Die Macht der Sprache – von Jan Casper

Erster Platz beim Essaywettbewerb “20 Jahre danach –

Was sind die Lehren aus dem Völkermord in Ruanda”

1994 starben 800 000 Menschen im ruandischen Genozid. Der Nährboden für dieses Verbrechen war eine Atmosphäre des Hasses und des Misstrauens. Einen maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung dieser Atmosphäre hatte die Sprache. Die Sprache, die von Demagogen und Rassisten gezielt instrumentalisiert wurde, um Zwist und Zerwürfnis zu streuen.

Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Ausdrücke wie „Armutsmigrant“ und „Homo – Propaganda“ prägen Debatten in Deutschland und Europa. Die Macht der Sprache ist hier ebenso allgegenwärtig wie in Ruanda 1994. Russische Homosexuelle werden verfolgt, Migranten in der Bundesrepublik stigmatisiert. In punkto Sprachsensibilität müssen noch einige Lehren gezogen werden.

Vor zwanzig Jahren brach sich in Ruanda ein Hass Bahn, der sich seit Beginn der deutschen Kolonialherrschaft 1898 aufgestaut hatte. Innerhalb von vier Monaten wurden 800 000 Menschen durch Hutu – Milizen und die ruandische Armee auf grausame Art und Weise kaltblütig ermordet. Die meisten der Opfer waren Frauen, Männer und Kinder aus der Volksgruppe der Tutsi, viele auch Hutu, die sich der Teilnahme am Genozid verweigerten. Zwischen April und Juni 1994 fallen durchschnittlich 7143 Menschen pro Tag.

Dieses unfassbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit konnte nur in einer Atmosphäre des Hasses, der Intoleranz und der Voreingenommenheit gedeihen. Sprache ist das Instrument, mit dem eine solche Atmosphäre geschaffen und gekittet wird. Wer die Sprache, das heißt auch die Konnotation einzelner Worte, kontrolliert, kontrolliert die öffentliche Wahrnehmung. Im Falle des ruandischen Genozids wurde Sprache zum Mordinstrument.

Nur drei Worte sorgten dafür, dass harmlose Passanten ihren Tod fanden: Hutu, Tutsi und Twa.

Vom 8. Juli 1993 bis zum 31. Juli 1994 gehörte ein Radio ebenso selbstverständlich zur Ausrüstung der Hutu – Extremisten wie Macheten und Schusswaffen. In dieser Zeit sendete das Radio -Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) täglich seine Hasspropaganda. Das RTLM spielte im Völkermord von Hutu an Tutsi eine zentrale Rolle. Die Tatsache, dass der Sender Verstecke und Standorte von Tutsi – Familien über den Äther preisgab, ist nur ein Teil dieses furchtbaren Verdienstes. Den anderen Teil machte eine während des Bestehens des Senders fortdauernde Indoktrination der Bevölkerung aus. „Tutsi“ wurde in den Übertragungen mehr und mehr zu „Inyenzi“ — Kakerlaken. Das Medium Radio schaffte es, mit Worten allein eine ganze Nation zu mobilisieren und zum Mord anzustacheln. Einem Funkenflug gleich entfachten die Radiowellen die Brandherde der Gewalt auf den Straßen immer wieder neu. Simon Bikindi, in den Neunzigern populärer Musiker in Ruanda, sang auf RTLM über die Legitimation von Gewalt an Tutsi. Georges Ruggiu, Belgier und einziger Nicht – Ruander, der sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruander verantworten musste, war Moderator bei Radio – Télévision Libre des Mille Collines . Durch seine Hass – Propaganda zeichnet er mitverantwortlich am Tod Tausender.

Jeden Tag riefen auch die anderen Moderatoren zum Mord an Tutsi und deren Unterstützern auf, hetzten gegen die Soldaten der UN – Mission UNAMIR und schickten Grüße an alle Männer, die die Ausweise harmloser Passanten an den dutzenden Straßenblockaden kontrollierten . Nur drei Worte sorgten an solchen Straßenblockaden dafür, dass harmlose Passanten dort ihren Tod fanden: Hutu, Tutsi und Twa. 1931 fügte die belgische Kolonialverwaltung dem ruandischen Pass das Attribut der „Stammeszugehörigkeit“ hinzu. Drei Worte, die jahrzehntelang mit den kruden europäischen Ansichten zu „Rasse“ und „Überlegenheit“ aufgeladen worden sind. Die ruandische Bevölkerung war nun auch amtlich in Lager aufgespalten.

Heute versucht die Regierung Ruandas mit radikalen Einschnitten in die Sprach e das Gegenteil zu erreichen und die traumatischen Erlebnisse aus dem Kollektivgedächtnis zu löschen. Änderung der Amtssprache von Französisch zu Englisch, Umbenennung der Städte, die Frage nach der fiktiven Ethnienzugehörigkeit aus der Öffentlichkeit verschwinden lassen. Eine Neuerfindung des ruandischen Staates. Sprache allein macht noch keinen Krieg. Menschen machen Krieg. Doch nur Sprache, oder besser der unbesonnene, vereinnahmende und hetzerische Gebrauch derselben versetzt Menschen in ein Klima, in dem Mord und Massenmord Optionen für ihn sind.

„Wer betrügt, der fliegt“ — solche Aussprüche sind kein Tabu auf hiesigen Parteitagen

Ortswechsel. Deutschland, 2014, 20 Jahre sind seit dem Genozid in Ruanda vergangen. Begriffe wie „Armutszuwanderung“ geistern durch die Medien und deutsche Wohnzimmer. Sinti und Roma werden assoziiert mit verdreckten Wohnungen, Arbeitslosigkeit und „Sozial betrug“. „Wer betrügt, der fliegt“ — solche Aussprüche sind kein Tabu auf hiesigen Parteitagen, nicht nur auf denen der NPD. Sobald ein Wort in der öffentlichen Debatte wiederholt mit einem Bild verknüpft wird, brennt es sich in das Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft ein. Darunter zu leiden haben diejenigen, die sich durch ihre Herkunft von der Masse unterscheiden. Menschen, die aus Bulgarien oder Rumänien stammen und in Deutschland wohnen, arbeiten und leben, fühlen sich hier zuweilen als Menschen dritter Klasse.

Worte schlagen Wellen, ihre Macht kennt weder Staatsgrenzen noch fremde Souveränität. Der Hass auf Roma in Rumänien, der sie nach Deutschland zwingt, ist nur ein Beispiel dafür. In Russland ist der Begriff der „Homo – Propaganda“ dank Wladimir Put in salonfähig. Der Begriff, den selbsternannte russische Schwulenjäger als Deckmäntelchen auf ihren blutigen Streifzügen im Namen des Kindeswohls nutzen, hat auch in Deutschland Wurzeln geschlagen. In Rohrdorf in Baden – Württemberg startete im November 2013 eine Petition gegen das „Propagieren einer neuen Sexualmoral“. Ob solche Inhalte in dem Bildungspapier der Stuttgarter Landesregierung stecken, gegen das sich die Petition richtet, ist offenbar irrelevant. Das Wort „Homo – Propaganda“ und die damit verknüpften Bilder ziehen weite Kreise.

Im heutigen Deutschland hat die Sprache ihre volle Macht zwar offensichtlich noch nicht entfesselt. Der schmale Grat, der Populismus und Stimmungsmache von der großen Spannungsentladung trennt, ist noch nicht überschritten. Im heutigen Europa schon. Roma – Siedlungen in Rumänien werden von zornigen Horden mit Eisenstangen attackiert. Wer sich in Russland mit einem Partner gleichen Geschlechts verabredet läuft Gefahr, statt von ihr oder ihm von einer vermummten Meute erwartet und zu Tode geprügelt zu werden.

Wir müssen den reflektierten Umgang mit Sprache zu einer Maxime machen.

Deutschland, Europa und die internationale Gemeinschaft mögen seit dem ruandischen Genozid Dinge hinzugelernt haben — Sensibilität im Umgang mit dem gesprochen en Wort gehört eher nicht dazu. Sprache hat den Menschen zu dem gemacht, was er heute ist. Ebenso gut kann sie all das wieder zerstören. Das Beispiel Ruanda zeigt uns, wie schnell sie im Wechselspiel mit anderen Einflüssen eine Katastrophe un geahnten Ausmaßes heraufbeschwören kann. Sprache ist eine zu mächtige Waffe, als dass wir zu leichtf ertig mit ihr umgehen dürften. Wir müssen den reflektierten Umgang mit Sprache zu einer Maxime machen. Uns stets vor Augen halten, was unbedachte Sätze, auf gegriffene Aussagen bewirken können. Und dann frei nach dem französischen Philosophen Gabriel Marcel: „Es gibt immer ein Stückchen Welt, das man verbessern kann — sich selbst.“

 

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