Interview mit Tom Koenigs (Bündnis 90/Die Grünen):„Unter grüner Regierungsverantwortung wäre der Schutz von Menschen vor Massenverbrechen eine außen- und menschenrechtspolitische Priorität.“

Mit ih­rem de­tail­lier­ten An­trag zur Schutz­ver­ant­wor­tung im Bun­des­tag im Mai 2012 zeig­ten die Grü­nen, dass sie sich in­ten­siv mit der Schutz­ver­ant­wor­tung aus­ein­an­der­set­zen. Ei­ner der en­ga­gier­tes­ten Ver­tre­ter der Schutz­ver­ant­wor­tung bei den Grü­nen ist Tom Ko­enigs. Im In­ter­view mit Ge­no­ci­de Alert er­klärt der Vor­sit­zen­de des Aus­schus­ses für Men­schen­rech­te und hu­ma­ni­tä­re Hil­fe des Bun­des­ta­ges die Po­si­ti­on der Grü­nen zur Schutz­ver­ant­wor­tung. Er at­tes­tiert der Bun­des­re­gie­rung Kon­zept­lo­sig­keit im Be­zug auf die Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect und be­zieht auch zu den kon­kre­ten Fäl­len in Li­by­en und Sy­ri­en Stel­lung.

 Ge­no­ci­de Alert: Sie sind ei­ner der stärks­ten Ver­tre­ter  der Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect in ih­rer Frak­ti­on. Die Mei­nung der GRÜ­NEN zur Schutz­ver­ant­wor­tung ist je­doch nicht ein­heit­lich. Was ist ihr wich­tigs­tes Ar­gu­ment, um Zweif­ler in Ih­rer Par­tei von der Schutz­ver­ant­wor­tung zu über­zeu­gen?

Tom Ko­enigs: Ich fin­de es wich­tig, zwi­schen dem Prin­zip der Schutz­ver­ant­wor­tung und den In­stru­men­ten sei­ner Um­set­zung zu un­ter­schei­den. Das Prin­zip ist an­er­kannt. Wir dis­ku­tie­ren dar­über, wie es am wirk­sams­ten um­ge­setzt wer­den kann, al­so wel­che Maß­nah­men in wel­chen Si­tua­tio­nen hilf­reich sind, um Men­schen wirk­sam vor schwers­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen zu schüt­zen und Staa­ten da­bei zu hel­fen. RtoP ist nicht mit mi­li­tä­ri­schen In­ter­ven­tio­nen gleich­zu­set­zen son­dern zielt dar­auf ab, schwers­te Men­schen­rechts­ver­bre­chen wie Völ­ker­mord be­reits im Vor­feld zu ver­hin­dern. Die über­wie­gen­de Mehr­heit der RtoP-Maß­nah­men sind zi­vi­le und di­plo­ma­ti­sche Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men, die nicht im Zen­trum der me­dia­len Öf­fent­lich­keit ste­hen. Dar­in müs­sen wir bes­ser wer­den, da­mit mi­li­tä­ri­sche Ein­grif­fe erst gar nicht nö­tig wer­den. Es gibt vie­le Op­tio­nen zwi­schen den Ex­tre­men Nichts­tun oder Ent­sen­dung der Ma­ri­nes.  Zwangs­maß­nah­men als äu­ßers­te Mit­tel ge­hö­ren aber zu ei­nem glaub­wür­di­gen Kon­zept. Men­schen­ver­ach­ten­de Re­gime las­sen sich nicht mit gu­ten Wor­ten am Mor­den hin­dern.

Ge­no­ci­de Alert: In den neun­zi­ger Jah­ren gab es im Rah­men der Krie­ge auf dem Bal­kan hef­ti­ge De­bat­ten zwi­schen den Im­pe­ra­ti­ven „nie wie­der Krieg“ und „nie wie­der Ausch­witz“. Über wel­che Etap­pen hat sich die­se De­bat­te seit 1999 ent­wi­ckelt? Wel­che Rol­le ha­ben bei die­ser Dis­kus­si­on die Kri­sen in Dar­fur und im Kon­go ge­spielt?

Tom Ko­enigs: Schwers­te Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen stel­len uns im­mer vor das Di­lem­ma, uns schul­dig zu ma­chen – durch Ein­grei­fen oder durch Nichts­tun. Die­ses Di­lem­ma wird heu­te aber an­ders dis­ku­tiert als noch vor zehn Jah­ren. Nach den Ver­bre­chen in Ru­an­da 1994, Sre­bre­ni­ca 1995 und im Ko­so­vo 1999 wur­de hef­tig de­bat­tiert, wie le­gi­tim es ist, mit mi­li­tä­ri­schem Ein­grei­fen schwers­te Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen zu ver­hin­dern. In Deutsch­land hat­te man aus Sor­ge vor ei­ner Mi­li­ta­ri­sie­rung der Au­ßen­po­li­tik ei­ni­ge Ele­men­te des Men­schen­rechts­schut­zes ver­nach­läs­sigt. Die in­ter­na­tio­na­le An­er­ken­nung der Schutz­ver­ant­wor­tung 2005 hat die Po­si­tio­nen „Nie wie­der Krieg“ und „Nie wie­der Ausch­witz“ ein­an­der an­ge­nä­hert. Wir re­den nicht mehr über das Recht von Staa­ten zur In­ter­ven­ti­on, son­dern dar­über, dass Staa­ten für den Schutz der ei­ge­nen Be­völ­ke­rung ver­ant­wort­lich sind und dar­über, wie die in­ter­na­tio­na­le Staa­ten­ge­mein­schaft Staa­ten da­bei un­ter­stüt­zen kann. Zi­vi­le prä­ven­ti­ve Maß­nah­men wur­den ex­pli­zit in den Vor­der­grund ge­stellt und mi­li­tä­ri­sches Ein­grei­fen nur im äu­ßers­ten Not­fall und nur mit ei­nem Man­dat des VN-Si­cher­heits­ra­tes ak­zep­tiert.

Fäl­le von lang an­dau­ern­den Ver­bre­chen wie in Dar­fur oder im Kon­go ha­ben ge­zeigt, dass mi­li­tä­ri­sche Zu­rück­hal­tung nicht im­mer wei­ter hilft. Ei­ne früh­zei­ti­ge mi­li­tä­ri­sche Re­ak­ti­on kann in man­chen Fäl­len, wenn sie von zi­vi­len und po­li­ti­schen Maß­nah­men be­glei­tet und ge­folgt ist, zu mehr Frie­den bei­tra­gen als ein ka­te­go­ri­scher Ge­walt­ver­zicht. Im UN-Rah­men ha­ben es ein­zel­ne Staa­ten schwe­rer, für rein macht­po­li­tisch mo­ti­vier­te In­ter­ven­tio­nen Zu­stim­mung zu fin­den. Die Ver­su­che Russ­lands, die In­ter­ven­ti­on in Ge­or­gi­en 2008 mit der Schutz­ver­ant­wor­tung zu be­grün­den oder die Be­mü­hun­gen der US-Re­gie­rung, den Prä­ven­tiv­krieg ge­gen den Irak 2003 mit men­schen­recht­li­chen Zie­len zu le­gi­ti­mie­ren, sind ge­schei­tert.

Ge­no­ci­de Alert: Die Schutz­ver­ant­wor­tung wird von Sei­ten der Frie­dens­be­we­gung ver­däch­tigt, Krie­ge zu le­gi­ti­mie­ren und die Si­tua­ti­on in den ent­spre­chen­den Län­dern so­gar noch zu ver­schlim­mern. Die Par­tei DIE LIN­KE hat in den letz­ten Jah­ren ver­sucht, sich als par­la­men­ta­ri­scher Arm der „An­ti­kriegs­be­we­gung“ dar­zu­stel­len. Kann man als Pa­zi­fist heu­te noch die GRÜ­NEN wäh­len?

Tom Ko­enigs: Es ist ein zi­vi­li­sa­to­ri­scher Fort­schritt, dass die deut­sche Ge­sell­schaft ge­gen­über dem Ein­satz mi­li­tä­ri­scher Ge­walt zu­rück­hal­tend ist. Ab­so­lu­te Ge­walt­frei­heit ist aber nicht zu recht­fer­ti­gen, wenn mas­sen­haf­te Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch den Ein­satz von Ge­walt ver­hin­dert wer­den könn­ten. Ge­ra­de wir Deut­schen, die 1945 von ei­nem men­schen­ver­ach­ten­den Re­gime mit Waf­fen­ge­walt und un­ter un­säg­li­chen Ver­lus­ten be­freit wor­den sind, soll­ten die Feh­ler der ame­ri­ka­ni­schen Pa­zi­fis­ten in der Vor­kriegs­zeit nicht wie­der­ho­len. Mit dem RtoP-Kon­zept hat sich die in­ter­na­tio­na­le Ge­mein­schaft dar­auf ver­stän­digt, bei schwers­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen nicht mehr weg­zu­se­hen son­dern sie zu ver­hin­dern, mit zi­vi­len Mit­teln so­weit ir­gend dies geht und nur im äu­ßers­ten Not­fall mit mi­li­tä­ri­schen Mit­teln und das nach der VN-Char­ta. Die­se Ent­wick­lung ist ein wich­ti­ger Schritt der Ver­recht­li­chung und Zi­vi­li­sie­rung in­ter­na­tio­na­ler Po­li­tik und mit ei­nem ra­di­ka­len Pa­zi­fis­mus nicht zu ver­ein­ba­ren. Da­zu ha­ben wir Grü­ne uns nach schwie­ri­gen und lan­gen De­bat­ten durch­ge­run­gen. Bei Völ­ker­mord wol­len wir uns lie­ber we­gen miss­lun­ge­ner als we­gen un­ter­las­se­ner Hil­fe­leis­tung kri­ti­sie­ren las­sen.

Ge­no­ci­de Alert: In ih­rem An­trag zur RtoP hat sich die Frak­ti­on die GRÜ­NEN sehr po­si­tiv und un­ter­stüt­zend zum Kon­zept ge­äu­ßert. Was wür­de sich ver­än­dern, wenn die Grü­nen in der kom­men­den Bun­des­tags­wahl in die Bun­des­re­gie­rung ge­wählt wer­den wür­den?

Tom Ko­enigs: Trotz un­se­rer his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung für die Ver­hü­tung von Völ­ker­mord spielt RtoP in der Au­ßen­po­li­tik der Bun­des­re­gie­rung zur Zeit kaum ei­ne Rol­le. Das deut­sche En­ga­ge­ment für die Schutz­ver­ant­wor­tung ist pro­fil- und kon­zept­los. Wir Grü­ne be­grei­fen RtoP als wich­ti­ge Säu­le ei­ner men­schen­rechts­ge­lei­te­ten glo­ba­len Frie­dens­po­li­tik. Un­ter grü­ner Re­gie­rungs­ver­ant­wor­tung wä­re der Schutz von Men­schen vor Mas­sen­ver­bre­chen ei­ne au­ßen- und men­schen­rechts­po­li­ti­sche Prio­ri­tät. Das be­deu­tet, wir wür­den die prä­ven­ti­ven Ka­pa­zi­tä­ten und Früh­warn­me­cha­nis­men der VN stär­ken, er­neut die Dis­kus­si­on über Kri­te­ri­en für mi­li­tä­ri­sche Maß­nah­men als äu­ßers­tes Mit­tel in den VN-Gre­mi­en an­sto­ßen, VN-Mis­sio­nen im Rah­men von RtoP-Man­da­ten nicht nur fi­nan­zi­ell son­dern auch per­so­nell un­ter­stüt­zen, RtoP in Re­gie­rungs­ge­sprä­chen und Men­schen­rechts­dia­lo­gen an­spre­chen, RtoP-Trai­ning von Bun­des­wehr­sol­da­ten ein­füh­ren, die in­sti­tu­tio­nel­len – und in an­de­ren Län­dern schon exis­tie­ren­den – in­sti­tu­tio­nel­len Vor­aus­set­zun­gen schaf­fen, um schwers­te Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen bes­ser vor­beu­gen und schnel­ler auf sie re­agie­ren zu kön­nen. In un­se­rem An­trag an die Bun­des­re­gie­rung (Druck­sa­che 17/9584) ha­ben wir die­se Zie­le for­mu­liert.

Ge­no­ci­de Alert: Die Ver­hin­de­rung von Mas­sen­ver­bre­chen wur­de kürz­lich von Prä­si­dent Ba­rack Oba­ma als “na­tio­na­les In­ter­es­se” de­fi­niert. Vor die­sem Hin­ter­grund wur­de ein so­ge­nann­tes Atro­ci­ties Preven­ti­on Board ge­grün­det. Auch  die Grü­nen neh­men die Prü­fung ei­ner sol­chen  Idee für Deutsch­land in ih­rem An­trag auf. Wie soll­te ei­ne sol­che In­sti­tu­ti­on in Deutsch­land kon­kret aus­se­hen?

Tom Ko­enigs: Wir ha­ben die Bun­des­re­gie­rung auf­ge­for­dert, sich der In­itia­ti­ve des Glo­bal Cent­re for the Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect (GCR2P) an­zu­schlie­ßen und ei­ne na­tio­na­le Kon­takt­stel­le ein­zu­rich­ten, um schnel­ler über RtoP-Maß­nah­men ent­schei­den und sie bes­ser ko­or­di­nie­ren zu kön­nen. In die­sem Zu­sam­men­hang for­dern wir, ein mit dem in den USA ein­ge­rich­te­ten Atro­ci­ties Preven­ti­on Board ver­gleich­ba­res Gre­mi­um zu schaf­fen. Der Bei­rat setzt sich in den USA aus hoch­ran­gi­gen Ver­tre­tern der Mi­nis­te­ri­en für Äu­ße­res, Ver­tei­di­gung, Ent­wick­lung, Fi­nan­zen und Jus­tiz, der Ge­heim­diens­te, der Streit­kräf­te, der Ver­tre­tung bei den Ver­ein­ten Na­tio­nen und des Bü­ros des Vi­ze­prä­si­den­ten zu­sam­men. Ei­ne deut­sche na­tio­na­le Kon­takt­stel­le für RtoP soll­te eben­falls auf ho­her po­li­ti­scher Ebe­ne an­ge­sie­delt sein. Dies setzt den po­li­ti­schen Wil­len vor­aus, die Ver­hin­de­rung von Mas­sen­ver­bre­chen ganz oben auf die po­li­ti­sche Agen­da zu set­zen. Die Bun­des­re­gie­rung ist der Mei­nung, dass der Bei­rat zi­vi­le Kri­sen­prä­ven­ti­on aus­rei­chend ist. Da­bei ist die Prä­ven­ti­on schwers­ter Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen nicht mit der Prä­ven­ti­on von be­waff­ne­ten Kon­flik­ten gleich­zu­set­zen. RtoP-Ver­bre­chen ste­hen oft aber nicht im­mer di­rekt mit be­waff­ne­ten Kon­flik­ten in Zu­sam­men­hang wie die Fäl­le Kam­bo­dscha 1975-1978 und der Ho­lo­caust zei­gen.

Ge­no­ci­de Alert: Die Li­by­en­in­ter­ven­ti­on wird von vie­len als not­wen­di­ger Ein­griff so­wie als Er­folg für die Schutz­ver­ant­wor­tung be­wer­tet. Deutsch­land hat sich da­mals im Si­cher­heits­rat sei­ner Stim­me ent­hal­ten und ei­ne mi­li­tä­ri­sche Be­tei­li­gung ab­ge­lehnt. Wel­che Leh­ren soll­te die Bun­des­re­pu­blik aus der In­ter­ven­ti­on und dem ei­ge­nen Um­gang mit die­ser Fra­ge zie­hen?  Wür­den Sie sich mit dem heu­ti­gen Wis­sen in ei­ner ähn­li­chen Si­tua­ti­on für ei­ne Be­tei­li­gung an ei­ner mi­li­tä­ri­schen In­ter­ven­ti­on aus­spre­chen?

Tom Ko­enigs: Es war ein schwe­rer mo­ra­li­scher und po­li­ti­scher Feh­ler, dass sich die Bun­des­re­gie­rung an der Sei­te von Russ­land und Chi­na ent­hal­ten hat. Gad­da­fi hat Re­gime­geg­ner öf­fent­lich als „Ka­ker­la­ken“ be­zeich­net, von de­nen Li­by­en „ge­säu­bert“ wer­den müs­se. Die Rück­erobe­rung Ben­ga­sis durch re­gime­treue Trup­pen stand kurz be­vor. In die­ser Si­tua­ti­on hat sich die Bun­des­re­gie­rung ih­rer Schutz­ver­ant­wor­tung für die li­by­sche Be­völ­ke­rung ent­zo­gen. Ein UN-Man­dat mit­zu­tra­gen be­deu­tet nicht au­to­ma­tisch, sich (mi­li­tä­risch) be­tei­li­gen zu müs­sen. RtoP soll an­ge­wen­det wer­den, wo sie Aus­sicht auf Er­folg hat, je­den­falls aber durch ein Ein­grei­fen der in­ter­na­tio­na­len Ge­mein­schaft nicht ver­schlim­mert wird. In Li­by­en war dies im Ge­gen­satz zur ge­gen­wär­ti­gen Si­tua­ti­on in Sy­ri­en ge­ge­ben. Der Fall Li­by­en zeigt aber auch Ge­fah­ren ei­ner Über­deh­nung von RtoP-Man­da­ten. RtoP-Man­da­te soll­ten zeit­lich eng be­grenzt und nur auf den Schutz von Zi­vi­lis­ten be­schränkt wer­den. Kei­ne Si­tua­ti­on schwers­ter Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen gleicht der an­de­ren. Da­her kann ich nicht pau­schal sa­gen, wo ich mich für ei­ne mi­li­tä­ri­sche In­ter­ven­ti­on aus­spre­chen wür­de. Zu Recht hei­ßt es im Ab­schluss­do­ku­ment 2005, dass Ent­schei­dun­gen  von Fall zu Fall ent­schie­den wer­den müs­sen. Ei­ne deut­sche Be­tei­li­gung im Fall Li­by­en hät­te ich aber auch im Rück­blick für an­ge­mes­sen ge­hal­ten.

Ge­no­ci­de Alert: Ist die in­ter­na­tio­na­le Staa­ten­ge­mein­schaft in Sy­ri­en ih­rer Schutz­ver­ant­wor­tung nach­ge­kom­men? Was hät­te man aus heu­ti­ger Sicht zu ei­nem frü­he­ren Zeit­punkt im Fall Sy­ri­en an­ders ma­chen müs­sen?

Tom Ko­enigs: Nicht die in­ter­na­tio­na­le Ge­mein­schaft ent­zieht sich ih­rer Schutz­ver­ant­wor­tung für die sy­ri­sche Be­völ­ke­rung son­dern ein­zel­ne Mit­glieds­staa­ten. Mit ih­rem Ve­to ge­gen drei Re­so­lu­tio­nen des Si­cher­heits­ra­tes ha­ben Russ­land und Chi­na die Staa­ten­ge­mein­schaft dar­an ge­hin­dert, den sy­ri­schen Prä­si­den­ten zum Ab­tre­ten zu zwin­gen und auf ei­ne fried­li­che Lö­sung des Kon­flikts hin­zu­wir­ken. Trotz­dem war die Staa­ten­ge­mein­schaft nicht un­tä­tig: es wur­den Sank­tio­nen ver­ab­schie­det, di­plo­ma­ti­sche Be­zie­hun­gen ab­ge­bro­chen, ein Son­der­be­ra­ter ein­ge­setzt und ein Sechs-Punk­te-Plan mit ei­ner VN-Be­ob­ach­ter­mis­si­on ver­ab­schie­det. Die Frie­dens­mis­si­on Ko­fi An­n­ans kann aber nur so stark sein, wie die Mit­glieds­län­der der Ver­ein­ten Na­tio­nen sie ma­chen. Je mehr Zeit ver­streicht, des­to schwe­rer grei­fen die gut kon­zi­pier­ten Maß­nah­men. Man hät­te vie­les frü­her und bes­ser ma­chen kön­nen. Ich hät­te mir frü­her ein deut­li­ches Si­gnal des Si­cher­heits­ra­tes an As­sad, ein stär­ke­res En­ga­ge­ment der Ara­bi­schen Li­ga, schär­fe­re Sank­tio­nen, ei­ne frü­he­re Aus­wei­sung des sy­ri­schen Bot­schaf­ters aus Deutsch­land aber auch Ver­hand­lun­gen mit dem in der Re­gi­on ein­fluss­rei­chen Iran ge­wünscht.

Ge­no­ci­de Alert: Ne­ben aku­ten Kri­sen wie jüngst in Li­by­en und Sy­ri­en gibt es „ver­ges­se­ne“ Fäl­le, wie den Su­dan oder die DR Kon­go, in wel­chen der Schutz­ver­ant­wor­tung nicht nach­ge­kom­men wird, oh­ne dass die­se durch den „CNN-Ef­fekt“ auf der po­li­ti­schen Ta­ges­ord­nung ste­hen. Wie lässt sich dem bei­kom­men?

Tom Ko­enigs: Das ist ei­ne zen­tra­le Kri­tik am RtoP-Kon­zept. Wir kön­nen aber nicht igno­rie­ren, dass die in­ter­na­tio­na­le Ge­mein­schaft nicht in al­le Kon­flik­ten ein­grei­fen kann. Da muss man rea­lis­tisch blei­ben. Aber nur weil Men­schen nicht über­all vor schwers­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen ge­schützt wer­den (kön­nen), ist es nicht ver­werf­lich,  dass sie dort ge­schützt wer­den, wo es mög­lich ist. Auf­merk­sam­keit auf Fäl­le zu len­ken, die nicht oder kaum auf der po­li­ti­schen Agen­da ste­hen, ist ei­ne Her­aus­for­de­rung von Po­li­tik und Zi­vil­ge­sell­schaft und Or­ga­ni­sa­tio­nen vor Ort. Je mehr es ge­lingt, po­li­ti­schen Druck auf­zu­bau­en, des­to schwie­ri­ger wird es, sol­che Fäl­le zu igno­rie­ren.

Ge­no­ci­de Alert: Sy­ri­en, Dar­fur, Ko­so­vo: Was soll­te ge­tan wer­den, wenn in ei­ner Si­tua­ti­on wie in Sy­ri­en kei­ne Zwei­fel an dem Cha­rak­ter der Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und dem Be­zug zur Schutz­ver­ant­wor­tung be­ste­hen, der UN-Si­cher­heits­rat je­doch durch ein Ve­to blo­ckiert ist?

Tom Ko­enigs: Wel­ches Vor­ge­hen der in­ter­na­tio­na­len Ge­mein­schaft hilf­reich ist, muss von Fall zu Fall ent­schie­den wer­den. Wenn ein Re­gime Mas­sen­ver­bre­chen an der ei­ge­nen Be­völ­ke­rung be­geht oder zu­lässt und der VN-Si­cher­heits­rat blo­ckiert ist, soll­ten mög­lichst al­le di­plo­ma­ti­schen, po­li­ti­schen und öko­no­mi­schen Mög­lich­kei­ten un­ter­halb die­ser Ebe­ne aus­ge­schöpft wer­den, um das Re­gime zu schwä­chen und po­li­tisch zu iso­lie­ren, z.B. durch ge­ziel­te di­plo­ma­ti­sche Sank­tio­nen, Rei­se­ver­bo­te, Ein­frie­ren von Ver­mö­gens­wer­ten oder Han­dels- und Waf­fen­em­bar­gos. Wenn der Si­cher­heits­rat blo­ckiert ist kann sich die Ge­ne­ral­ver­samm­lung im Sin­ne der „Unit­ing-for-Peace-Re­so­lu­ti­on“ von 1950 mit dem Fall be­fas­sen, Emp­feh­lun­gen an den VN-Si­cher­heits­rat ge­ben und so den Hand­lungs­druck auf die stän­di­gen Mit­glie­der er­hö­hen. Zwangs­maß­nah­men kann sie aber nicht be­schlie­ßen, da­zu ist al­lein der Si­cher­heits­rat be­fugt.

                                                                                                                                                 10. Au­gust 20

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Thomas Lubanga Dyilo – Der erste Fall des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag

Nach 10-jährigem Bestehen hat der IStGH am 14. März 2012 sein erstes Urteil erlassen: Thomas Lubanga Dyilo wurde als Mittäter wegen Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8(2)(e)(vii), 25(3)(a) des Rom-Statuts verurteilt. Das Gericht hält es für zweifelsfrei bewiesen, dass der ehemalige Warlord und Führer der Union des patriotes congolais (UPC) samt deren militärischen Arm (Force patriotique pour la libération du Congo, FPLC) zwischen 2002 und 2003 Kinder unter 15 Jahren zwangsverpflichtet, in die Miliz eingegliedert und als Kindersoldaten in dem bewaffneten Konflikt eingesetzt hat.

Daraufhin wurde der 51-jährige Lubanga am 10. Juli 2012 zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt (Artikel 76 Rom-Statut). Der Ankläger hatte zwar 30 Jahre gefordert, jedoch berücksichtigte das Gericht mildernde Umstände, da Lubanga mit dem Gericht kooperiert hatte. Berufung ist bislang nicht eingelegt worden. Noch ist unklar, wo Lubanga die Gefängnisstrafe ableisten muss. Infrage kommen acht Länder, die ein entsprechendes Abkommen mit dem Gericht unterzeichnet haben. Davon haben sich bereits sechs Länder bereit erklärt die Strafe zu vollziehen: Belgien, Finnland, Großbritannien, Mali, Österreich und Serbien.

Kontext

Die Demokratische Republik Kongo gehört trotz ihres Rohstoffreichtums zu den ärmsten Staaten der Welt. Nicht erst seit 2002 befindet sich das Land in einem andauernden bewaffneten Konflikt. Insbesondere der reiche Osten ist seit 1996 Schauplatz vielschichtiger Konflikte zwischen bewaffneten Stammesmilizen und Rebellentruppen, einheimischen Regierungssoldaten und ausländischen Armeen wie etwa aus Ruanda und Uganda. Seither kamen über 5 Millionen Menschen ums Leben. Lubangas Miliz werden zahlreiche schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, unter anderem ethnische Massaker, Folter, sexuelle Gewalt, Vergewaltigung und Missbrauch von Mädchen und Frauen als Sexsklaven.

Anklage auf Kindersoldaten beschränkt

Im Fokus des Lubanga-Verfahrens stand die Problematik der Rekrutierung von Kindersoldaten. Der Ankläger beschränkte sich hierbei auf den Tatbestand des Kriegsverbrechens in Form der Eingliederung, Zwangsrekrutierung und Einsetzung von Kindersoldaten in bewaffneten Konflikten. Tatbestände wie sexueller Missbrauch, Vergewaltigung und andere sexuelle Gewaltakte wurden somit von vornherein nicht ins Verfahren aufgenommen. Der Ankläger begründete dies damit, dass die Beweislage allein hinsichtlich der Kindersoldaten hinreichend war. Ein Teilfreispruch im allerersten Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs hätte der Glaubwürdigkeit des Gerichts schaden können. Selbst die Anstrengungen der Opfer, den Anklagegegenstand materiell zu erweitern, brachten keinen Erfolg. Diese Beschränkung der Anklage allein aufgrund gerichtspolitischer Befürchtungen hat zumindest einen faden Beigeschmack.

Neuheit: Verfahrensrechte für Opfer

Die vielfältigen Verfahrensrechte der Opfer in dem Verfahren vor dem IStGH sind eine Neuerung im Völkerstrafrecht. Die Verfahrensordnungen des Internationale Tribunal für Jugoslawien sowie des internationales Tribunals für Ruanda kennen keine gesonderten Opferrechte. Nur Verfahren vor dem Rote-Khmer-Tribunal in Kambodscha („Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia“) sehen auch eine weitreichende Opferbeteiligung einschließlich Entschädigungszahlungen vor. Diese gibt es jedoch lediglich in Form von kollektiven oder ideellen Entschädigungen (moral reparation). Individualentschädigungen sieht auch das Rote-Khmer-Tribunal nicht vor.
Während des Lubanga-Verfahrens vor dem IStGH haben insgesamt 129 Opfer am Verfahren direkt teilgenommen, indem sie unabhängig vom Ankläger Beweise einführen und Zeugen befragen durften. Drei Opfer haben selbst als Zeugen ausgesagt. Zudem existiert mit Artikel 75 des Rom-Statuts die Möglichkeit Entschädigungszahlungen zu beantragen. Die Regelungen des IStGH sind jedoch vielfach noch konkretisierungsbedürftig (vgl. Artikel 68 Rom Statut, Artikel 85 Verfahrens- und Beweisordnung). Es wird erwartet, dass die Entscheidung bzgl. der Entschädigung der Opfer im Lubanga-Verfahren zahlreiche bisher ungeregelte Fragen beantworten wird. Offen ist beispielsweise, wie groß der Kreis der Opfer ist, der berechtigt sein soll Entschädigungen einzuklagen. Im Rahmen des Lubanga-Verfahrens haben mehr als 20 Personen einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Ferner ist klärungsbedürftig, ob eine Kollektiventschädigung gezahlt oder ob jedes Opfer individuell entschädigt werden soll. Mit Spannung wird ferner erwartet, wie die Entschädigungen finanziert werden: Haftet der Verurteilte mit seinem Vermögen? Wird eine Ausfallhaftung bereitgehalten?
Genocide Alert sieht in der Anerkennung eigener Verfahrensrechte für Opfer einen bedeutenden Schritt. Die Position der Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen in Strafverfahren muss dringend gestärkt werden. Das ist entscheidend, weil die Interessen des Anklägers nicht zwingend mit den Interessen der Opfer übereinstimmen. Dieser Interessenkonflikt spiegelt sich im Lubanga-Verfahren in der Beschränkung des Anklagegegenstandes und dem Versuch der Opfer den Anklagegegenstand insbesondere auf sexuelle Gewaltdelikte auszuweiten. Genocide Alert begrüßt daher, dass im IStGH-Verfahren der Stimme der Geschädigten gesteigertes Gehör verschafft wird. Opferrechte müssen einen festen Platz im internationalen Strafverfahren haben, um alle betroffenen Interessen ausreichend zu berücksichtigen, die Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen zu fördern und gesellschaftliche Befriedung voranzutreiben. Besondere Wichtigkeit kommt an dieser Stelle dem Anspruch auf Opferentschädigung zu.

Meilenstein im Völkerstrafrecht

Das Urteil wird als Meilenstein der Völkerstrafrechtsgeschichte und Teilsieg im Kampf gegen Straflosigkeit schwerster Menschenrechtsverletzungen gefeiert. Es belegt die Relevanz internationaler Strafgerichtsbarkeit und untermauert die Existenzberechtigung des Internationalen Strafgerichtshofs. Seit seiner Entstehung wird dem IStGH vorgeworfen, zu langsam und uneffektiv zu arbeiten. Das erste Urteil ist eine deutliche Kampfansage. Spätestens jetzt muss jeder Kriegsverbrecher den Ruf aus Den Haag vernehmen: Schwere Menschenrechtsverletzungen werden verfolgt und bestraft, national und international!

Das Internationale Tribunal für Jugoslawien sowie das internationale Tribunal für Ruanda werden in den nächsten Jahren die letzten Anklagen verhandeln. Charles Taylor, der frühere Präsident von Liberia, wurde im April 2012 vom Sondertribunal für Sierra Leone wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Das Urteil des IStGH im Fall Lubanga bildet einen wichtigen Folgeschritt in Richtung einer effektiven internationalen Strafgerichtsbarkeit. Trotz dieses durchaus positiven Ausblicks besteht aber noch immer Handlungsbedarf. Etliche wegen schwerster Menschenrechtsverbrechen Angeklagte sind noch flüchtig, unter anderen: Bosco Ntaganda – Stellvertreter Lubangas in der UPC –, Omar Al-Bashir, und Joseph Kony.
Zudem kooperieren noch immer nicht alle Staaten mit dem IStGH. Der ist aber auf den Vollzug seiner Anordnungen durch nationale Polizeibehörden angewiesen. Zwar zählt der IStGH 121 Mitgliedstaaten, zu denen auch Deutschland und alle anderen EU-Staaten gehören, die Liste der Nicht-Mitglieder demonstriert allerdings eine schwerwiegende Schwäche: Die politischen Schwergewichte USA, China, Russland sind nicht dabei und auch Indien, Pakistan, Iran, Israel, Syrien, Sudan und Nordkorea lehnen den Gerichtshof ab.

Genocide Alert nimmt das Lubanga-Urteil zum Anlass, weiter darauf hin zu wirken, dass alle Staaten schwere Menschenrechtsverletzungen bekämpfen, verfolgen und bestrafen. Kriegsverbrecher dürfen nirgendwo einen sicheren Hafen finden, in dem sie sich straffrei bewegen können. Vor allem die IStGH-Mitgliedsstaaten müssen sich in Erinnerung rufen, dass der IStGH nur dann effektiv und erfolgreich arbeiten kann, wenn seine Entscheidungen auch national umgesetzt werden. Die international eingerichteten Gerichte haben ihre Arbeit erfolgreich aufgenommen. Nun ist es an den Nationalstaaten ihnen die notwendige Unterstützung zukommen zu lassen. Die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen aus politischen Gründen muss beendet werden!

Sinthiou Estelle Buszewski