch Ziel des Völkermordes in Ruanda war – stehen in Zusammenhang mit dem gewaltsamen Vorrücken der Rebellengruppe M23 im Osten Kongos. Diese Rebellengruppe rekrutiert viele Tutsi und wird Berichten zufolge durch die Regierung Ruandas unterstützt. In Reaktion auf das grausame Vorgehen der Rebellen richten andere bewaffnete Gruppen ihre Gewalt gegen die Tutsi im Allgemeinen. Eine tragische Hauptrolle spielt hier insbesondere die Hutu-Miliz FDLR, die unter anderem aus 1994 geflüchteten ruandischen Militärs sowie der ruandischen Hutu-Miliz Interahamwe hervorgegangen war, die einst den Völkermord in Ruanda organisiert hatte. Die FDLR unterstützt nun im Osten der Demokratischen Republik Kongo die kongolesische Armee im Kampf gegen die M23. 

Zeitgleich eskalieren weitere Konflikte im Land: Auch in der benachbarten Region Ituri, einer Provinz im Nordosten der DRK, wurden nach Berichten des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) allein seit Anfang April mehr als 150 Zivilist*innen getötet. In dieser Region ist ein lange ruhender Konflikt zwischen den Volksgruppen der Hema und Lendu 2017 wieder aufgeflammt und hat seitdem mehrere Tausend Menschenleben gefordert und mehr als 1,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben. 

Deutschland sollte gemeinsam mit Partnern und den Vereinten Nationen Druck auf Regierungen ausüben, damit die Unterstützung für Massenverbrechen begehende Rebellengruppen eingestellt wird. Dies muss sich sowohl an die Regierung Ruandas richten, damit diese ihre Unterstützung für die M23 einstellen, als auch an die Regierung der Demokratischen Republik Kongo, damit die Armee nicht mehr länger das Treiben der FDLR toleriert oder gar unterstützt. Zugleich muss die UN-Mission MONUSCO gemeinsam mit der kongolesischen Regierung und anderen internationalen und regionalen Organisationen, wie der Ostafrikanischen Gemeinschaft, die mit einer eigenen Militärpräsent im Osten der DRK im Kampf gegen M23 präsent ist, sowie der Zivilgesellschaft Maßnahmen zur Schlichtung der Spannungen zwischen den Volksgruppen in Ituri und Kivu intensivieren. MONUSCO muss besser ausgestattet werden und personell aufgestockt werden, um sein Mandat zum Schutz von Zivilisten wahrnehmen zu können und insbesondere die Gefahr eines Völkermordes an den Tutsi in Nord-Kivu bannen. 

Sudan: Zivilbevölkerung im Krieg zweier Generäle schützen 

Unter der Führung von General Abdel Fattah al-Burhan stürzte das Militär im Sudan im Oktober 2021 den zivil-militärischen Übergangssouveränitätsrat, der sich nach der Revolution und der Absetzung des Langzeitdiktators Omar al-Baschir im April 2019 gebildet hatte. 

Am 15. April 2023 eskalierte nun ein lange schwelender Machtkampf zwischen zwei wichtigen Fraktionen im sudanesischen Militärregime – kurz bevor die Macht im Land eigentlich wieder in zivile Hände hätte übergehen sollen. Die sudanesische Armee steht hinter General Abdel Fattah al-Burhan, seit dem Putsch Machthaber im Land. Auf der anderen Seite folgt die paramilitärische Gruppe „Rapid Support Forces“ (RSF) dem einstigen Warlord General Mohamed Hamdan Dagalo, bekannt als Hemedti. 

Die Kämpfe haben nach Angaben der Vereinten Nationen eine humanitäre Katastrophe zur Folge. Das Gesundheitssystem stehe kurz vor dem Zusammenbruch, Gesundheitseinrichtungen seien geplündert worden und würden teilweise für militärische Zwecke genutzt. Das UN-Welternährungsprogramm hat seine Arbeit eingestellt, nachdem Mitarbeitende getötet wurden. 

Der Machtkampf zwischen den beiden militärischen Gruppen hat seine Wurzeln in der Herrschaftszeit von Omar al-Bashir, der gezielt verschiedene Sicherheitskräfte aufgebaut hatte, die er gegeneinander ausspielte. Brisant in dieser Situation ist: Die RSF ging unter anderem aus Milizen in Darfur hervor, die auch als Janjaweed bekannt waren und von Bashir genutzt wurden, um eine Rebellion in Darfur niederzuschlagen. Das brutale Vorgehen der RSF resultierte in massiven Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Beobachter*innen auch als Völkermord einstuften. Omar al-Bashir wird für diese Gräueltaten vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gesucht. Hemedti widersetzt sich einer Integration der paramilitärischen RSF in die Streitkräfte scheint so – ebenso wie Fattah al-Burhan – seine Position in Sudan durch einen Griff nach der Macht sichern zu wollen. 

Hunderte, wenn nicht mehr Menschen, sind in den vergangenen zwei Wochen infolge der Kampfhandlungen im Sudan gestorben insbesondere in der Hauptstadt Karthum. Auch in anderen Regionen des Landes wird hart gekämpft –  wie z.B. in Darfur. Die Versorgungslage im Land ist ohnehin schlecht – so sind laut UN OCHA mehr als 15 Millionen Menschen im Land auf humanitäre Unterstützung angewiesen.  

Verschiedenen Berichten zufolge sind Beobachter*innen der Region zunehmend besorgt, dass sich die Kämpfe weiter auf die Region Darfur und andere Teile des Landes ausdehnen. Beobachter*innen befürchten gar einen Bürgerkrieg in Darfur, da die Kämpfe zwischen Militär und RSF in Darfur ein Sicherheitsvakuum geschaffen hätten: Bewaffnete Gruppen würden in Darfur Gesundheitseinrichtungen plündern und Häuser niederbrennen. Die Zivilbevölkerung in Darfur habe zugleich begonnen, sich gegen Milizen und gegen die Rapid Support Forces zu bewaffnen. Die geschieht vor dem Hintergrund neu entflammter Gewalt in den vergangenen Jahren: In West-Darfur haben in der jüngeren Vergangenheit arabische Milizen gemeinsam mit der RSF immer wieder Angriffe gegen nicht-arabische Gemeinschaften verübt. Seit Oktober 2021 eskaliert interkommunale Gewalt in den sudanesischen Regionen Darfur und Kordofan sowie im Bundesstaat Blue Nile, was immer wieder zu Opfern unter der Zivilbevölkerung und Menschenrechtsverletzungen führte. 

Die Sicherheitskräfte im Sudan und insbesondere die RSF sind in der Vergangenheit mit wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung vorgegangen und haben immer wieder auch gezielt Zivilist*innen angegriffen. Die Massenverbrechen in Darfur bleiben bis heute ungesühnt, wie auch Amnesty International mahnt.  

Die ohnehin schwere Situation sowie die Lebensmittelknappheit im Land würden sich durch ein Andauern der Gewalt gravierend verschärfen. So warnen die Vereinten Nationen: Die Zivilbevölkerung im Sudan, darunter zahlreiche Binnenvertriebene und Flüchtlinge insbesondere auch in Darfur, sucht verzweifelt nach Sicherheit und leidet unter den katastrophalen Folgen der Gewalt im Land. Viele Hilfsmaßnahmen wurden unterbrochen, hundertausende sind auf der Flucht. Eine neue Hungerkrise drohe. Die internationale Gemeinschaft muss gemeinsam mit der Afrikanischen Union regionale Initiativen, wie die Ägyptens und Südsudans, unterstützen, um zügig einen stabilen Waffenstillstand zu etablieren. Die Macht in Sudan muss dann in zivile Hände übergeben werden. 

Prävention von Massenverbrechen: Hinsehen, Ansprechen, Handeln

Auch in Zeiten geopolitischer Umbrüche müssen sich Deutschland und die EU weiterhin für die Prävention von Massenverbrechen einsetzen. Die deutsche Politik darf Situationen wie im Osten der Demokratischen Republik Kongo, in Nord-Äthiopien und Sudan nicht ignorieren, auch wenn konstruktives Handeln auf den ersten Blick schwierig erscheint. Es gilt regionale Initiativen zur Konfliktbearbeitung zu unterstützen und Druck auf die handelnden Akteur*innen aufzubauen, um Gräueltaten zu beenden. 

Massenverbrechen im Tigray-Konflikt: Überblick und internationale Reaktionen

von Miriam Schirmer und Lukas Schüttlöffel

In der Region Tigray im Nordwesten Äthiopiens wird seit November 2020 ein Guerillakrieg geführt. Mittlerweile bestehen schwerwiegende Indizien für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und erhebliche Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht durch alle Konfliktparteien. Insbesondere Handlungen der äthiopischen und eritreischen Regierungstruppen deuten in Umfang und Intensität auf schwere ethnisch motivierte Massenverbrechen an der tigrinischen Bevölkerung hin; hierunter Massaker, sexualisierte Gewalt, Aushungern und Vernichtung kulturellen Erbes. Infolgedessen kommt es zu massiven Fluchtbewegungen innerhalb der Konfliktregion und über die Grenze in den Sudan. Weite Teile der internationalen Gemeinschaft haben jegliche Gewaltanwendung der Akteure verurteilt und sich besorgt geäußert – so auch Deutschland, etwa in einem gemeinsamen Statement der G7-Staaten. Konkrete Maßnahmen zur Konfliktbewältigung und Prävention von Massenverbrechen hat die Bundesregierung bisher nicht ergriffen.

Hintergrund des Konflikts in Tigray

Nach anhaltenden Massenprotesten gegen die Partei „Volksbefreiungsfront von Tigray“ (Tigray’s People Liberation Front, TPLF), die in den vergangen drei Jahrzehnten überwiegend die Regierungspolitik in Äthiopien bestimmt hatte, wurde 2018 Abiy Ahmed Ali Ministerpräsident Äthiopiens. Infolgedessen trat die TPLF zunehmend in den Hintergrund und Abiy liberalisierte die bisher teils repressive politische Ordnung des Ethnoföderalstaates. Für entsprechende Reformen, internationale Kooperationsbildung und insbesondere Vermittlungen im Rahmen des Grenzkonfliktes mit dem nördlich an den Bundesstaat der Tigray angrenzenden Eritrea wurde er 2019 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Als Abiy Ende 2019 die Regierungskoalition in der sogenannten „Wohlstandspartei” zusammenführte, schloss sich die TPLF nicht an. Im Spätsommer 2020 verschob die Regierung aufgrund von Covid-19 die Parlamentswahlen. Die TPLF, Regierungspartei der Verwaltungsregion Tigray, bezeichnete die Verschiebung der Wahlen als verfassungswidrig, führte die geplanten Regionalwahlen in Tigray eigenständig durch und erklärte das Mandat der Regierung Abiy für auslaufend. Dieses Vorgehen bezeichnete wiederum die Regierung Abiy für verfassungswidrig und setzte die ausstehenden Wahlen für den 5. und 12. Juni 2021 an.

Da sie fürchteten, dass eine Offensive äthiopischer Regierungstruppen bevorstehe, übernahmen am 3. November 2020 tigrinische Rebell*innen gewaltsam die Kontrolle über wichtige Militärstützpunkte in Tigray und ermordeten oder inhaftierten regierungstreue Militärangehörige. Als Reaktion ordnete die Regierung Abiy am darauffolgenden Tag eine militärische Intervention an, verhängte einen sechsmonatigen Notstand über die Region und setzte eine Übergangsregierung ein. Internet- und Telefonkommunikation sind seither ausgesetzt.

Binnen eines Monats eroberten Regierungstruppen Tigrays Hauptstadt Mek‘ele, woraufhin Abiy die militärische Operation für beendet erklärte. Der flüchtige Anführer der TPLF, Debretsion Gebremichael, äußerte die Bereitschaft der Truppen zum Widerstand und warf den Regierungskräften Kriegsverbrechen vor. Anfang April verkündete Abiy, dass sich die Auseinandersetzungen mit der Tigray Defense Force zu einem längerfristigen Guerillakrieg entwickelt hätten. Die Tigray Defense Force besteht aus zur TPLF loyalen regionalen Sicherheitskräften Tigrays und assoziierten Milizen. Ihnen gegenüber gehören zu den wesentlichen militärischen Akteuren im Konflikt um die Region Tigray nicht nur äthiopische und eritreische Regierungstruppen. Auch paramilitärische Gruppen und reguläre Sicherheitskräfte aus Amhara beanspruchen Gebiete im westlichen Tigray. Mitte April 2021 verhängte die äthiopische Regierung wegen eskalierender Gewalt in mehreren Städten einen Notstand über die Region Amhara.

Der International Crisis Group zufolge halten die tigrinischen Truppen zentrale und südöstliche rurale Gebiete Tigrays und erfahren überwiegend Unterstützung von der verbliebenen Bevölkerung. Amharische Gruppierungen und eritreische Truppen seien vor allem in Gebieten über ihre eigenen Grenzen hinaus aktiv, die äthiopische Regierung kontrolliere vor allem die Städte. Erst am 23. März 2021 räumte Abiy die Präsenz eritreischer Soldat*innen in Tigray ein – nachdem er dies gegenüber dem Generalsekretär der Vereinten Nationen (VN) António Guterres im Dezember 2020 verneint hatte – und distanzierte sich von ihnen. Drei Tage darauf erklärte Eritreas Präsident Isaias Afwerki im Gespräch mit Abiy den Rückzug der Truppen aus der Region. Mark Andrew Lowcock, Leiter des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), berichtete am 15. April gegenüber dem VN-Sicherheitsrat, dass eritreische Soldat*innen weiterhin in Tigray präsent seien. Daraufhin kündigte Eritrea in einer Stellungnahme an den Sicherheitsrat den Rückzug seiner Truppen an.

Berichte über Massenverbrechen häufen sich

Der Zugang in die Region ist Journalist*innen nur begrenzt gestattet. Internationalen Berichterstatter*innen wird die Einreise zum Teil verweigert, vereinzelt kommt es auch zu Verhaftungen an der Grenze. Zudem gibt es Berichte über die Ermordung regierungskritischer Journalist*innen vor Ort. Ein klares Bild über aktuelle Vorgänge in der Region zu erhalten gestaltet sich demnach schwierig. Dazu kommt, dass eritreische Soldat*innen teils Uniformen der äthiopischen Truppen zur Vertuschung ihrer Identität tragen. Nichtsdestotrotz erreichen glaubwürdige Berichte von Massakern, sexualisierter Gewalt, Plünderungen, Zerstörung von Dörfern und Landstrichen, ethnisch motivierter Diskriminierung und Aggression regelmäßig die internationale Gemeinschaft:

So berichteten Human Rights Watch und Amnesty International Ende 2020 über ein Massaker mit hunderten überwiegend amharischen Toten in Mai-Kadra im Nordwesten Tigrays. Die äthiopische Menschenrechtskommission (Ethiopian Human Rights Commission, EHRC) schrieb nach Untersuchungen mindestens 600 der Tötungen lokalen TPLF-sympathisierenden Gruppierungen zu. Zeug*innenaussagen gegenüber Amnesty International und Human Rights Watch ergaben ähnliche Ergebnisse.

Wenngleich allen Konfliktparteien erhebliche Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht angelastet werden, wird international besonderes Augenmerk auf ethnisch motivierte Menschenrechtsverletzungen und mögliche Massenverbrechen durch amharische, äthiopische und eritreische Truppen an der Bevölkerung von Tigray gelegt. Abiy bestätigte die Kenntnis von Berichten möglicher Kriegsverbrechen.

Zum einen ist sexualisierte Gewalt weitverbreitet und wird gezielt als Kriegsmittel gegen tigrinische Frauen eingesetzt. So konnten unter anderem Gruppenvergewaltigungen durch äthiopische und eritreische Soldaten anhand von medizinischen Dokumenten und Aussagen von Ärzt*innen und Überlebenden bestätigt werden. Betroffene Frauen berichten von Aussagen ihrer Vergewaltiger, denen nach ihre Blutlinie bereinigt werden solle.

Ein Bericht des Global Centre for the Responsibility to Protect stellte zudem heraus, dass es sich bei Angriffszielen der eritreischen und äthiopischen Regierung gehäuft um religiöse Stätten und kulturelles Erbe handelt. Stätten, die zum Kulturerbe gehören, fallen im Völkerrecht unter einen besonderen Schutz; ihre systematische und gezielte Zerstörung stellt ein Kriegsverbrechen dar und ist Indikator für kulturellen Völkermord.

Auch medizinische Einrichtungen sind betroffen: Laut Ärzte ohne Grenzen sind nach der systematischen Zerstörung, Plünderung oder Besetzung medizinischer Einrichtungen durch eritreische und äthiopische Truppen nur noch 13% der medizinischen Einrichtungen normal funktionsfähig. Basisdienstleistungen sind für die vom Konflikt Betroffenen kaum noch erreichbar. Nach OCHA-Angaben sind mindestens 4,5 Millionen Menschen – über 65% der tigrinischen Bevölkerung – auf Hilfe zur Nahrungsmittelbeschaffung angewiesen. Die World Peace Foundation kommt zu dem Schluss, dass die Regierungen Äthiopiens und Eritreas die Menschen in Tigray aushungern. Indizienbeweise würden darauf hindeuten, dass dies vorsätzlich, systematisch und weitverbreitet geschehe.

Zudem machten Amnesty International und Human Rights Watch auf Misshandlungen, Massaker und andere Menschenrechtsverletzungen durch eritreische Truppen an der Bevölkerung des zu Eritrea grenznahen Aksum aufmerksam, in deren Rahmen mehrere hundert Menschen getötet wurden. Die beiden internationalen Menschenrechtsorganisationen fordern eine unabhängige Aufklärung der Kriegsverbrechen und möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die VN. Informationen der beiden Menschenrechtsorganisationen zu den Massakern basieren sowohl auf Sattelitenbildern als auch auf Interviews mit Flüchtenden und Betroffenen aus der Region. CNN berichtete zudem über Massaker durch eritreische Soldat*innen in Maryam Dengelat und außergerichtliche Hinrichtungen durch äthiopische Soldat*innen in Mahibere Dego.

Seit Beginn der anhaltenden Kampfhandlungen sind etwa 2,2 Millionen Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben worden. Davon waren bis Anfang Februar 2021 bereits mehr als 61.000 Äthiopier*innen in den Sudan geflohen – zum Teil konnten sie in durch die VN errichteten Camps Zuflucht finden. Aus Lagern im Norden Äthiopiens, die zuletzt etwa 96.000 eritreische politische Flüchtende beherbergten, häufen sich Berichte über Tötungen, gezielte Entführungen und erzwungene Rückführungen nach Eritrea durch eritreische Soldat*innen. Zwei dieser vier Camps – Hitsats und Shimelba – sind vollständig zerstört und geplündert.

Internationale Gemeinschaft drängt auf Aufklärung und humanitären Zugang

Vor dem Hintergrund, dass zunehmend auch die angrenzenden Staaten Eritrea und Sudan vom Konflikt betroffen sind, wächst die internationale Sorge vor einer staatenübergreifenden Destabilisierung am Horn von Afrika. UN-Generalsekretär Guterres verkündete bereits Anfang Februar 2021 seine ernste Besorgnis über die humanitäre Lage in Äthiopien. Die UN-Sonderberaterin für die Verhinderung von Völkermord, Alice Weirimu Nderitu, erklärte am 5. Februar 2021, sie sei alarmiert angesichts von Berichten und Vorwürfen ethnisch motivierter schwerer Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Um weitere Gräueltaten an der Bevölkerung zu verhindern, forderte sie die äthiopische Regierung dazu auf, nationale Mechanismen zur Ursachenbekämpfung, zur Stärkung des nationalen Zusammenhalts und zur Versöhnung umzusetzen. Auch die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, forderte im März 2021, es sei dringend notwendig, humanitäre Hilfen in der Region zuzulassen und eine objektive Beurteilung der Lage vor Ort zu erlangen. Erste Analysen ließen auf ernste Verstöße gegen internationales Recht durch alle beteiligten Militärgruppierungen schließen, die möglicherweise auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfassen. Die UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten, verurteilte insbesondere die sexualisierte Gewalt in Tigray, die ein Maß an Grausamkeit jenseits allen Verständnisses annehme. Es gäbe glaubhafte Berichte, dass systematisch und ortsübergreifend Gesundheitseinrichtungen und Unterkünfte für Überlebende zum Ziel sexualisierter Gewalt werden.

Nach mehrfachen ergebnislosen Beratungen unter dem Tagesordnungspunkt ‚any other business‘ äußerte sich der VN-Sicherheitsrat erstmals am 22. April. Einwände gegen ein offizielles Statement gegen militärische Gewalt in Tigray waren unter anderem von Indien, Russland und China gekommen. Mitte November 2020 forderte die Afrikanische Union bereits einen Waffenstillstand und Dialog zwischen den Konfliktparteien und sandte eine Delegation zur friedlichen Beilegung des Konflikts. Allerdings lehnte Abiy ihr Mediationsangebot mit Verweis auf Nichtintervention in innere Angelegenheiten ab. Auch der Europäische Rat forderte Anfang März alle Parteien dazu auf, die Gewalt in der Region unverzüglich zu beenden und einen schnellen ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe zu schaffen. Über Aussagen zu möglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei die Europäische Union äußerst besorgt. Gleichzeitig wurde die hohe Bedeutung der strategischen Partnerschaft mit Äthiopien betont. Im Dezember 2020 hatte die Europäische Union bereits Hilfsgelder für Äthiopien aufgrund des anhaltenden Konflikts zurückgehalten.

Mitte März wurde schließlich die Durchführung einer gemeinsamen Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang mit dem Tigray-Konflikt durch die EHRC und das Büro der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) beschlossen. Die Unabhängigkeit der EHRC ist nicht abschließend geklärt. Ergebnisse der vorerst auf drei Monate angesetzten Mission stehen noch aus.

Einem internen US-Regierungsbericht nach gehen von äthiopischen, amharischen und eritreischen Truppen Bemühungen um eine „ethnische Homogenisierung“ des westlichen Tigray aus. Im März 2021 forderte US-Außenminister Antony Blinken einen Stopp der „ethnischen Säuberungen“. Dahingegen fällt die Reaktion der deutschen Bundesregierung wesentlich verhaltener aus.

Deutschland zeigt sich besorgt

Bereits am 23. November 2020 sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel dem sudanesischen Premierminister Abdalla Hamdok in einem Telefonat finanzielle Hilfe zur Unterstützung der aus Äthiopien in den Sudan geflohenen Menschen zu. Wenige Tage darauf sprach sich Bundesaußenminister Heiko Maas bei einem Treffen mit seinem äthiopischem Pendant Demeke Mekonnen für einen Waffenstillstand und unbeschränkten Zugang für humanitäre Hilfen in die Region aus. Anfang Februar 2021 telefonierte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem äthiopischen Premierminister Abiy. Dabei betonte Merkel die Bedeutung einer friedlichen Lösung des Konflikts in der Region Tigray und der humanitären Versorgung der betroffenen Menschen im Konfliktgebiet.

In der 46. Sitzung des VN-Menschenrechtsrats im Februar 2021 verlas Deutschland ein gemeinsames Statement für 42 VN-Staaten: Sie seien weiterhin sehr um Anschuldigungen schwerer Menschenrechtsverletzungen und die Sicherheit der Zivilbevölkerung besorgt. Humanitären Partner*innen, Journalist*innen, Medien- und Zivilgesellschaftsorganisationen und der OHCHR/EHRC-Untersuchungsmission solle ungehinderter Zugang gewährt werden. Äthiopien sei ein Eckpfeiler für Frieden in der Region.

Gemeinsam mit den Außenminister*innen der G7-Staaten brachte Maas im April seine Besorgnis über die Berichte von Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen humanitäres Völkerrecht zum Ausdruck. Sie verurteilten die Gewaltverbrechen an der Bevölkerung Tigrays und betonten dass diese unabhängig, unvoreingenommen und transparent aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssten.

Auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Deutschen Bundestag vom 17. März 2021 zur Situation in Tigray antwortete die Bundesregierung in puncto Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht, dass „keine über die über die Berichterstattung von Nichtregierungsorganisationen und der äthiopischen Menschenrechtskommission hinausgehenden Erkenntnisse [vorlägen]“. Man setze sich „nachdrücklich für die unabhängige Untersuchung, Aufarbeitung sowie die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen sowie von möglichen Kriegsverbrechen ein“, und stehe in regelmäßigem Austausch mit OHCHR und EHRC.

Konkrete Maßnahmen zur Konfliktbewältigung hat die Bundesregierung bisher nicht ergriffen, auch eine individuelle Positionierung zur Prävention möglicher Massenverbrechen fand nicht statt.

Deutschland muss auf bedingungslosen Schutz der Zivilbevölkerung hinwirken

Insgesamt machen die Berichte aus Tigray deutlich, dass dort in den vergangenen Monaten Massenverbrechen begangen wurden und deren Verübung weiterhin anhält. Aufgrund der schwierigen Informationslage sind die Vorwürfe nur begrenzt überprüfbar – in jedem Fall muss die Bundesregierung gemeinsam mit internationalen Partner*innen weiterhin auf den bedingungslosen Schutz der Zivilbevölkerung hinwirken und uneingeschränkten humanitären Zugang einfordern. Außerdem sind eine umfassende Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung der Vorwürfe im Hinblick auf mutmaßliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen erforderlich – nicht zuletzt, um zukünftigen Massenverbrechen vorzubeugen.

Die aktuelle Situation erscheint somit als Paradebeispiel für die Notwendigkeit von Frühwarnung und rechtzeitigem Handeln, wie es in der internationalen Gemeinschaft und besonders auch in Deutschland immer wieder gefordert wird. Bundesaußenminister Maas hat erst kürzlich im Umsetzungsbericht der Leitlinien “Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern” die Bedeutung von “early warning” und “early action” erneut betont. Die weitere Entwicklung in Äthiopien wird auch zeigen, wie ernst Deutschland diese Selbstverpflichtung nimmt. Ein anhaltendes Engagement mit den Geschehnissen vor Ort ist zwingend erforderlich.