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Lehren aus dem Völkermord in Ruanda – Genocide Alert in der Diskussion mit Politik und Wissenschaft

25 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda: Ist solches Versagen heute immer noch möglich?

Der Völkermord in Ruanda jährt sich in diesen Tagen zum 25. Mal. Vor einem Vierteljahrhundert ermordeten radikale Hutu in nur etwa 100 Tagen über 800.000 Tutsi, moderate Hutu und Twa. Dieser im April 1994 begonnene Völkermord war keine spontane Gewalteskalation. Er folgte einer detaillierten Vorbereitung. Ihm gingen jahrelange Warnsignale und zahlreiche Eskalationen und Angriffe voraus. Die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland im Speziellen haben versagt, Risiken richtig zu analysieren, Warnungen zu berücksichtigen und Schritte zur Prävention zu ergreifen. Selbst als das massenhafte Morden begann, stand die Welt lange tatenlos daneben. Trotz ausgiebiger Diskussion des damaligen Versagens bleibt es fraglich, ob die Weltgemeinschaft und Deutschland heute ein “erneutes Ruanda” präventiv verhindern würden.

Beitrag von Robin Hering, Gregor Hofmann und Jens Stappenbeck

Der Ausbruch des Völkermordes

Am Abend des 06. April 1994 wurde die Maschine des ruandischen Präsidenten Habyarimana im Landeanflug auf Kigali abgeschossen. Innerhalb von Minuten nach dem Abschuss griffen radikale Hutus systematisch und gezielt Tutsis und weitere Zivilisten an, die als gemäßigt oder Tutsi-Unterstützer betrachtet wurden. Die Interahamwe Miliz, unterstützt u.a. durch das ruandische Militär, den Propaganda-Radiosender RTLM, aber auch durch einfache Bürger, machte gezielt Jagd. Die Täter gingen koordiniert vor. Sie nutzten vorbereitete Namens- und Adresslisten, zogen von Haus zu Haus und errichteten Straßensperren, an denen die Opfer auf brutale Weise und in aller Öffentlichkeit getötet wurden. Im ganzen Land wurden mit einfachen Waffen und Macheten in nur etwa drei Monaten über 800.000 Menschen ermordet.

Versagen bei der Früherkennung und Prävention des Völkermordes

Trotz des vermeintlichen klaren Auslösers – dem Abschuss der Präsidentenmaschine -, war der Völkermord kein spontanes Ereignis. Aus heutiger Sicht gab es im Vorfeld zahlreiche Hinweise, an denen eine effektive Früherkennung und Prävention hätte ansetzen können. Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen reichten bereits Jahrzehnte zurück. Zum Teil hatten sie bereits ihren Ursprung in der deutsch-belgischen Kolonialherrschaft. In den Jahren vor 1994 war eine zunehmende Polarisierung erkennbar und es gab bereits Pogrome und Massaker. Die detaillierte Vorbereitung des Massenmordes belegen die Erstellung von Tutsi-Namens bzw. Tötungslisten, die Existenz von Ausbildungslagern für radikale Hutu-Milizen oder eine Verdopplung der Machetenimporte nach Ruanda. Auch öffentliche Hassreden und zahlreiche ignorierte Hinweise von lokalen Politikern und Militärs an die UN-Mission vor Ort unterstreichen die genaue Planung. Spätestens ab Herbst 1993 erreichten die Warnungen auch das vor Ort engagierte Deutschland, fanden allerdings kein Gehör.

Die International Gemeinschaft war u.a. durch die in Ruanda stationierte UN-Mission UNAMIR vor Ort. Die Mission sollte ein in 1993 geschlossenes Friedensabkommen zwischen der Hutu-dominierten Regierung und der oppositionellen Tutsi-geprägten Ruandischen Patriotischen Front (RPF) überwachen. Das Mandat der Blauhelme erlaubte jedoch kein militärisches Eingreifen. Im Vorfeld des Völkermords berichtete UNAMIR-Kommandant Roméo Dallaire, basierend auf zahlreichen Meldungen und einem hochrangigen lokalen Informanten, über Vorbereitungen für einen möglichen Völkermord an die UN-Zentrale in New York. Der UN-Sicherheitsrat beschäftigte sich jedoch nicht mit diesen Hinweisen. Der dringende Appell Dallaires, vom Informanten genannte Waffenlager sofort zu untersuchen und die Waffen zu konfiszieren bevor sie von den Hutu-Milizen eingesetzt werden würden, wurde abgelehnt.

Die Rolle Deutschlands

Auch die Bundesregierung ignorierte die Warnsignale. Dabei war die die Bundesrepublik in Ruanda sehr präsent und pflegte diverse Kontakte: Die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ; heute GIZ) war im Land aktiv, Rheinland-Pfalz pflegte eine Länderpartnerschaft und auch deutsche politische Stiftungen waren präsent. Deutschland war so aktiv, dass es in 1993 – dem Jahr vor dem Völkermord – zum größten Geber des Landes für Entwicklungshilfe aufstieg. Seit 1978 beriet die Bundeswehr bei der Ausbildung des ruandischen Militärs und bildete einige spätere génocidaires an der Hamburger Führungsakademie aus. Angesichts dieser langjährigen Beziehungen zwischen Deutschland und Ruanda, hätte die Bundesregierung über das sich anbahnende Grauen informiert sein können.

Deutsche Berater berichteten bereits im Sommer 1993 über die sich abzeichnenden Ereignisse und die Mobilisierung der Interahamwe. Die Berichte verschwanden jedoch in den bürokratischen Abläufen des Verteidigungs- und des Entwicklungsministeriums in Bonn. Die deutsche Botschaft tat den Bericht eines Oberst der Bundeswehr-Beratergruppe über Trainingslager für Hutu-Milizen und drohende Massaker als Panikmache ab und leitete diese nicht an die Berliner Zentrale weiter. Im Vorfeld des Völkermords nutzten ruandische Soldaten den Fuhrpark eines GTZ-Projektes, um Waffen zu verteilen und die Interahamwe-Milizen auszurüsten. Ein GTZ-Mitarbeiter ließ sich versetzen, da er die Situation nicht verantworten könne. Noch im September 1993 vertrat die deutsche Botschaft die Ansicht, die Habyarimana-Regierung arbeite daran, die Menschenrechtslage zu verbessern.

Versagen bei der Reaktion auf den Völkermord

Im Angesicht des Völkermordes hätte der UN-Sicherheitsrat den Forderungen Romeo Daillaires nach mehr Truppen und einem aktiven Mandat folgen können, um die öffentlichen massiven Gewalttaten und Massaker zu unterbinden. Stattdessen reduzierte der UN-Sicherheitsrat nach Ausbruch des Völkermordes die Truppenstärke von UNAMIR von 2.500 auf 270 Mann. Freiwillig blieben 450 Blauhelme in der Hauptstadt Kigali, um wenigstens einige Menschen zu retten. Ein robustes Mandat, mit welchem Sie Waffengewalt zum Schutz von Zivilisten hätten einsetzen können, blieb ihnen allerdings verwehrt.

Während der Völkermord bereits stattfand, wurde in Deutschland und auch in anderen Staaten lange nicht von einem Genozid gesprochen. Medien und Politik beschrieben die Situation als einen Bürgerkrieg, den man von außen nicht beeinflussen könne. Auch ein Staatsminister im Auswärtigen Amt erklärte, “dass Appelle in einer Situation, in der im Busch gekämpft wird, nur sehr schwer vermittelbar sind.” Praktische Hilfe wurde versagt: Eine konkrete Anfrage der Vereinten Nationen nach 100 Sanitätssoldaten und einem Transportflugzeug lehnte die Regierung Kohl mit Verweis auf die Sicherheitslage vor Ort ab. Im Bundestag gab es während der drei Monate des Völkermordes keine eigene Debatte dazu. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl äußerte sich nur ein einziges Mal: Als er begrüßte, dass alle Deutschen erfolgreich aus dem Land evakuiert wurden.

Erst am 17. Mai 1994 beschloss der UN-Sicherheitsrat, UNAMIR wieder auf 5.500 Mann aufzustocken und das Mandat zu erweitern. Er erlaubte jedoch weiterhin keinen Gewalteinsatz zum Schutz von Zivilisten. Die Truppen, die einige afrikanische Staaten zugesagt hatten, besaßen zudem keine ausreichende Ausrüstung. Staaten im Westen wollten selbst kaum Ausrüstung und Soldaten stellen, auch deren Finanzierung sagten sie nicht zu. Die Bundesregierung stellte damals klar, „deutsche Soldaten [würden] auf keinen Fall nach Ruanda geschickt.“ Lediglich deutsche Staatsbürger wurden ausgeflogen. Ende Juni errichtete Frankreich eine sogenannte “humanitäre Sicherheitszone” im Südwesten Ruandas. Zu diesem Zeitpunkt war der Völkermord allerdings bereits durch die Machtübernahme der RPF so gut wie beendet.

Aufarbeitung und Lehren aus dem Völkermord

Rückblickend beschrieben zahlreiche Überlebende, Zeugen und Wissenschaftler das Versagen der Internationalen Gemeinschaft. Doch welche Lehren wurden auf politischer Ebene aus dem damaligen Scheitern gezogen? In der Tat wurden in den vergangenen 25 Jahren zahlreiche Dinge verändert. Aufbauend auf dem sogenannten “Brahimi-Report” ist beispielsweise der Schutz von Zivilisten mittlerweile fundamentaler Bestandteil von UN-Blauhelmmandaten. Während es zur juristischen Aufarbeitung des ruandischen Völkermords noch eines internationalen ad-hoc Gericht bedurfte, nahm 2002 der permanente Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit auf. Auch rückte die Früherkennung von Massenverbrechen wie Völkermorden stärker in den Fokus. Unter anderem als Reaktion auf Ruanda und den ein Jahr später verübten Völkermord in Srebrenica, wurde außerdem das Konzept der Schutzverantwortung (englisch: Responsibility to Protect, R2P) entwickelt. Auf dem UN-Weltgipfel 2005 wurde das Konzept von sämtlichen Staaten angenommen. Damit bekannten sich alle Staaten zur Verantwortung, ihre eigene Bevölkerung vor Massenverbrechen zu schützen. Außerdem vereinbarten sie, sich gegenseitig bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu unterstützen. Für den Fall, dass ein Staat nicht fähig oder willens ist seiner Schutzverantwortung nachzukommen, erklärten sie,  dass die Staatengemeinschaft eine Verantwortung zur Reaktion habe. Besonders der UN-Sicherheitsrat steht dann in der Pflicht und kann hierfür auch Zwangsmaßnahmen beschließen.

Trotz dieser Veränderungen ist es fragwürdig, ob Deutschland und die internationale Gemeinschaft heute ein “erneutes Ruanda” verhindern oder unterbinden würden. In der Praxis fehlt es in konkreten Fällen oftmals am Willen und politischer Einigkeit. Es fehlt aber auch insbesondere in Deutschland an einer Institutionalisierung der Krisenfrüherkennung, die schon in Ruanda hätte effektiver funktionieren können und müssen. Eine konkrete Aufarbeitung des deutschen Versagens bei der Prävention des Völkermordes in Ruanda wurde jüngst erneut im Bundestag vorgeschlagen, aber nie durchgeführt.

Der UN-Sicherheitsrat ist unterdessen in vielen aktuellen Situationen von Massenverbrechen blockiert oder unwillig zu handeln. In Syrien werden seit acht Jahren durch die Regierung und andere Kriegsparteien schwerste Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen begangen. In Myanmar führte das Militär kürzlich ethnische Säuberungen gegen bis zu einer Millionen muslimischer Rohingya durch. Im Südsudan und im Jemen kosten blutige Bürgerkriege Hunderttausenden das Leben. In all diesen Fällen hat es die internationale Gemeinschaft nicht vermocht, Massenverbrechen zu verhindern.

Strategie notwendig

Der UN-Untergeneralsekretär und Sonderberater für die Verhütung von Völkermord, Adama Dieng, unterstützt daher die Etablierung von nationalen Mechanismen zur Früherkennung und Prävention von Massenverbrechen. Im Januar 2019 riefen Adama Dieng und der Geschäftsführer von Genocide Alert, Jens Stappenbeck, im Bundestag-Unterausschuss “Zivile Krisenprävention, Konfliktprävention und Vernetztes Handeln” zur Erstellung eines ressortübergreifenden Bestandsberichts auf. Dieser sollte in allen relevanten Ministerien die Kapazitäten zur Prävention von Massenverbrechen sowie Optimierungspotenziale erfassen und zu einem nationalen Präventionsmechanismus führen. Eine solche Bestandsaufnahme ist wichtig, um in Zukunft im Angesicht drohender Massenverbrechen die verfügbaren außenpolitischen Instrumente, eingebettet in eine fundierte Strategie, zielgerichtet zur Anwendung bringen zu können.

Deutschland und die Welt dürfen nie wieder so hilflos daneben stehen wie damals in Ruanda. Es liegt an der Politik und dem Regierungsapparat die notwendigen Schritte zu ergreifen und eine Strategie zu entwickeln, damit auf Frühwarnung auch eine frühzeitige Reaktion folgt. Doch auch die Medien, die Zivilgesellschaft und die Öffentlichkeit müssen diesem Thema die notwendige Aufmerksamkeit schenken und immer wieder fragen: Tun wir genug, damit sich solch schreckliche Verbrechen nie mehr wiederholen?

Autoren: Robin Hering, Gregor Hofmann und Jens Stappenbeck (Genocide Alert)


Genocide Alert hat 2014 im Rahmen des Projektes “20 Jahre nach Ruanda” zahlreiche Interviews und Podiumsdiskussionen sowie einen Essaywettbewerb durchgeführt, um an den Völkermord 1994 zu erinnern und Lehren für die heutige Politik zu ziehen. Das Projekt wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Die Ergebnisse sind auf einer Projektseite dokumentiert:

» 20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda: Was haben wir gelernt?

 


Als Teil des Projektes erstellte Genocide Alert e.V. zudem einen Twitter-Account namens @Ruanda1994, der die Geschehnisse vor und während des Völkermordes “live” 20 Jahre später wiedergab.

» Ruanda-Timeline ’94 (Twitter)

 

Ruanda-Veranstaltungsankündigung: GA bei Fachgespräch der Grünen, 01.04.2019 15-19 Uhr (Bundestag)

Unter dem Titel „25 Jahre seit dem Völkermord in Ruanda – Genozidprävention damals und heute“ wird die Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen am 1. April 2019 von 15:00 Uhr – 18:00 Uhr ein Fachgespräch zu Lücken und Lehren der Aufarbeitung in Deutschland und in der Weltgemeinschaft abhalten. Als Geschäftsführer von Genocide Alert e.V. wird Jens Stappenbeck am Panel zu „Internationale und Europäische Genozidprävention – wie geht es weiter?“ teilnehmen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Eine Anmeldung ist für den Zugang zum Bundestag erforderlich.

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Dr. Gerd Hankel bei der Konferenz „Aghet und Shoah – Das Jahrhundert der Genozide“ von 8. bis 10. November 2015 in Berlin

Siegerjustiz in Ruanda und Genozidbegriff – Dr. Gerd Hankel im Interview

Dr. Gerd Hankel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in Hamburg. Im Rahmen der Genozidtagung „Aghet und Shoah“ im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors hielt er einen Vortrag über die postgenozidale Gesellschaft in Ruanda und insbesondere die im Anschluss folgende justiziellen Aufarbeitung. Laut Hankel stellt diese Aufarbeitung eine Siegerjustiz dar, die zwar die Taten der Hutu verfolgte, jedoch eigene Gräueltaten zu verdecken versuchte. Das Interview wurde von Timo Leimeister im November 2015 via E-Mail geführt. Weiterlesen

Erinnern als Politikum – Die 20. Gedenkfeierlichkeiten des Genozids von 1994 in Ruanda

Jan Casper, Gewinner des Essaywettbewerbs von Genocide Alert und dem Land Rheinland-Pfalz, begleitete die rheinland-pfälzische Delegation um Innenminister Roger Lewentz zu den 20. Gedenkfeierlichkeiten des Genozids von 1994 in die ruandische Hauptstadt Kigali.

Als der Mann zu reden begann, fingen sie an zu schreien. Sie, das sind die Frauen im Amahoro-Stadion in Kigali, die die Rede des Mannes nicht ertragen konnten und deren Männer entweder tot oder schuldig sind. Denn er redete davon, wie 1994 Ruander Ruander systematisch ermordeten. Er legte Zeugnis darüber ab, wie einst hunderte Menschen Schutz in einer Moschee gesucht haben. Und wie annähernd alle dieser Menschen dort einen furchtbaren Tod starben. Dieser Mann überlebte als einer von wenigen.

Am Montag, den siebten April jährte sich der Ausbruch des ruandischen Genozids zum zwanzigsten Mal. Im Amahoro-Stadion, was von Kinyarwanda übersetzt „Friedens-Stadion“ bedeutet, wurde an diesem Montag eine Zeit der Trauer und des Erinnerns eingeläutet. Die afrikanische Politelite wohnte der Zeremonie ebenso bei wie die Weltgemeinschaft, repräsentiert von Ban Ki-moon. Dem Stadion wohnt, wie so viele Dinge in Ruandas boomender Hauptstadt Kigali, Symbolcharakter inne: Es wurde zur Trutzburg tausender Tutsi während des Genozids, eine Zeit lang zumindest.

Völkermord-Gedenkzeremonie im  im Amahoro-Stadion in der ruandischen Hauptstadt Kigali, April 2014

Völkermord-Gedenkzeremonie im im Amahoro-Stadion in der ruandischen Hauptstadt Kigali, April 2014

Was treibt die Frauen an diesen Ort, wo die Gräuel des Völkermordes erneut so lebendig werden, dass sie sich kreischend an den Gliedmaßen hinaustragen lassen müssen?

Seit der ehemalige Tutsi-Rebellenführer Paul Kagame das Land führt, ist Erinnern Staatsräson. Verschorfte Wunden werden in der jährlichen Gedenkwoche wieder aufgerissen; Ruanda ist, zwanzig Jahre nach dem Genozid, von „Kwibuka“ – dem Erinnern – gezeichnet. Bei Fahrten in das Landesinnere fallen um den Nachmittag herum Menschengruppen auf, die im Kreis um eine Sprecherin oder einen Sprecher sitzen. In diesen freiwilligen „conversations“ werden auch Zeugnisse abgelegt; von Opfern und Tätern. Sie finden in jedem Dorf statt, je nach Größe auch mit Mikrophon und Lautsprechern. Hier werden im Dialog Erlebnisse aufgearbeitet, die auch zwanzig Jahre später noch für Zusammenbrüche und große Trauer sorgen.

Eine Flamme der Erinnerung reiste mit einer Jugenddelegation durch das ganze Land, um schließlich das zentrale Feuer im Gedenkzentrum Gisozi in Kigali zu entzünden. Sie machte unter anderem in Camp Kigali in Nyarugenge halt, wo sich zu Zeiten des Genozids das Hauptquartier der Forces Armees Rwandaises befand. Hier wurde das Massaker an Tutsi, Twa und gemäßigten Hutu vorbereitet. Paulin Rugero, ein Überlebender aus dem Camp, berichte auch von Folter, die dort stattfand, von Folter, die weit „über die menschliche Vorstellungskraft“ hinausgehe. Die staatsnahe New Times erschien montags mit gewaltigem Dossier zum Genozid von 1994. Der staatseigene Fernseh-Sender zeigt historische Aufnahmen von belgischen Kolonialisten, die versuchen, durch Messen von Nasenlängen Unterschiede in der Physiognomie der konstruierten Ethnien zu finden. Es laufen Archivbilder vom Gemetzel und vor allem Präsident Kagame und seine Armee beim Wiederaufbau von Infrastruktur und – so legen es die Bilder nahe – nahezu des gesamten Landes.

Solch radikale Erinnerungskultur stößt nicht nur auf Sympathie. Eine junge Frau, die nach Ende des Genozids geboren und Besitzerin einer kleinen Boutique im Hôtel des Mille Collines ist, weltweit bekannt als eine der wenigen sicheren Häfen für Tutsi in 1994, stört die Omnipräsenz des Themas und die mediale Aufmerksamkeit: „Alle Journalisten wollen nur von mir wissen, wie ich mich fühle, wen ich im Genozid verloren habe, was diese Zeit des Erinnerns mir bedeutet – lasst mich doch einfach in Frieden!“

Und natürlich gibt es auch die andere, die dunkle Seite von Kwibuka. Wer Ruanda dieser Tage besucht, bekommt ein Bild davon, wie Paul Kagame, der big boss, die historischen Ereignisse zu Instrumentarien des Machtausbaus und Legitimation seiner Politik macht. An vielen prominenten Stellen sind Zitate Kagames zu lesen, in einem heißt es: „Der Körper Ruandas wurde gebrochen, doch sein Geist ist niemals gestorben.“ Der „Geist Ruandas“; ihn beschwört Kagame derzeit häufig. Ihm ist es wichtig, von einem vereinten Volk zu reden, einem Volk, das nur durch den Einfluss Außenstehender zerrissen werden konnte. Kagame stilisiert den Genozid zu einem Gründungsmythos eines neuen, erfolgreichen Ruandas, eines Phönix aus der Asche. Paul Kagame wird in der öffentlichen Wahrnehmung zur Personifikation dieses Mythos – sein Gesicht ist das Gesicht eines vereinten und friedlichen Landes. Und die Bürgerinnen und Bürger stehen hinter ihm. Er ist der starke Mann Ruandas. Die Erfolge Kagames sind nicht vom Tisch zu weisen: Er befreite das Land 1994 aus den Irren des Genozids, Wohlstand und Wachstum keimen, und unter ihm scheint endlich die Auflösung des Konstrukts Hutu/Tutsi zu gelingen. Doch Opposition, Pluralismus und Freidenkertum sind Institutionen, die nicht in Paul Kagames Konzept der Staatsführung passen und in der Entstehung dieses Mythos keinen Platz haben. Den Urfeind, den ein solcher Mythos braucht, liefert die Historie bedauernswerter Weise mit dazu: Die ehemaligen deutschen und belgischen Kolonialherren, die die starre Einteilung in Hutu und Tutsi schufen sowie eine globale Gemeinschaft, die 1994 aktiv weggeschaut hat. Kagame findet in beiden Verantwortliche für das Massaker, das vor zwanzig Jahren das Land verwüstete. Wie lange die Konzentration auf Paul Kagame dem Land noch guttun kann, bleibt fraglich. Die Herausforderung für die kommenden Generationen in Ruanda wird wohl nicht darin bestehen, einen weiteren Genozid zu verhindern. Sie besteht vielmehr darin, einen Staat wahrhaftiger Demokratie und aufgeklärter Bildung aufzubauen, dessen Stabilität und Einheit nicht mehr von Präsident Kagame und seiner „Erinnern – vereinigen – erneuern“-Rhetorik abhängt.

Doch so sehr die offizielle Erinnerungskultur in Ruanda einem außenstehenden politischen Beobachter auch Bauchschmerzen bereiten mag, ist sie doch immens wichtig für Opfer wie Täter zur Verarbeitung der Geschehnisse. Die Frauen, die nach zwanzig Jahren noch unter Schreikrämpfen zusammenbrechen, belegen das. Dialog ist das beste Mittel zur Verarbeitung von Gewalt, und Kommunikation das Beste zur Verhinderung derselben. Deswegen arbeitet die Organisation Aegis Trust, die sich den Kampf gegen Genozid weltweit zur Aufgabe gemacht und das eindrucksvolle Gedenkzentrum Gisozi in Kigali gestaltet hat, aktuell am Aufbau eines globalen Parlamentarier-Netzwerks. Ein solches soll als Brücke zwischen den nationalen und zuweilen regionalen Parlamenten und den internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen dienen und helfen, Verbrechen gegen die Menschheit zu verhindern. Stephen Twigg, britischer Labour-Abgeordneter, warb zusammen mit Aegis Trust-Mitarbeitern bei einem Treffen in Ruanda mit Abgeordneten des Bundestags sowie einer Delegation des rheinland-pfälzischen Landtags um Innenminister Roger Lewentz um deutsche Partizipation in diesem Netzwerk.

Twigg stimmte zu, dass ein solches Netzwerk Verantwortung um den ganzen Erdball verteilen und ein Versagen ähnlich dem der Weltgemeinschaft im Genozid von 1994 unwahrscheinlicher machen würde.

Jan Casper

 

Pressemitteilung: 20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda – Deutschland muss die richtigen Lehren ziehen

20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda – Deutschland muss die richtigen Lehren ziehen

 

Mehr als 800.000 Tote. Das ist die schockierende Bilanz des Völkermordes in Ruanda, dessen Beginn sich 2014 zum 20. Mal jährt. 20 Jahre später ruft die Menschenrechtsorganisation Genocide Alert zu einem entschiedeneren deutschen Engagement zur weltweiten Verhinderung schwerster Menschenrechtsverbrechen auf. Dr. Robert Schütte, Vorsitzender von Genocide Alert, erklärt hierzu:

 

„1994 schaute die Welt dem Morden tatenlos zu. Wenn wir in diesen Tagen den Opfern des Völkermordes gedenken, darf dieses Versagen nicht vergessen werden. Schwerste Menschenrechtsverbrechen wie der Völkermord in Ruanda sind systematisch geplant. Sie müssen ebenso systematisch verhindert werden. Auch heute sind Hundertausende Zivilisten von schwersten Menschenrechtsverbrechen bedroht: In Syrien, der Zentralafrikanischen Republik, im Südsudan und in der Demokratischen Republik Kongo. Wir dürfen nicht einfach wegsehen, wenn Menschen systematisch ermordet und vertrieben werden. Deutschland hat die Verantwortung und moralische Pflicht, ein erneutes Ruanda zu verhindern.“

 

Im Jahr 1994 war Ruanda ein Schwerpunktland deutscher Entwicklungshilfe.  Deutsche Behörden reagierten jedoch nicht auf Warnzeichen, selbst als NGOs wie Human Rights Watch bereits auf schwere Menschenrechtsverbrechen hinwiesen. Auch eine Bundeswehrberatergruppe unterstütze das ruandische Regime bis zuletzt. Als Deutschland von den Vereinten Nationen während des Genozids um konkrete Hilfe gebeten wurde, lehnte die Regierung von Helmut Kohl ab. Noch nicht einmal 147 Flüchtlinge, die das Land Rheinland-Pfalz aufnehmen wollte, durften nach Deutschland kommen.

 

Genocide Alert ruft die deutsche Politik dazu auf, die eigenen Frühwarnmechanismen zu stärken, um Warnzeichen früher und effektiver sammeln und analysieren zu können. Deutschland sollte UN-Friedensmissionen stärker unterstützen: Mit Personal, Material und logistischen Fähigkeiten. Die Bundesregierung sollte zudem die Mittel für Krisenprävention deutlich erhöhen..


 

Mehr Informationen zu den Projekten von Genocide Alert anlässlich des Völkermords in Ruanda finden Sie hier auf unseren Projektwebseiten zum Thema.

 

Schüler setzen sich in Essaywettbewerb von Genocide Alert und Rheinland Pfalz mit Völkermord in Ruanda auseinander

Vor zwanzig Jahren geschah der Völkermord in Ruanda. Ohne ein entschiedenes Eingreifen und vor den Augen der Weltöffentlichkeit wurden innerhalb von nur 100 Tagen über 800.000 Ruander ermordet und Millionen zur Flucht aus der Heimat gezwungen. Um diese Fragen zu diskutieren und an den Völkermord in Ruanda zu erinnern, haben Genocide Alert und die Landesregierung Rheinland-Pfalz im Frühjahr 2014 einen Essaywettbewerb für alle Schüler/innen ab der 11. Klasse in Rheinland-Pfalz ausgeschrieben. Dieser ist nun  abgeschlossen. Die Jury hat durchweg hochwertige Zusendungen erhalten und es war eine knappe Entscheidung. Trotz der schweren Wahl, konnte sich die Jury letztlich einigen: Der Gewinner des Essaywettbewerbs ist Jan Casper vom Stefan-George-Gymnasium Bingen am Rhein mit seinem Essay zur Macht der Sprache. Auf Platz zwei findet sich Matthias Meyer vom Thomas-Morus-Gymnasium Daun. Drittplatzierte ist Helen Bremm, die das Herzog-Johann-Gymnasium in Simmern im Hunsrück besucht.

„Es ist gut, dass sich auch Schülerinnen und Schüler für diese wichtige soziale Sache engagieren und sich kritisch mit den historischen Ereignissen in unserem Partnerland auseinandersetzen“, betonten die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Doris Ahnen und Innenminister Roger Lewentz in diesem Zusammenhang. Genocide Alert freut sich mit diesem Essaywettbewerb zur Stärkung der seit 1982 bestehenden Partnerschaft des Landes Rheinland-Pfalz mit Ruanda beigetragen zu haben. Die Essays zeugten von einer intensiven Beschäftigung der Schülerinnen und Schüler mit dem Völkermord in Ruanda und seinen Folgen. Einige der Essays, wie auch das des Gewinners Jan Casper, zogen Parallelen zu heutigen Ereignissen in Deutschland. So fordert Casper mehr Sensibilität im Umgang mit Sprache an. In Ruanda habe manipulierende und aufhetzende Sprache in den Medien den Völkermord mit ermöglicht.  Eine Gefahr des Sprachmissbrauchs bestehe immer, das zeigten Stigmatisierungen wie „Armutsmigrant“ oder „Homo-Propaganda“ mit welchen bestimmte Gruppen auch in Deutschland gezielt aus der Gesellschaft ausgegrenzt würden.

Der Verfasser des erstplatzierten Essays, Jan Casper, wird nun Anfang April zu den Gedenkfeierlichkeiten in Ruanda reisen und den für die Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda verantwortlichen Innenminister Roger Lewentz dorthin begleiten. Der Flug wird von Brussels Airlines finanziert. Die  Zweit und Drittplatzierten werden einen Bücherpreis erhalten.

Die offizielle Preisverleihung erfolgt im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung des Innenministeriums RLP und Genocide Alert am Mittwoch den 15. Mai 2014 ab 19.00 Uhr im Wappensaal des Landtags Rheinland-Pfalz. Die Veranstaltung ist öffentlich und als Podiumsdiskussion konzipiert, zum Thema „Was haben deutsche NGOs aus ihrer Rolle in Ruanda 1994 gelernt“. Den aktuellen Stand der Veranstaltungsplanung finden sie hier.

Wir danken allen TeilnehmerInnen für Ihre Zusendungen.

» Die Gewinner und eine Auswahl der eingesendeten Essays sind hier zu finden.

 

Weitere Informationen:

» Pressemitteilung des Innenministeriums Rheinland-Pfalz zum Ergebnis des Essaywettbewerbs

» Ausschreibung des Essaywettbewerbs

» 20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda: Was haben wir gelernt?

 

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Die Macht der Sprache – von Jan Casper

Erster Platz beim Essaywettbewerb “20 Jahre danach –

Was sind die Lehren aus dem Völkermord in Ruanda”

1994 starben 800 000 Menschen im ruandischen Genozid. Der Nährboden für dieses Verbrechen war eine Atmosphäre des Hasses und des Misstrauens. Einen maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung dieser Atmosphäre hatte die Sprache. Die Sprache, die von Demagogen und Rassisten gezielt instrumentalisiert wurde, um Zwist und Zerwürfnis zu streuen.

Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Ausdrücke wie „Armutsmigrant“ und „Homo – Propaganda“ prägen Debatten in Deutschland und Europa. Die Macht der Sprache ist hier ebenso allgegenwärtig wie in Ruanda 1994. Russische Homosexuelle werden verfolgt, Migranten in der Bundesrepublik stigmatisiert. In punkto Sprachsensibilität müssen noch einige Lehren gezogen werden. Weiterlesen

Der Genozid der anderen – von Matthias Meyer

Zweiter Platz beim Essaywettbewerb “20 Jahre danach –

Was sind die Lehren aus dem Völkermord in Ruanda”

Selbstverständlich, Ruanda ist weit weg. Der Zweite Weltkrieg auch. Konzentrationslager voller aufgestapelter Leichen, Opfer eines Völkermordes. Nie wieder hieß es damals 1945, nie wieder. Viele Jahre ist das her, viele Jahre, in denen dieses Vorhaben hätte umgesetzt werden können. Doch die Realität ist von dieser Vorstellung noch viel weiter entfernt, als es Deutschland von Ruanda ist. Massengräber voller aufgestapelter Leichen 1994 in Ruanda, Opfer eines Völkermordes: Nie wieder, hieß es 50 Jahre nach dem Holocaust erneut: Nie wieder darf so etwas geschehen, nie wieder dürfen Hunderttausende Menschen einfach abgeschlachtet werden. Selbstverständlich nicht.

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20 Jahre danach – Was sind die Lehren aus dem Völkermord in Ruanda? – von Hellen Bremm

Dritter Platz im Essaywettbewerb “20 Jahre danach –

Was sind die Lehren aus dem Völkermord in Ruanda”

Der Völkermord in Ruanda wurde in den letzten 20 Jahren auf viele Weisen aufgearbeitet.

Besonders eindrücklich ist die Geschichte Roméo Dallaires, dem Leiter der UNAMIR, der seine Sicht der Ereignisse aus dem Jahr 1994, die er aus nächster Nähe erfuhr, darstellt. Sein Buch „Shake Hands with the Devil – The Failure of Humanity in Rwanda“  ist zugleich eine unmissverständliche Anklage an die Vereinten Nationen und die gesamte westliche Welt. Er beschreibt: “In just one hundred days over 800,000 innocent Rwandan men, women and children were brutally murdered while the developed world, impassive and apparently unperturbed, sat back and watched the unfolding apocalypse or simply changed the channels.”[i] Es gilt sich zu fragen, ob er Recht hat mit seiner Anschuldigung und welche Fehler die internationale Gemeinschaft aber auch Einzelstaaten und vielleicht man selbst, als Privatperson am anderen Ende der Welt, gemacht hat und wie wir aus diesen Fehlern für ähnliche Verbrechen in Zukunft lernen können. Weiterlesen