Das RtoP-Bewusstsein in Deutschlands Zivilbevölkerung

von Julian Rössler

Die Finanz-, Euro- und Wirtschaftskrise hat im letzten Jahr Teile der politisch interessierten Bevölkerung aus ihrer Wohlstandslethargie gerissen und zur Blockupy-Bewegung formiert. In noch weit stärkerem Maße sind die Proteste der Indignados in Madrid und der Bevölkerung in Griechenland ausgefallen. Daneben wurde nicht zuletzt von der Zeitschrift Times 2011 als Jahr der Revolution proklamiert, womit in erster Linie auf den arabischen Frühling Bezug genommen wurde. Doch auch in mikropolitischen Fragestellungen scheint das politische Bewusstsein der Bevölkerung gewachsen – gerade in Deutschland. Über Monate kamen tausende Menschen zu Montagsdemonstrationen gegen das Stuttgart 21 Projekt. Im Februar 2012 demonstrierten mehr als 50.000 Menschen in Deutschland gegen das Anti-Piraterie Abkommen „Acta“. Zum Jahrestag der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima gingen zehntausende Deutsche in vielen Städten auf die Straße.

So positiv diese politische Partizipation junger Menschen jenseits von Partei und Wahlen ist, so zeigt der Fall Syrien dennoch, wie beschränkt das politische Bewusstsein ist. Während nach einhelliger Meinung davon ausgegangen wird, dass das syrische Regime, und anscheinend auch Teile der Opposition, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen und damit die schwersten Massenverbrechen vorliegen, so ruft dies doch keine erkennbare Entrüstung oder allgemeine Empörung in der deutschen Zivilgesellschaft hervor. Zwar wurden auch im Frühjahr Demonstrationen in Berlin gegen die Vorgehensweise des syrischen Regimes abgehalten, von einem Protest, der ein klareres Verhalten sowohl der deutschen Bundesregierung als auch der internationalen Staatengemeinschaft fordert, ist jedoch nichts zu sehen. Die Globalisierung hat zwar eine engere Verflechtung der Welt hervorgebracht, den Einzelnen scheint das Ausland dennoch nur dann zu interessieren, wenn es einen Bezug auf sein geregeltes „Wohlstandsleben“ in Deutschland gibt. Reine Menschlichkeitsbelange scheinen für eine Betroffenheit, die nach außen manifestiert wird, nicht auszureichen. Dabei betreffen uns die Massenverbrechen in Syrien oder anderswo stärker als gemeinhin angenommen. Durch die Anerkennung der Schutzverantwortung, der Responsibility to Protect, durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2005 hat auch der deutsche Staat die Pflicht übernommen, Massenverbrechen, wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnische Säuberungen, zu verhindern – und dies nicht allein in deutschem Hoheitsbereich, sondern überall auf der Welt. Die dreiteilige Schutzverantwortung beinhaltet zwar zunächst die Pflicht in den eigenen nationalen Grenzen diese Massenverbrechen zu verhindern. Daneben besteht jedoch auch die Pflicht, bei Bestehen solcher Verbrechen in anderen Staaten, Beihilfe zu leisten, um diese Verbrechen zu beenden und am Wiederaufbau mitzuwirken, um zukünftige Massenverbrechen zu verhindern. Der Schutzverantwortung, welche 2005 von der Generalversammlung verabschiedet wurde und auf die sich der Sicherheitsrat in seiner Libyen-Resolution 1973 im letzten Jahr bezog, wird zwar teilweise die völkerrechtliche Verbindlichkeit abgesprochen, da Resolutionen der Generalversammlung nicht bindend seien und allein moralische Verpflichtungen statuieren. Dennoch erscheint die mehrmalige Erwähnung der Schutzverantwortung in Resolutionen des Sicherheitsrats  auf eine Etablierung der RtoP als allgemeines Rechtsprinzip oder Gewohnheitsrecht hinzuweisen. Die Entstehung von Gewohnheitsrecht kann völkerrechtlich nur dann entstehen, wenn Staaten über einen längeren Zeitraum eine bestimmte Handlung mit Rechtsüberzeugung vornehmen und diese als verbindlich sehen. Gerade weil wir inmitten des Etablierungsprozesses der Schutzverantwortung als völkerrechtlich bindendes Prinzip stehen, erscheint das Beharren auf diese Norm umso wichtiger.

Was die Durchsetzung der Schutzverantwortung nicht nur in der deutschen Außenpolitik sondern vor allem auch in der Zivilgesellschaft bremst, ist die fehlende Verbindung der deutschen Geschichte und den daraus verbundenen Pflichten mit der Schutzverantwortung. Spätestens seit Joschka Fischers Zeit als Außenminister nimmt die Maxime „Nie wieder Auschwitz“ eine prägende Rolle in der deutschen Außenpolitik ein. „Nie wieder Auschwitz“ stellt die besondere Verantwortung Deutschlands dar, die nicht nur im Auswärtigen Amt sondern auch in der Zivilgesellschaft Anerkennung fand. Während vor dem NATO-Einsatz im Kosovo Demonstrationen sowohl gegen eine militärische Intervention als auch für ein Handeln Deutschlands zur Wahrnehmung seiner internationalen Verantwortung im Kosovo stattfanden und so ein weitreichender Diskurs stattfand, fehlt ein solcher Diskurs jedoch in anderen Fällen, in denen Deutschland seiner Schutzverantwortung nachkommen müsste. Die Vorgänge im Kongo oder Mazedonien wurden, wenn überhaupt, alleine in akademischen Kreisen untersucht, das Handeln Deutschlands in diesen Konfliktherden wurde jedoch nicht auf breiter Ebene gesellschaftspolitisch analysiert. Eine gesellschaftliche Diskussion über eine besondere Verantwortung Deutschlands in der Außenpolitik findet zwar bei Fragen von Rüstungsexporten nach Israel oder Bahrein statt, die „Schutzverantwortung“ fristet in den Diskussionen dagegen immer noch ein Schattendasein.

Dabei stellt die Anerkennung der Schutzverantwortung 2005 die Konstituierung des „Nie wieder Auschwitz“ auf internationaler Ebene dar. In gleicher Weise, wie Ende der 90er Jahre ein Ende der serbischen Massenverbrechen unter Verweis auf „Nie wieder Auschwitz“ gefordert wurde, müsste heute folglich die Beendigung von Massenverbrechen unter Hinweis auf die Schutzverantwortung verlangt werden. Dennoch ist die Schutzverantwortung noch nicht in den Köpfen der Bürger angelangt. Die Enthaltung Deutschlands bei der Libyen-Resolution im letzten Jahr hatte zwar zumindest in der Tagespresse und in akademischen Kreisen für Aufruhr gesorgt, eine Auseinandersetzung mit dieser Frage auf Wählerebene fehlte dagegen. Während in den Vereinigten Staaten eine lautstarke NGO-Gemeinschaft wächst, die sich für dieses Thema engagiert, Politiker anschreibt und durch Veranstaltungen hunderttausende von Menschen erreicht, haben es sich in Deutschland lediglich ein paar wenige Organisationen wie insbesondere die Nichtregierungsorganisation Genocide Alert e.V. zur Aufgabe gemacht, das allgemeine Bewusstsein für die Verpflichtungen, die sich aus der Schutzverantwortung ergeben, zu sensibilisieren.

Um dies zu ändern, müssten die Hauptgründe für das fehlende Bewusstsein der Schutzverantwortung in der Zivilgesellschaftgeändert werden. Zum einen betont das Auswärtige Amt zwar in seinen Stellungnahmen und auf Veranstaltungen zur RtoP die Bedeutung dieses Prinzips, dennoch wurde bisher kein Verantwortlicher im Amt allein für die Schutzverantwortung abgestellt, der bei den internationalen Treffen der nationalen RtoP-Focal Points teilnimmt wie es die Vertreter anderer Staaten wie Dänemark, Frankreich, Costa Rica oder Ghana tun. Die jüngste Ankündigung der Bundesregierung im Rahmen des informellen interaktiven Dialogs der Generalversammlung einen solchen RtoP-Focal Point einzurichten ist zwar zu begrüßen. Wie schnell dies umgesetzt wird und welche Befugnisse dieser haben wird, wird sich aber erst zeigen müssen. Vor diesem Hintergrund verwundert es weniger, dass in der Zivilgesellschaft das Bewusstsein im Hinblick auf die effektive Umsetzung der Verpflichtungen aus der Schutzverantwortung fehlt, solange auch in offiziellen Stellen die Norm nicht als zentrales Element der Außenpolitik verstanden wird.

Zum anderen erscheint es verständlich, dass ein Einsatz von Soldaten mehr Entrüstung aufwirft als der Nicht-Einsatz. Eine Demonstration für den Einsatz von deutschen Soldaten in Syrien erscheint nur schwer vorstellbar. Dennoch, nach der Aufdeckung der Massaker in Bosnien und Ruanda in den 90er Jahren wurde die Empörung über das Nicht-Handeln der westlichen Staaten in der Zivilbevölkerung lautstark vorgetragen. Auch wenn diese Empörung im Moment im Hinblick auf den syrischen Bürgerkrieg noch fehlt, so muss den Bürgerinnen und Bürgern dennoch die Verbindung der Forderung „Nie wieder Auschwitz“ mit der Umsetzung der Schutzverantwortung, notfalls auch mit militärischen Mitteln, vermittelt werden.

Eine stärkere Verankerung der Schutzverantwortung in der Zivilgesellschaft würde dazu führen, dass Deutschland seine außenpolitische Position stärker für die Durchsetzung der Anerkennung der Schutzverantwortung in anderen Staaten einsetzt. Deutschland verpasst im Moment die Möglichkeit, seine starke Rolle im internationalen Staatengefüge, die sich insbesondere aus der Meisterung der Wirtschafts- und Finanzkrise ergeben hat, dazu zu nutzen, in Fragen des Menschenrechtsschutzes eine Vorreiterrolle einzunehmen und insbesondere bei Schwellen- und Entwicklungsländern um Vertrauen für eine Implementierung der RtoP zu werben. Um hier Druck auf die Regierung aufzubauen, muss ein zivilgesellschaftlicher Diskurs über die Durchsetzung der Schutzverantwortung geführt werden.

Es wird Zeit, dass die deutsche Zivilbevölkerung aus ihrer Lethargie erwacht und das wieder entdeckte politische Bewusstsein auch gegen die Verletzung fundamentaler Menschenrechte und Rechtsprinzipien einsetzt.

von Julian Rössler

Die Verantwortung ernst nehmen – der brasilianische Vorschlag einer Responsibility while protecting und die R2P Agenda

Der brasilianische Vorschlag einer Responsibility while Protecting stößt derzeit in Europa auf Skepsis und wird eher als Hindernis für die R2P-Debatte gesehen. Dies ist jedoch eine oberflächliche Betrachtungsweise. Man muss verstehen, dass Brasilien aus einer sehr souvernitätsfreundlichen Position kommt und dass die Intervention in Libyen in Brasilien, aber auch anderswo auf Gegenwind gestoßen ist. RwP ist ein konstruktiver Beitrag zur R2P-Debatte, der von den westlichen Staaten ernst genommen werden sollte. Nur mit RwP sind Länder wie Indien oder Brasilien weiterhin als Unterstützer der R2P zu halten. Zudem zeigt die laufende Debatte, dass die genauen Umrisse von RwP keineswegs fix sind, sondern von Brasilien selbst weiter geprägt werden. In diese Diskussion lohnt es sich einzusteigen.  Weiterlesen

Protokollhof zwischen dem Neu- und Altbau des Auswärtigen Amtes in Berlin (2007), Quelle: Wikimedia

Offener Brief an Bundesaußenminister Westerwelle zur R2P

Heute forderten Genocide Alert, Human Rights Watch und der Gesellschaft für bedrohte Völker in einem offenen Brief offenen Brief an Bundesaußenminister Westerwelle eine bessere Umsetzung der Schutzverantwortung durch Deutschland. Dazu erläuterten die Organisationen ihre Forderungen nach einer RtoP-Koordinationsstelle sowie der Erstellung eins RtoP-Bestandsberichts.

Deutschland zählt innerhalb der Vereinten Nationen nominell zu den Ländern, die das Konzept der Schutzverantwortung am stärksten unterstützen. Eine Strategie zur Umsetzung auf nationaler Ebene ist bisher jedoch noch nicht erkennbar. Ohne eine Institutionalisierung der Schutzverantwortung können Massenverbrechen jedoch nicht systematisch verhindert werden. Deshalb wenden sich Genocide Alert, Human Rights Watch und der Gesellschaft für bedrohte Völker an Bundesaußenminister Westerwelle und bitten ihn sich für eine hochrangige Koordinierungsstelle zur Schutzverantwortung einzusetzen. Durch diese sollen die zahlreichen relevanten Informationen aus der deutschen Außen-, Entwicklungs- und Verteidigungspolitik zusammengeführt und analysiert werden, um daraus eine kohärente deutsche Politik zu entwickeln. Zudem soll ein regelmäßiger Bestandsbericht klarstellen, welche Informationsquellen und Instrumente der Bundesregierung zur Umsetzung der Schutzverantwortung zur Verfügung stehen, wo Mängel sind und wie sich diese beheben lassen. Dadurch soll deutlich werden, welche Handlungsoptionen für die deutsche Politik existieren.

Hier finden Sie den offenen Brief sowie die Diskussionspapiere zu der Koordinierungsstelle und zu dem Bestandsbericht, die Genocide Alert, die Gesellschaft für bedrohte Völker und Human Rights Watch gemeinsam erstellt haben.

Hier zum offenen Brief an Bundesaußenminister Westerwelle von Genocide Alert, Human Rights Watch und der Gesellschaft für bedrohte Völker:

» Download pdf. Offenen Brief an Bundesaußenminister Westerwelle

Mehr Informationen Warum Deutschland eine RtoP-Koordinationsstelle braucht und welche Aufgaben diese erfüllen sollte, gibt es im aktuellen Policy Paper:

» Download pdf. Policy Brief RtoP Koordinator

Mehr darüber wie vorhandene RtoP Informationen und Instrumente besser genutzt werden sollten und welche Fragen ein nationaler RtoP-Bestandsbericht beantworten sollte finden Sie hier:

» Download pdf. Policy Brief RtoP Umsetzung

Deutschland und die R2P: Nie wieder Krieg oder nie wieder Auschwitz?

Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Tho­mas de Mai­zière hat jüngst wie­der ei­ne ver­stärk­te Si­cher­heits­po­li­ti­sche De­bat­te in Deutsch­land ge­for­dert. Im An­schluss an die jüngs­te in­for­mel­le De­bat­te der UN Ge­ne­rals­ver­samm­lung zur Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect (RtoP) am 5. Sep­tem­ber bie­tet es sich an Deutsch­lands Bei­trag zur in­ter­na­tio­na­len Schutz­ver­ant­wor­tung zu dis­ku­tie­ren. Die Ver­hin­de­rung von und Re­ak­ti­on auf Mas­sen­ver­bre­chen ist an­ge­sichts zwei­er Ma­xi­me deut­scher Au­ßen­po­li­tik – nie wie­der Krieg und nie wie­der Ausch­witz – ein not­wen­di­ges The­ma, dass sich auch in der si­cher­heits­po­li­ti­schen De­bat­te wie­der­fin­den muss, in Deutsch­land aber bis­lang we­nig the­ma­ti­siert wird. Will die Bun­des­re­pu­blik ih­rer in­ter­na­tio­na­len Ver­ant­wor­tung ge­recht wer­den, muss hier­zu­lan­de ei­ne ernst­haf­te Aus­ein­an­der­set­zung mit der Schutz­ver­ant­wor­tung statt­fin­den.

Die Schutz­ver­ant­wor­tung…

Mit der ein­stim­mi­gen An­nah­me der Ab­schluss­do­ku­ments des Welt­gip­fels im Jahr 2005 ha­ben sich al­le Mit­glied­staa­ten der Ver­ein­ten Na­tio­nen mit der „Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect“ prin­zi­pi­ell da­zu be­kannt Völ­ker­mord, Ver­bre­chen ge­gen die Mensch­lich­keit, Kriegs­ver­bre­chen und eth­ni­schen Säu­be­run­gen prä­ven­tiv ent­ge­gen­zu­tre­ten und ge­ge­be­nen­falls ein­zel­ne Staa­ten da­bei zu un­ter­stüt­zen ih­re Schutz­ver­ant­wor­tung ge­gen­über der Be­völ­ke­rung wahr­zu­neh­men. Soll­te ein Staat in der Aus­übung sei­ner Ver­ant­wor­tung gra­vie­rend ver­sa­gen, er­klär­te sich die In­ter­na­tio­na­le Ge­mein­schaft da­zu be­reit durch den Si­cher­heits­rat der Ver­ein­ten Na­tio­nen mit Hil­fe von Zwangs­maß­nah­men, die den Ein­satz mi­li­tä­ri­scher Mit­tel ein­schlie­ßen kön­nen, be­droh­ten Be­völ­ke­run­gen zur Hil­fe zu ei­len. Dies sind die drei Säu­len der RtoP: Die Schutz­ver­ant­wor­tung des Staa­tes, In­ter­na­tio­na­le Hil­fe und Ka­pa­zi­täts­auf­bau so­wie Recht­zei­ti­ge und ent­schie­de­ne Re­ak­ti­on.

Wur­de die RtoP lan­ge vor al­lem in aka­de­mi­schen Zir­keln dis­ku­tiert, so war im Jahr 2011 In Li­by­en und der El­fen­bein­küs­te erst­mals die Le­gi­ti­mie­rung des Ein­sat­zes von Ge­walt zum Schutz von Zi­vi­lis­ten auf Ba­sis der RtoP durch den Si­cher­heits­rat zu be­ob­ach­ten. Wäh­rend der Fall El­fen­bein­küs­te in der deut­schen Öf­fent­lich­keit re­la­tiv un­um­strit­ten war, folg­te der In­ter­ven­ti­on in Li­by­en ei­ne kri­ti­sche De­bat­te, ins­be­son­de­re in Deutsch­land war die deut­sche Ent­hal­tung im Si­cher­heits­rat Ge­gen­stand der Kri­tik (sie­he z.B. auch Be­rich­te bei SPON, SZ und FAZ).

… und das wi­der­sprüch­li­che deut­sche Han­deln zwi­schen Un­ter­stüt­zung und Dis­tan­zie­rung

Die Ent­hal­tung da­mals ver­wun­der­te ei­ner­seits we­gen des deut­schen Aus­sche­rens aus der Po­si­ti­on sei­ner Al­li­ier­ten und dem (zwei­fel­haf­ten) Schul­ter­schluss mit Russ­land  und Chi­na so­wie Bra­si­li­en und In­di­en, die sich eben­falls ent­hal­ten hat­ten. Auch wenn Deutsch­land sich durch sei­ne Ent­hal­tung Ver­trau­en bei Staa­ten wie Bra­si­li­en und In­di­en ver­schafft hat, die der RtoP und ins­be­son­de­re dem dar­auf be­grün­de­ten Ein­satz von Ge­walt kri­tisch ge­gen­über ste­hen, so kann man sie nicht zwin­gend aus der oft zi­tier­ten deut­schen Aus­rich­tung am Zi­vil­mach­ti­de­al er­klä­ren: Zwar strebt die ide­al­ty­pi­sche Zi­vil­macht ei­ne „Zi­vi­li­sie­rung“ der zwi­schen­staat­li­chen Be­zie­hun­gen auch durch ei­ne Ein­he­gung des Ein­sat­zes von Ge­walt an, dies be­inhal­tet al­ler­dings auch ei­ne Un­ter­stüt­zung kol­lek­ti­ver Si­cher­heits­sys­te­me so­wie ei­ne Stär­kung des Völ­ker­rechts. Bei­de hat­te Deutsch­land durch sei­ne Ent­hal­tung zu Li­by­en ver­säumt. Was al­so „von der Li­by­en-Po­li­tik Deutsch­lands in Er­in­ne­rung bleibt, sind Feh­ler und Ver­säum­nis­se ei­ner Zi­vil­macht oh­ne Zi­vil­cou­ra­ge“.

An­de­rer­seits pass­te das deut­sche Ver­hal­ten im Fall Li­by­en gar nicht zur an­sons­ten un­ter­stüt­zen­den Hal­tung Deutsch­lands zur RtoP auf der in­ter­na­tio­na­len Ebe­ne: Deutsch­land war ein star­ker Be­für­wor­ter des In­ter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs und wäh­rend der Ver­hand­lun­gen zum rö­mi­schen Sta­tut Mit­glied der Grup­pe der „li­ke-min­ded Sta­tes“. Auch wäh­rend der Ver­hand­lun­gen zur Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect beim Welt­gip­fel 2005 spiel­te Deutsch­land ei­ne un­ter­stüt­zen­de Rol­le und sorg­te ge­mein­sam mit an­de­ren Be­für­wor­tern da­für, dass die RtoP letzt­lich im Gip­fel­do­ku­ment ver­blieb. Auch in der Zeit da­nach setz­te sich die Bun­des­re­pu­blik als Mit­glied der in­for­mel­len Grup­pie­rung „Group of Fri­ends of the Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect“ für ei­ne Stär­kung und Im­ple­men­tie­rung der RtoP auf in­ter­na­tio­na­ler Ebe­ne ein. Da­für rühm­te sich die Re­gie­rung z.B. auch im Be­richt der Bun­des­re­gie­rung zur Zu­sam­men­ar­beit mit den Ver­ein­ten Na­tio­nen im Jahr 2010.

Zu­dem set­ze sich die Bun­des­re­gie­rung nach ei­ge­nen An­ga­ben durch Men­schen­rechts – und Ent­wick­lungs­po­li­tik, zi­vi­le Kri­sen­prä­ven­ti­on, die Stär­kung re­gio­na­ler und in­ter­na­tio­na­ler Or­ga­ni­sa­tio­nen so­wie durch die fi­nan­zi­el­le För­de­rung des Bü­ros der Son­der­be­ra­ter des Ge­ne­ral­se­kre­tärs der Ver­ein­ten Na­tio­nen für die Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect und zur Ver­hin­de­rung von Völ­ker­mord ein (Bun­des­tags­druck­sa­che 17/6712: 3-4). Auch in meh­re­ren Re­de­bei­trä­gen vor den Ver­ein­ten Na­tio­nen sprach sich die Bun­des­re­pu­blik deut­lich für ei­ne Stär­kung der RtoP und de­ren wei­te­re Im­ple­men­tie­rung, auch durch den UN-Si­cher­heits­rat, aus. In­for­mier­te Krei­se be­rich­ten auch, dass An­ge­la Mer­kel ei­nen kri­ti­schen Brief an die bra­si­lia­ni­sche Prä­si­den­tin Rouseff ge­schrie­ben ha­ben soll, nach­dem Bra­si­li­en sein „Re­s­pon­si­bi­li­ty whi­le Pro­tec­ting“-Kon­zept im Herbst 2011 in die De­bat­te ein­ge­bracht hat­te.

Zu­rück­hal­tung des Aus­wär­ti­gen Amts trotz völ­ker­recht­li­cher Ba­sis für die Schutz­ver­ant­wor­tung

Ei­ne Er­klä­rung die­ses wi­der­sprüch­li­chen Ver­hal­tens ist we­ni­ger bei den deut­schen Di­plo­ma­ten in New York zu su­chen: so war z.B. Gun­ther Pleu­ger, der deut­sche Bot­schaf­ter bei den Ver­ein­ten Na­tio­nen wäh­rend des Welt­gip­fels 2005, ein star­ker Un­ter­stüt­zer der RtoP, der auch die Po­li­tik der schwarz-gel­ben Bun­des­re­gie­rung in der Li­by­en-Kri­se stark kri­ti­siert hat­te, auch sein der­zei­ti­ger Nach­fol­ger Pe­ter Wit­tig scheint sich ernst­haft mit dem Kon­zept aus­ein­an­der ge­setzt zu ha­ben. Es ist viel­mehr im Aus­wär­ti­gen Amt in Ber­lin ei­ne ge­wis­se Nicht­be­ach­tung des Kon­zepts be­ob­acht­bar: Da es sich nicht um ei­ne völ­ker­recht­lich ver­an­ker­te Rechts­norm han­delt, ran­gier­te die RtoP wohl lan­ge un­ter­halb der durch Ju­ris­ten ge­präg­ten Auf­merk­sam­keits­schwel­le der Lei­tungs­ebe­ne. Vie­le im li­be­ral ge­führ­ten Au­ßen­mi­nis­te­ri­um schei­nen in der RtoP zu­dem nicht in ers­ter Li­nie ein Mit­tel zur Ver­hin­de­rung von Mas­sen­ver­bre­chen zu se­hen, son­dern viel­mehr die Ge­fahr der Aus­he­be­lung des völ­ker­recht­li­chen Ge­walt­ver­bots.

Doch die­se ju­ris­ti­sche Be­trach­tungs­wei­se greift zu kurz: Auf Ba­sis der Ge­no­zid Kon­ven­ti­on von 1948 sind al­le Staa­ten ver­pflich­tet Völ­ker­mord vor­zu­beu­gen und ihn als Straf­tat­be­stand zu ver­fol­gen. Nach ei­nem Ur­teil des In­ter­na­tio­na­le Ge­richts­hof im Jahr 1996 ist die Ge­no­zid Kon­ven­ti­on in­zwi­schen gar als zwin­gen­des Völ­ker­ge­wohn­heits­recht zu se­hen, was je­den Staat da­zu ver­pflich­tet, al­les in sei­nen Mög­lich­kei­ten lie­gen­de zu tun, um Völ­ker­mord zu ver­hin­dern. Auch laut dem rö­mi­schen Sta­tuts des In­ter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­ho­fes aus dem Jahr 1998 sind Völ­ker­mord, Ver­bre­chen ge­gen die Mensch­lich­keit, Kriegs­ver­bre­chen so­wie das Ver­bre­chen der Ag­gres­si­on als in­ter­na­tio­na­le Straf­tat­be­stän­de durch die Un­ter­zeich­ner­staa­ten zu ver­fol­gen. Die­ses Sta­tut ist mit dem Völ­ker­straf­ge­setz­buch auch Teil der deut­schen Recht­spre­chung ge­wor­den. Auch wenn die RtoP selbst kei­ne völ­ker­recht­li­che Norm ist, so ba­siert sie doch auf ver­trag­li­chem und Völ­ker­ge­wohn­heits­recht.

Trotz­dem scheint sich das Aus­wär­ti­ge Amt erst nach der Li­by­en­kri­se ernst­haft mit der RtoP aus­ein­an­der­ge­setzt zu ha­ben. Dies ist auch dar­an zu er­ken­nen, dass sich Deutsch­land erst mit zwei Jah­ren Ver­spä­tung der RtoP Fo­cal Point In­itia­ti­ve Dä­ne­marks, Gha­nas und des Glo­bal Cen­ters fort he Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect an­schlie­ßt. Beim kürz­lich statt­ge­fun­de­nen in­for­mel­len in­ter­ak­ti­ven Dia­log der Ge­ne­ral­ver­samm­lung zur Schutz­ver­ant­wor­tung hat­te die Bun­des­re­gie­rung an­ge­kün­digt, eben­falls ei­ne sol­che Kon­takt­stel­le für die RtoP ein­rich­ten zu wol­len. In sei­ner Re­de be­ton­te der stell­ver­tre­ten­de Bot­schaf­ter Mi­guel Ber­ger zu­dem, dass es in Deutsch­land Struk­tu­ren für ei­ne ef­fek­ti­ve Un­ter­stüt­zung an­de­rer Staa­ten zur Er­fül­lung ih­rer Schutz­ver­ant­wor­tung ge­be und ver­wies hier­bei auf ei­ne res­sort­über­grei­fen­de Ar­beits­grup­pe für zi­vi­le Kri­sen­prä­ven­ti­on und Früh­war­nung so­wie ei­nen un­ter­stüt­zen­den Bei­trat. Sein Ver­weis dar­auf, dass Deutsch­land die RtoP als ganz­heit­li­ches Kon­zept se­he und dass in Fol­ge der Li­by­en-Kri­se der drit­ten Säu­le, sprich der mi­li­tä­ri­schen und nicht-mi­li­tä­ri­schen Re­ak­ti­on auf be­reits statt­fin­den­de Mas­sen­ver­bre­chen, zu viel Auf­merk­sam­keit zu­teil­wer­de ist zwar rich­tig, an­ge­sichts der es­ka­lie­ren­den La­ge in Sy­ri­en aber nicht wirk­lich an­ge­bracht. Schlie­ß­lich kann in Fäl­len in de­nen Kriegs­ver­bre­chen und Ver­bre­chen ge­gen die Mensch­lich­keit be­reits be­gan­gen wer­den, nur ei­ne schnel­le, glaub­wür­di­ge und ent­schie­de­ne Re­ak­ti­on die Tä­ter von wei­te­ren Gräu­el­ta­ten ab­hal­ten. Ge­ra­de mit Blick auf Sy­ri­en wird hier der­zeit, we­gen der Blo­cka­de des UN-Si­cher­heits­ra­tes, al­ler­dings zu we­nig ge­tan.

Dis­kus­si­on und Ana­ly­se der Schutz­ver­ant­wor­tung in Deutsch­land not­wen­dig

An­ge­sichts der La­ge in Sy­ri­en muss da­her auch die De­bat­te über ei­ne Re­form des UN-Si­cher­heits­ra­tes wie­der be­lebt wer­den. Ge­ra­de Deutsch­land, das selbst ei­nen stän­di­gen Sitz im Si­cher­heits­rat an­strebt, soll­te in die­ser Dis­kus­si­on öf­fent­lich Stel­lung be­zie­hen. In­di­en z.B. nutz­te in den ver­gan­ge­nen Jah­ren die De­bat­ten der Ge­ne­ral­ver­samm­lung zur RtoP im­mer wie­der, um ei­ne Re­form des Si­cher­heits­ra­tes an­zu­mah­nen, auch in die­sem Jahr.

Die star­ke Zu­rück­hal­tung der Bun­des­re­pu­blik ge­gen­über In­stru­men­ten aus der drit­ten Säu­le der RtoP ist nicht ziel­füh­rend. Deutsch­land könn­te noch viel mehr tun, bis­lang fehlt hier­zu­lan­de ein Über­blick dar­über, wel­che In­stru­men­te der Bun­des­re­gie­rung an­ge­sichts von Mas­sen­ver­bre­chen zur Ver­fü­gung ste­hen: Das Aus­wär­ti­ge Amt, das Ent­wick­lungs­hil­fe­mi­nis­te­ri­um, der Bun­des­nach­rich­ten­dienst, die Bun­des­wehr und an­de­re Re­gie­rungs­in­sti­tu­tio­nen ver­fü­gen al­le über In­stru­men­te und In­for­ma­tio­nen, die in Be­zug auf die Prä­ven­ti­on und Ver­hin­de­rung von Mas­sen­ver­bre­chen hilf­reich und wich­tig sind. Doch oft schei­nen das Wis­sen, der Mut und der Wil­le zu feh­len, um die ver­füg­ba­ren Mit­tel auch ein­zu­set­zen. Wenn wir, wie von de Mai­zière an­ge­sto­ßen, ei­ne ernst­haf­te si­cher­heits­po­li­ti­sche De­bat­te in Deutsch­land füh­ren wol­len, muss auch die RtoP ernst­haft dis­ku­tiert und in der deut­schen Au­ßen­po­li­tik den ihr zu­ste­hen­den Platz ein­neh­men kön­nen.

Die­ser Bei­trag von Gre­gor Hof­mann ist am 12. Sep­tem­ber be­reits im Bret­ter­blog er­schie­nen.
[Hier zum ori­gi­nal Ar­ti­kel].

Debatte zur Schutzverantwortung in der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 5. September 2012: Der deutsche Beitrag

Während des vierten Dialog der UN-Generalversammlung zur Schutzverantwortung am 5. September 2012 verdeutlichte der Stellvertreter des Ständigen Vertreters Deutschlands Botschafter Miguel Berger, dass die Einzelstaaten im Bezug auf die Schutzverantwortung vor drei wesentlichen Herausforderungen stünden. Hierzu zählten die weitere Ausgestaltung des Konzept, die Operationalisierung der ersten und zweiten Säule auf nationaler Ebene, sowie die Bewältigung der öffentlichen Erwartungen gegenüber der Schutzverantwortung. Bezüglich der Ausgestaltung des Konzept erinnerte Berger daran, dass es keine Musterlösung für die Prävention von und Reaktion auf Massenverbrechen gäbe, sondern jeweils situationsbezogene Lösungen angestrebt werden müssten. Zur Operationalisierung der Schutzverantwortung auf nationaler Ebene kündigte Berger an, dass Deutschland kurz vor der Ernennung eines nationalen Focalpoints für die Schutzverantwortung stehe. Zur öffentlichen Wahrnehmung der Schutzverantwortung äußerte Berger die Sorge der Bundesrepublik, dass die dritte Säule der Schutzverantwortung, zum Nachteil der ersten beiden, zu viel Aufmerksamkeit erhalte. Deutschland betrachte die Schutzverantwortung als ein ganzheitliches Konzept, welches Prävention und Reaktion verbinde. Unten die Rede in voller Länge auf Englisch.

 

 

General Assembly: Statement by Ambassador Berger at the 4th Informal Interactive Dialogue on the Responsibility to Protect

 

Sep 5, 2012

(General Assembly: Statement by Ambassador Berger at the 4th Informal Interactive Dialogue on the Responsibility to Protect)

 

Mr. President,

 

I would like to thank you for convening this important and timely debate, and to express thanks to the Secretary-General for his intervention and his recent report. We also express our gratitude and appreciation for the work undertaken by Prof. Ed Luck in his former capacity as the SG’s Special Adviser on Responsiblity to Protect (R2P).

 

Germany aligns itself with the EU intervention and would like to underline the following additional points:

 

Since 2005, the international community has explicitly embraced the principle that the commission of mass atrocities is not an internal matter enjoying protection from outside interference. Both the General Assembly and the Security Council have repeatedly invoked the Responsibility to Protect which obliges us collectively to act in a timely and decisive manner, through diplomatic and other peaceful means, to prevent the emergence of situations conducive to the commission of such atrocities, and, where necessary to step in and end such acts. Rwanda and Srebenica continue to remind us of this joint responsibility and the ongoing events in Syria certainly fall within the scope of all its three pillars.

 

 

Mr. President,

 

As states, we are all basically facing three challenges: to further shape the concept, to operationalize pillars one and two at the national level, and to manage public expectations vis-à-vis R2P.

 

Regarding the concept, I would like to stress the preventive aspects of R2P as well as the responsibility of states and regional organisations for the implementation of R2P. As the report of the SG illustrates, a multitude of options and instruments are available to allow for tailor-made approaches to preventing or stopping the occurrence of mass atrocities. Thus, there can be no “one size fits all” approach.

 

Also, the full equality of all three pillars precludes  an “either/or approach” with regard to prevention and more coercive action, as well as a strict sequencing of actions under each pillar. Rather, we need to ask ourselves in each case how best to achieve the objective of protecting those who are or may be the target of atrocities. Within this approach, measures under chapter vii, while being a last resort, do not require a prior futile use of other means – as long as the Security Council sees chapter VII measures as the only viable option.

 

At the same time, we recognise the need to further develop the concept while building on past experiences and we are aware of calls for possible criteria or guidelines for the use of force under the 3rd pillar, as well as for possible procedures to monitor and evaluate such measures in order to satisfy existing information requirements. We welcome that efforts have been made to advance this discussion, and Germany has already engaged in political dialogue with third countries on R2P in order to advance a common understanding of the concept and its 3rd pillar in particular.

 

Regarding the operationalization of R2P at the national level, Germany has set up the structures useful for effective implementation of the second pillar. Our action in this area is guided by the understanding of R2P as a cross-cutting principle. The German Government has established an inter-ministerial working group for civil crisis prevention and early warning and an adjunct advisory council. These bodies have been meeting on country-specific as well as thematic issues related to R2P and will continue to tackle these issues, including those relating to the four crime areas that trigger R2P.

 

Germany is in the process of appointing a national focal point for R2P. The recommendations that have been formulated by the Global Center for R2P in this regard have been very helpful in this process.

 

As to the public perception of R2P,  Germany remains concerned about the prevailing narrow focus on the third pillar. The discussion of NATO’s military action in implementation of Security Council resolution 1973 has unnecessarily further contributed to a reduced awareness of pillars one and two. Let me therefore again stress that we remain committed to the application of R2P as a holistic concept that merges prevention and response.

 

I thank you.

 

 

Quelle: http://www.new-york-un.diplo.de/Vertretung/newyorkvn/en/__pr/speeches-statements/2012/20120906-berger-ga-r2p.html?archive=2984642.

Interview mit Tom Koenigs (Bündnis 90/Die Grünen):„Unter grüner Regierungsverantwortung wäre der Schutz von Menschen vor Massenverbrechen eine außen- und menschenrechtspolitische Priorität.“

Mit ih­rem de­tail­lier­ten An­trag zur Schutz­ver­ant­wor­tung im Bun­des­tag im Mai 2012 zeig­ten die Grü­nen, dass sie sich in­ten­siv mit der Schutz­ver­ant­wor­tung aus­ein­an­der­set­zen. Ei­ner der en­ga­gier­tes­ten Ver­tre­ter der Schutz­ver­ant­wor­tung bei den Grü­nen ist Tom Ko­enigs. Im In­ter­view mit Ge­no­ci­de Alert er­klärt der Vor­sit­zen­de des Aus­schus­ses für Men­schen­rech­te und hu­ma­ni­tä­re Hil­fe des Bun­des­ta­ges die Po­si­ti­on der Grü­nen zur Schutz­ver­ant­wor­tung. Er at­tes­tiert der Bun­des­re­gie­rung Kon­zept­lo­sig­keit im Be­zug auf die Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect und be­zieht auch zu den kon­kre­ten Fäl­len in Li­by­en und Sy­ri­en Stel­lung.

 Ge­no­ci­de Alert: Sie sind ei­ner der stärks­ten Ver­tre­ter  der Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect in ih­rer Frak­ti­on. Die Mei­nung der GRÜ­NEN zur Schutz­ver­ant­wor­tung ist je­doch nicht ein­heit­lich. Was ist ihr wich­tigs­tes Ar­gu­ment, um Zweif­ler in Ih­rer Par­tei von der Schutz­ver­ant­wor­tung zu über­zeu­gen?

Tom Ko­enigs: Ich fin­de es wich­tig, zwi­schen dem Prin­zip der Schutz­ver­ant­wor­tung und den In­stru­men­ten sei­ner Um­set­zung zu un­ter­schei­den. Das Prin­zip ist an­er­kannt. Wir dis­ku­tie­ren dar­über, wie es am wirk­sams­ten um­ge­setzt wer­den kann, al­so wel­che Maß­nah­men in wel­chen Si­tua­tio­nen hilf­reich sind, um Men­schen wirk­sam vor schwers­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen zu schüt­zen und Staa­ten da­bei zu hel­fen. RtoP ist nicht mit mi­li­tä­ri­schen In­ter­ven­tio­nen gleich­zu­set­zen son­dern zielt dar­auf ab, schwers­te Men­schen­rechts­ver­bre­chen wie Völ­ker­mord be­reits im Vor­feld zu ver­hin­dern. Die über­wie­gen­de Mehr­heit der RtoP-Maß­nah­men sind zi­vi­le und di­plo­ma­ti­sche Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men, die nicht im Zen­trum der me­dia­len Öf­fent­lich­keit ste­hen. Dar­in müs­sen wir bes­ser wer­den, da­mit mi­li­tä­ri­sche Ein­grif­fe erst gar nicht nö­tig wer­den. Es gibt vie­le Op­tio­nen zwi­schen den Ex­tre­men Nichts­tun oder Ent­sen­dung der Ma­ri­nes.  Zwangs­maß­nah­men als äu­ßers­te Mit­tel ge­hö­ren aber zu ei­nem glaub­wür­di­gen Kon­zept. Men­schen­ver­ach­ten­de Re­gime las­sen sich nicht mit gu­ten Wor­ten am Mor­den hin­dern.

Ge­no­ci­de Alert: In den neun­zi­ger Jah­ren gab es im Rah­men der Krie­ge auf dem Bal­kan hef­ti­ge De­bat­ten zwi­schen den Im­pe­ra­ti­ven „nie wie­der Krieg“ und „nie wie­der Ausch­witz“. Über wel­che Etap­pen hat sich die­se De­bat­te seit 1999 ent­wi­ckelt? Wel­che Rol­le ha­ben bei die­ser Dis­kus­si­on die Kri­sen in Dar­fur und im Kon­go ge­spielt?

Tom Ko­enigs: Schwers­te Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen stel­len uns im­mer vor das Di­lem­ma, uns schul­dig zu ma­chen – durch Ein­grei­fen oder durch Nichts­tun. Die­ses Di­lem­ma wird heu­te aber an­ders dis­ku­tiert als noch vor zehn Jah­ren. Nach den Ver­bre­chen in Ru­an­da 1994, Sre­bre­ni­ca 1995 und im Ko­so­vo 1999 wur­de hef­tig de­bat­tiert, wie le­gi­tim es ist, mit mi­li­tä­ri­schem Ein­grei­fen schwers­te Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen zu ver­hin­dern. In Deutsch­land hat­te man aus Sor­ge vor ei­ner Mi­li­ta­ri­sie­rung der Au­ßen­po­li­tik ei­ni­ge Ele­men­te des Men­schen­rechts­schut­zes ver­nach­läs­sigt. Die in­ter­na­tio­na­le An­er­ken­nung der Schutz­ver­ant­wor­tung 2005 hat die Po­si­tio­nen „Nie wie­der Krieg“ und „Nie wie­der Ausch­witz“ ein­an­der an­ge­nä­hert. Wir re­den nicht mehr über das Recht von Staa­ten zur In­ter­ven­ti­on, son­dern dar­über, dass Staa­ten für den Schutz der ei­ge­nen Be­völ­ke­rung ver­ant­wort­lich sind und dar­über, wie die in­ter­na­tio­na­le Staa­ten­ge­mein­schaft Staa­ten da­bei un­ter­stüt­zen kann. Zi­vi­le prä­ven­ti­ve Maß­nah­men wur­den ex­pli­zit in den Vor­der­grund ge­stellt und mi­li­tä­ri­sches Ein­grei­fen nur im äu­ßers­ten Not­fall und nur mit ei­nem Man­dat des VN-Si­cher­heits­ra­tes ak­zep­tiert.

Fäl­le von lang an­dau­ern­den Ver­bre­chen wie in Dar­fur oder im Kon­go ha­ben ge­zeigt, dass mi­li­tä­ri­sche Zu­rück­hal­tung nicht im­mer wei­ter hilft. Ei­ne früh­zei­ti­ge mi­li­tä­ri­sche Re­ak­ti­on kann in man­chen Fäl­len, wenn sie von zi­vi­len und po­li­ti­schen Maß­nah­men be­glei­tet und ge­folgt ist, zu mehr Frie­den bei­tra­gen als ein ka­te­go­ri­scher Ge­walt­ver­zicht. Im UN-Rah­men ha­ben es ein­zel­ne Staa­ten schwe­rer, für rein macht­po­li­tisch mo­ti­vier­te In­ter­ven­tio­nen Zu­stim­mung zu fin­den. Die Ver­su­che Russ­lands, die In­ter­ven­ti­on in Ge­or­gi­en 2008 mit der Schutz­ver­ant­wor­tung zu be­grün­den oder die Be­mü­hun­gen der US-Re­gie­rung, den Prä­ven­tiv­krieg ge­gen den Irak 2003 mit men­schen­recht­li­chen Zie­len zu le­gi­ti­mie­ren, sind ge­schei­tert.

Ge­no­ci­de Alert: Die Schutz­ver­ant­wor­tung wird von Sei­ten der Frie­dens­be­we­gung ver­däch­tigt, Krie­ge zu le­gi­ti­mie­ren und die Si­tua­ti­on in den ent­spre­chen­den Län­dern so­gar noch zu ver­schlim­mern. Die Par­tei DIE LIN­KE hat in den letz­ten Jah­ren ver­sucht, sich als par­la­men­ta­ri­scher Arm der „An­ti­kriegs­be­we­gung“ dar­zu­stel­len. Kann man als Pa­zi­fist heu­te noch die GRÜ­NEN wäh­len?

Tom Ko­enigs: Es ist ein zi­vi­li­sa­to­ri­scher Fort­schritt, dass die deut­sche Ge­sell­schaft ge­gen­über dem Ein­satz mi­li­tä­ri­scher Ge­walt zu­rück­hal­tend ist. Ab­so­lu­te Ge­walt­frei­heit ist aber nicht zu recht­fer­ti­gen, wenn mas­sen­haf­te Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch den Ein­satz von Ge­walt ver­hin­dert wer­den könn­ten. Ge­ra­de wir Deut­schen, die 1945 von ei­nem men­schen­ver­ach­ten­den Re­gime mit Waf­fen­ge­walt und un­ter un­säg­li­chen Ver­lus­ten be­freit wor­den sind, soll­ten die Feh­ler der ame­ri­ka­ni­schen Pa­zi­fis­ten in der Vor­kriegs­zeit nicht wie­der­ho­len. Mit dem RtoP-Kon­zept hat sich die in­ter­na­tio­na­le Ge­mein­schaft dar­auf ver­stän­digt, bei schwers­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen nicht mehr weg­zu­se­hen son­dern sie zu ver­hin­dern, mit zi­vi­len Mit­teln so­weit ir­gend dies geht und nur im äu­ßers­ten Not­fall mit mi­li­tä­ri­schen Mit­teln und das nach der VN-Char­ta. Die­se Ent­wick­lung ist ein wich­ti­ger Schritt der Ver­recht­li­chung und Zi­vi­li­sie­rung in­ter­na­tio­na­ler Po­li­tik und mit ei­nem ra­di­ka­len Pa­zi­fis­mus nicht zu ver­ein­ba­ren. Da­zu ha­ben wir Grü­ne uns nach schwie­ri­gen und lan­gen De­bat­ten durch­ge­run­gen. Bei Völ­ker­mord wol­len wir uns lie­ber we­gen miss­lun­ge­ner als we­gen un­ter­las­se­ner Hil­fe­leis­tung kri­ti­sie­ren las­sen.

Ge­no­ci­de Alert: In ih­rem An­trag zur RtoP hat sich die Frak­ti­on die GRÜ­NEN sehr po­si­tiv und un­ter­stüt­zend zum Kon­zept ge­äu­ßert. Was wür­de sich ver­än­dern, wenn die Grü­nen in der kom­men­den Bun­des­tags­wahl in die Bun­des­re­gie­rung ge­wählt wer­den wür­den?

Tom Ko­enigs: Trotz un­se­rer his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung für die Ver­hü­tung von Völ­ker­mord spielt RtoP in der Au­ßen­po­li­tik der Bun­des­re­gie­rung zur Zeit kaum ei­ne Rol­le. Das deut­sche En­ga­ge­ment für die Schutz­ver­ant­wor­tung ist pro­fil- und kon­zept­los. Wir Grü­ne be­grei­fen RtoP als wich­ti­ge Säu­le ei­ner men­schen­rechts­ge­lei­te­ten glo­ba­len Frie­dens­po­li­tik. Un­ter grü­ner Re­gie­rungs­ver­ant­wor­tung wä­re der Schutz von Men­schen vor Mas­sen­ver­bre­chen ei­ne au­ßen- und men­schen­rechts­po­li­ti­sche Prio­ri­tät. Das be­deu­tet, wir wür­den die prä­ven­ti­ven Ka­pa­zi­tä­ten und Früh­warn­me­cha­nis­men der VN stär­ken, er­neut die Dis­kus­si­on über Kri­te­ri­en für mi­li­tä­ri­sche Maß­nah­men als äu­ßers­tes Mit­tel in den VN-Gre­mi­en an­sto­ßen, VN-Mis­sio­nen im Rah­men von RtoP-Man­da­ten nicht nur fi­nan­zi­ell son­dern auch per­so­nell un­ter­stüt­zen, RtoP in Re­gie­rungs­ge­sprä­chen und Men­schen­rechts­dia­lo­gen an­spre­chen, RtoP-Trai­ning von Bun­des­wehr­sol­da­ten ein­füh­ren, die in­sti­tu­tio­nel­len – und in an­de­ren Län­dern schon exis­tie­ren­den – in­sti­tu­tio­nel­len Vor­aus­set­zun­gen schaf­fen, um schwers­te Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen bes­ser vor­beu­gen und schnel­ler auf sie re­agie­ren zu kön­nen. In un­se­rem An­trag an die Bun­des­re­gie­rung (Druck­sa­che 17/9584) ha­ben wir die­se Zie­le for­mu­liert.

Ge­no­ci­de Alert: Die Ver­hin­de­rung von Mas­sen­ver­bre­chen wur­de kürz­lich von Prä­si­dent Ba­rack Oba­ma als “na­tio­na­les In­ter­es­se” de­fi­niert. Vor die­sem Hin­ter­grund wur­de ein so­ge­nann­tes Atro­ci­ties Preven­ti­on Board ge­grün­det. Auch  die Grü­nen neh­men die Prü­fung ei­ner sol­chen  Idee für Deutsch­land in ih­rem An­trag auf. Wie soll­te ei­ne sol­che In­sti­tu­ti­on in Deutsch­land kon­kret aus­se­hen?

Tom Ko­enigs: Wir ha­ben die Bun­des­re­gie­rung auf­ge­for­dert, sich der In­itia­ti­ve des Glo­bal Cent­re for the Re­s­pon­si­bi­li­ty to Pro­tect (GCR2P) an­zu­schlie­ßen und ei­ne na­tio­na­le Kon­takt­stel­le ein­zu­rich­ten, um schnel­ler über RtoP-Maß­nah­men ent­schei­den und sie bes­ser ko­or­di­nie­ren zu kön­nen. In die­sem Zu­sam­men­hang for­dern wir, ein mit dem in den USA ein­ge­rich­te­ten Atro­ci­ties Preven­ti­on Board ver­gleich­ba­res Gre­mi­um zu schaf­fen. Der Bei­rat setzt sich in den USA aus hoch­ran­gi­gen Ver­tre­tern der Mi­nis­te­ri­en für Äu­ße­res, Ver­tei­di­gung, Ent­wick­lung, Fi­nan­zen und Jus­tiz, der Ge­heim­diens­te, der Streit­kräf­te, der Ver­tre­tung bei den Ver­ein­ten Na­tio­nen und des Bü­ros des Vi­ze­prä­si­den­ten zu­sam­men. Ei­ne deut­sche na­tio­na­le Kon­takt­stel­le für RtoP soll­te eben­falls auf ho­her po­li­ti­scher Ebe­ne an­ge­sie­delt sein. Dies setzt den po­li­ti­schen Wil­len vor­aus, die Ver­hin­de­rung von Mas­sen­ver­bre­chen ganz oben auf die po­li­ti­sche Agen­da zu set­zen. Die Bun­des­re­gie­rung ist der Mei­nung, dass der Bei­rat zi­vi­le Kri­sen­prä­ven­ti­on aus­rei­chend ist. Da­bei ist die Prä­ven­ti­on schwers­ter Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen nicht mit der Prä­ven­ti­on von be­waff­ne­ten Kon­flik­ten gleich­zu­set­zen. RtoP-Ver­bre­chen ste­hen oft aber nicht im­mer di­rekt mit be­waff­ne­ten Kon­flik­ten in Zu­sam­men­hang wie die Fäl­le Kam­bo­dscha 1975-1978 und der Ho­lo­caust zei­gen.

Ge­no­ci­de Alert: Die Li­by­en­in­ter­ven­ti­on wird von vie­len als not­wen­di­ger Ein­griff so­wie als Er­folg für die Schutz­ver­ant­wor­tung be­wer­tet. Deutsch­land hat sich da­mals im Si­cher­heits­rat sei­ner Stim­me ent­hal­ten und ei­ne mi­li­tä­ri­sche Be­tei­li­gung ab­ge­lehnt. Wel­che Leh­ren soll­te die Bun­des­re­pu­blik aus der In­ter­ven­ti­on und dem ei­ge­nen Um­gang mit die­ser Fra­ge zie­hen?  Wür­den Sie sich mit dem heu­ti­gen Wis­sen in ei­ner ähn­li­chen Si­tua­ti­on für ei­ne Be­tei­li­gung an ei­ner mi­li­tä­ri­schen In­ter­ven­ti­on aus­spre­chen?

Tom Ko­enigs: Es war ein schwe­rer mo­ra­li­scher und po­li­ti­scher Feh­ler, dass sich die Bun­des­re­gie­rung an der Sei­te von Russ­land und Chi­na ent­hal­ten hat. Gad­da­fi hat Re­gime­geg­ner öf­fent­lich als „Ka­ker­la­ken“ be­zeich­net, von de­nen Li­by­en „ge­säu­bert“ wer­den müs­se. Die Rück­erobe­rung Ben­ga­sis durch re­gime­treue Trup­pen stand kurz be­vor. In die­ser Si­tua­ti­on hat sich die Bun­des­re­gie­rung ih­rer Schutz­ver­ant­wor­tung für die li­by­sche Be­völ­ke­rung ent­zo­gen. Ein UN-Man­dat mit­zu­tra­gen be­deu­tet nicht au­to­ma­tisch, sich (mi­li­tä­risch) be­tei­li­gen zu müs­sen. RtoP soll an­ge­wen­det wer­den, wo sie Aus­sicht auf Er­folg hat, je­den­falls aber durch ein Ein­grei­fen der in­ter­na­tio­na­len Ge­mein­schaft nicht ver­schlim­mert wird. In Li­by­en war dies im Ge­gen­satz zur ge­gen­wär­ti­gen Si­tua­ti­on in Sy­ri­en ge­ge­ben. Der Fall Li­by­en zeigt aber auch Ge­fah­ren ei­ner Über­deh­nung von RtoP-Man­da­ten. RtoP-Man­da­te soll­ten zeit­lich eng be­grenzt und nur auf den Schutz von Zi­vi­lis­ten be­schränkt wer­den. Kei­ne Si­tua­ti­on schwers­ter Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen gleicht der an­de­ren. Da­her kann ich nicht pau­schal sa­gen, wo ich mich für ei­ne mi­li­tä­ri­sche In­ter­ven­ti­on aus­spre­chen wür­de. Zu Recht hei­ßt es im Ab­schluss­do­ku­ment 2005, dass Ent­schei­dun­gen  von Fall zu Fall ent­schie­den wer­den müs­sen. Ei­ne deut­sche Be­tei­li­gung im Fall Li­by­en hät­te ich aber auch im Rück­blick für an­ge­mes­sen ge­hal­ten.

Ge­no­ci­de Alert: Ist die in­ter­na­tio­na­le Staa­ten­ge­mein­schaft in Sy­ri­en ih­rer Schutz­ver­ant­wor­tung nach­ge­kom­men? Was hät­te man aus heu­ti­ger Sicht zu ei­nem frü­he­ren Zeit­punkt im Fall Sy­ri­en an­ders ma­chen müs­sen?

Tom Ko­enigs: Nicht die in­ter­na­tio­na­le Ge­mein­schaft ent­zieht sich ih­rer Schutz­ver­ant­wor­tung für die sy­ri­sche Be­völ­ke­rung son­dern ein­zel­ne Mit­glieds­staa­ten. Mit ih­rem Ve­to ge­gen drei Re­so­lu­tio­nen des Si­cher­heits­ra­tes ha­ben Russ­land und Chi­na die Staa­ten­ge­mein­schaft dar­an ge­hin­dert, den sy­ri­schen Prä­si­den­ten zum Ab­tre­ten zu zwin­gen und auf ei­ne fried­li­che Lö­sung des Kon­flikts hin­zu­wir­ken. Trotz­dem war die Staa­ten­ge­mein­schaft nicht un­tä­tig: es wur­den Sank­tio­nen ver­ab­schie­det, di­plo­ma­ti­sche Be­zie­hun­gen ab­ge­bro­chen, ein Son­der­be­ra­ter ein­ge­setzt und ein Sechs-Punk­te-Plan mit ei­ner VN-Be­ob­ach­ter­mis­si­on ver­ab­schie­det. Die Frie­dens­mis­si­on Ko­fi An­n­ans kann aber nur so stark sein, wie die Mit­glieds­län­der der Ver­ein­ten Na­tio­nen sie ma­chen. Je mehr Zeit ver­streicht, des­to schwe­rer grei­fen die gut kon­zi­pier­ten Maß­nah­men. Man hät­te vie­les frü­her und bes­ser ma­chen kön­nen. Ich hät­te mir frü­her ein deut­li­ches Si­gnal des Si­cher­heits­ra­tes an As­sad, ein stär­ke­res En­ga­ge­ment der Ara­bi­schen Li­ga, schär­fe­re Sank­tio­nen, ei­ne frü­he­re Aus­wei­sung des sy­ri­schen Bot­schaf­ters aus Deutsch­land aber auch Ver­hand­lun­gen mit dem in der Re­gi­on ein­fluss­rei­chen Iran ge­wünscht.

Ge­no­ci­de Alert: Ne­ben aku­ten Kri­sen wie jüngst in Li­by­en und Sy­ri­en gibt es „ver­ges­se­ne“ Fäl­le, wie den Su­dan oder die DR Kon­go, in wel­chen der Schutz­ver­ant­wor­tung nicht nach­ge­kom­men wird, oh­ne dass die­se durch den „CNN-Ef­fekt“ auf der po­li­ti­schen Ta­ges­ord­nung ste­hen. Wie lässt sich dem bei­kom­men?

Tom Ko­enigs: Das ist ei­ne zen­tra­le Kri­tik am RtoP-Kon­zept. Wir kön­nen aber nicht igno­rie­ren, dass die in­ter­na­tio­na­le Ge­mein­schaft nicht in al­le Kon­flik­ten ein­grei­fen kann. Da muss man rea­lis­tisch blei­ben. Aber nur weil Men­schen nicht über­all vor schwers­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen ge­schützt wer­den (kön­nen), ist es nicht ver­werf­lich,  dass sie dort ge­schützt wer­den, wo es mög­lich ist. Auf­merk­sam­keit auf Fäl­le zu len­ken, die nicht oder kaum auf der po­li­ti­schen Agen­da ste­hen, ist ei­ne Her­aus­for­de­rung von Po­li­tik und Zi­vil­ge­sell­schaft und Or­ga­ni­sa­tio­nen vor Ort. Je mehr es ge­lingt, po­li­ti­schen Druck auf­zu­bau­en, des­to schwie­ri­ger wird es, sol­che Fäl­le zu igno­rie­ren.

Ge­no­ci­de Alert: Sy­ri­en, Dar­fur, Ko­so­vo: Was soll­te ge­tan wer­den, wenn in ei­ner Si­tua­ti­on wie in Sy­ri­en kei­ne Zwei­fel an dem Cha­rak­ter der Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und dem Be­zug zur Schutz­ver­ant­wor­tung be­ste­hen, der UN-Si­cher­heits­rat je­doch durch ein Ve­to blo­ckiert ist?

Tom Ko­enigs: Wel­ches Vor­ge­hen der in­ter­na­tio­na­len Ge­mein­schaft hilf­reich ist, muss von Fall zu Fall ent­schie­den wer­den. Wenn ein Re­gime Mas­sen­ver­bre­chen an der ei­ge­nen Be­völ­ke­rung be­geht oder zu­lässt und der VN-Si­cher­heits­rat blo­ckiert ist, soll­ten mög­lichst al­le di­plo­ma­ti­schen, po­li­ti­schen und öko­no­mi­schen Mög­lich­kei­ten un­ter­halb die­ser Ebe­ne aus­ge­schöpft wer­den, um das Re­gime zu schwä­chen und po­li­tisch zu iso­lie­ren, z.B. durch ge­ziel­te di­plo­ma­ti­sche Sank­tio­nen, Rei­se­ver­bo­te, Ein­frie­ren von Ver­mö­gens­wer­ten oder Han­dels- und Waf­fen­em­bar­gos. Wenn der Si­cher­heits­rat blo­ckiert ist kann sich die Ge­ne­ral­ver­samm­lung im Sin­ne der „Unit­ing-for-Peace-Re­so­lu­ti­on“ von 1950 mit dem Fall be­fas­sen, Emp­feh­lun­gen an den VN-Si­cher­heits­rat ge­ben und so den Hand­lungs­druck auf die stän­di­gen Mit­glie­der er­hö­hen. Zwangs­maß­nah­men kann sie aber nicht be­schlie­ßen, da­zu ist al­lein der Si­cher­heits­rat be­fugt.

                                                                                                                                                 10. Au­gust 20

 Kli­cken Sie hier für die PDF Ver­si­on des In­ter­views.

 

Links zum Wei­ter­le­sen:

 

Auf www.​schutz­ver­ant­wor­tung.​de fin­den Sie au­ßer­dem de­tail­lier­te Be­schrei­bun­gen der Po­si­tio­nen der deut­schen Par­tei­en so­wie der Bun­des­re­gie­rung zur Schutz­ver­ant­wor­tung und wei­te­re Links und Li­te­ra­tur­hin­wei­se zum The­ma.

Thomas Lubanga Dyilo – Der erste Fall des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag

Nach 10-jährigem Bestehen hat der IStGH am 14. März 2012 sein erstes Urteil erlassen: Thomas Lubanga Dyilo wurde als Mittäter wegen Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8(2)(e)(vii), 25(3)(a) des Rom-Statuts verurteilt. Das Gericht hält es für zweifelsfrei bewiesen, dass der ehemalige Warlord und Führer der Union des patriotes congolais (UPC) samt deren militärischen Arm (Force patriotique pour la libération du Congo, FPLC) zwischen 2002 und 2003 Kinder unter 15 Jahren zwangsverpflichtet, in die Miliz eingegliedert und als Kindersoldaten in dem bewaffneten Konflikt eingesetzt hat.

Daraufhin wurde der 51-jährige Lubanga am 10. Juli 2012 zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt (Artikel 76 Rom-Statut). Der Ankläger hatte zwar 30 Jahre gefordert, jedoch berücksichtigte das Gericht mildernde Umstände, da Lubanga mit dem Gericht kooperiert hatte. Berufung ist bislang nicht eingelegt worden. Noch ist unklar, wo Lubanga die Gefängnisstrafe ableisten muss. Infrage kommen acht Länder, die ein entsprechendes Abkommen mit dem Gericht unterzeichnet haben. Davon haben sich bereits sechs Länder bereit erklärt die Strafe zu vollziehen: Belgien, Finnland, Großbritannien, Mali, Österreich und Serbien.

Kontext

Die Demokratische Republik Kongo gehört trotz ihres Rohstoffreichtums zu den ärmsten Staaten der Welt. Nicht erst seit 2002 befindet sich das Land in einem andauernden bewaffneten Konflikt. Insbesondere der reiche Osten ist seit 1996 Schauplatz vielschichtiger Konflikte zwischen bewaffneten Stammesmilizen und Rebellentruppen, einheimischen Regierungssoldaten und ausländischen Armeen wie etwa aus Ruanda und Uganda. Seither kamen über 5 Millionen Menschen ums Leben. Lubangas Miliz werden zahlreiche schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, unter anderem ethnische Massaker, Folter, sexuelle Gewalt, Vergewaltigung und Missbrauch von Mädchen und Frauen als Sexsklaven.

Anklage auf Kindersoldaten beschränkt

Im Fokus des Lubanga-Verfahrens stand die Problematik der Rekrutierung von Kindersoldaten. Der Ankläger beschränkte sich hierbei auf den Tatbestand des Kriegsverbrechens in Form der Eingliederung, Zwangsrekrutierung und Einsetzung von Kindersoldaten in bewaffneten Konflikten. Tatbestände wie sexueller Missbrauch, Vergewaltigung und andere sexuelle Gewaltakte wurden somit von vornherein nicht ins Verfahren aufgenommen. Der Ankläger begründete dies damit, dass die Beweislage allein hinsichtlich der Kindersoldaten hinreichend war. Ein Teilfreispruch im allerersten Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs hätte der Glaubwürdigkeit des Gerichts schaden können. Selbst die Anstrengungen der Opfer, den Anklagegegenstand materiell zu erweitern, brachten keinen Erfolg. Diese Beschränkung der Anklage allein aufgrund gerichtspolitischer Befürchtungen hat zumindest einen faden Beigeschmack.

Neuheit: Verfahrensrechte für Opfer

Die vielfältigen Verfahrensrechte der Opfer in dem Verfahren vor dem IStGH sind eine Neuerung im Völkerstrafrecht. Die Verfahrensordnungen des Internationale Tribunal für Jugoslawien sowie des internationales Tribunals für Ruanda kennen keine gesonderten Opferrechte. Nur Verfahren vor dem Rote-Khmer-Tribunal in Kambodscha („Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia“) sehen auch eine weitreichende Opferbeteiligung einschließlich Entschädigungszahlungen vor. Diese gibt es jedoch lediglich in Form von kollektiven oder ideellen Entschädigungen (moral reparation). Individualentschädigungen sieht auch das Rote-Khmer-Tribunal nicht vor.
Während des Lubanga-Verfahrens vor dem IStGH haben insgesamt 129 Opfer am Verfahren direkt teilgenommen, indem sie unabhängig vom Ankläger Beweise einführen und Zeugen befragen durften. Drei Opfer haben selbst als Zeugen ausgesagt. Zudem existiert mit Artikel 75 des Rom-Statuts die Möglichkeit Entschädigungszahlungen zu beantragen. Die Regelungen des IStGH sind jedoch vielfach noch konkretisierungsbedürftig (vgl. Artikel 68 Rom Statut, Artikel 85 Verfahrens- und Beweisordnung). Es wird erwartet, dass die Entscheidung bzgl. der Entschädigung der Opfer im Lubanga-Verfahren zahlreiche bisher ungeregelte Fragen beantworten wird. Offen ist beispielsweise, wie groß der Kreis der Opfer ist, der berechtigt sein soll Entschädigungen einzuklagen. Im Rahmen des Lubanga-Verfahrens haben mehr als 20 Personen einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Ferner ist klärungsbedürftig, ob eine Kollektiventschädigung gezahlt oder ob jedes Opfer individuell entschädigt werden soll. Mit Spannung wird ferner erwartet, wie die Entschädigungen finanziert werden: Haftet der Verurteilte mit seinem Vermögen? Wird eine Ausfallhaftung bereitgehalten?
Genocide Alert sieht in der Anerkennung eigener Verfahrensrechte für Opfer einen bedeutenden Schritt. Die Position der Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen in Strafverfahren muss dringend gestärkt werden. Das ist entscheidend, weil die Interessen des Anklägers nicht zwingend mit den Interessen der Opfer übereinstimmen. Dieser Interessenkonflikt spiegelt sich im Lubanga-Verfahren in der Beschränkung des Anklagegegenstandes und dem Versuch der Opfer den Anklagegegenstand insbesondere auf sexuelle Gewaltdelikte auszuweiten. Genocide Alert begrüßt daher, dass im IStGH-Verfahren der Stimme der Geschädigten gesteigertes Gehör verschafft wird. Opferrechte müssen einen festen Platz im internationalen Strafverfahren haben, um alle betroffenen Interessen ausreichend zu berücksichtigen, die Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen zu fördern und gesellschaftliche Befriedung voranzutreiben. Besondere Wichtigkeit kommt an dieser Stelle dem Anspruch auf Opferentschädigung zu.

Meilenstein im Völkerstrafrecht

Das Urteil wird als Meilenstein der Völkerstrafrechtsgeschichte und Teilsieg im Kampf gegen Straflosigkeit schwerster Menschenrechtsverletzungen gefeiert. Es belegt die Relevanz internationaler Strafgerichtsbarkeit und untermauert die Existenzberechtigung des Internationalen Strafgerichtshofs. Seit seiner Entstehung wird dem IStGH vorgeworfen, zu langsam und uneffektiv zu arbeiten. Das erste Urteil ist eine deutliche Kampfansage. Spätestens jetzt muss jeder Kriegsverbrecher den Ruf aus Den Haag vernehmen: Schwere Menschenrechtsverletzungen werden verfolgt und bestraft, national und international!

Das Internationale Tribunal für Jugoslawien sowie das internationale Tribunal für Ruanda werden in den nächsten Jahren die letzten Anklagen verhandeln. Charles Taylor, der frühere Präsident von Liberia, wurde im April 2012 vom Sondertribunal für Sierra Leone wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Das Urteil des IStGH im Fall Lubanga bildet einen wichtigen Folgeschritt in Richtung einer effektiven internationalen Strafgerichtsbarkeit. Trotz dieses durchaus positiven Ausblicks besteht aber noch immer Handlungsbedarf. Etliche wegen schwerster Menschenrechtsverbrechen Angeklagte sind noch flüchtig, unter anderen: Bosco Ntaganda – Stellvertreter Lubangas in der UPC –, Omar Al-Bashir, und Joseph Kony.
Zudem kooperieren noch immer nicht alle Staaten mit dem IStGH. Der ist aber auf den Vollzug seiner Anordnungen durch nationale Polizeibehörden angewiesen. Zwar zählt der IStGH 121 Mitgliedstaaten, zu denen auch Deutschland und alle anderen EU-Staaten gehören, die Liste der Nicht-Mitglieder demonstriert allerdings eine schwerwiegende Schwäche: Die politischen Schwergewichte USA, China, Russland sind nicht dabei und auch Indien, Pakistan, Iran, Israel, Syrien, Sudan und Nordkorea lehnen den Gerichtshof ab.

Genocide Alert nimmt das Lubanga-Urteil zum Anlass, weiter darauf hin zu wirken, dass alle Staaten schwere Menschenrechtsverletzungen bekämpfen, verfolgen und bestrafen. Kriegsverbrecher dürfen nirgendwo einen sicheren Hafen finden, in dem sie sich straffrei bewegen können. Vor allem die IStGH-Mitgliedsstaaten müssen sich in Erinnerung rufen, dass der IStGH nur dann effektiv und erfolgreich arbeiten kann, wenn seine Entscheidungen auch national umgesetzt werden. Die international eingerichteten Gerichte haben ihre Arbeit erfolgreich aufgenommen. Nun ist es an den Nationalstaaten ihnen die notwendige Unterstützung zukommen zu lassen. Die Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen aus politischen Gründen muss beendet werden!

Sinthiou Estelle Buszewski

Ein striktes und effektives Waffenhandelsabkommen ergänzt die Responsibility to Protect

von Jamil Balga

Hintergrund

Massenverbrechen werden oftmals erst durch den ungehinderten Zugang der Täter zu Waffen ermöglicht. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass der internationale Waffenhandel nicht reglementiert ist. Das heißt, es gibt auf internationaler Ebene kein Abkommen, was dem Handel mit Waffen konkreten Regeln unterwirft. Und das obwohl jede Minute ein Mensch durch Waffengewalt sein Leben verliert.  Aus diesem Grund fordern Menschenrechtsorganisationen seit Jahrzehnten ein striktes und effektives Waffenhandelsabkommen auf internationaler Ebene. Auch der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan bemängelte in seinem Millennium Report „We the Peoples“ im Jahr 2000, dass es keinen internationalen Vertrag gibt, der den Handel mit Kleinwaffen reguliert und deren Verbreitung eindämmt. Aufgrund der hohen Opferzahlen jährlich, werden Kleinwaffen zu Massenvernichtungswaffen.

Die Vereinten Nationen handeln derzeit ein Waffenhandelsabkommen aus (2.-27. Juli 2012). Ob dieses Abkommen jedoch am Ende auch ein effektives Werkzeug darstellt, um den Waffenhandel jeglicher Art besser kontrollieren und überwachen zu können und somit auch Waffenexporte in Krisenregionen untersagt, ist jedoch fraglich. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass sich die Vereinten Nationen bei den Vorverhandlungen im Februar 2012 auf das Konsensprinzip geeinigt haben. Dies bedeutet, dass jeder Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen ein Veto-Recht hat, da alle Mitgliedsstaaten dem Abkommen zustimmen müssten. Zum anderen lässt im Besonderen die Haltung einiger der größten Rüstungsexporteure darauf schließen, dass ein Waffenhandelsabkommen, falls es zustande kommen sollte, eine sehr verwässerte Form annehmen wird. Russland, der zweitgrößte und China, der sechstgrößte Waffenexporteur gehören zu den Staaten, die ein schwaches Waffenhandelsabkommen favorisieren. Staaten, wie Deutschland (drittgrößter Waffenexporteur), setzen sich zwar für ein striktes Abkommen ein, könnten jedoch von ihrer Position abweichen, wenn die Konferenz zu scheitern drohen sollte.

Ohne Waffenlieferungen keine Massenverbrechen

Ein striktes und effektives Waffenhandelsabkommen würde jedoch dazu beitragen, Massenverbrechen zu verhindern. Auf dem Weltgipfel 2005 haben sich alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen dazu bekannt, dass jeder Staat eine Verantwortung trägt, Massenverbrechen – Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberung – auf seinem Territorium zu verhindern (Primärverantwortung des Einzelstaates). Die internationale Gemeinschaft unterstützt einen Staat hierbei. Kommt ein Staat dieser Verantwortung jedoch nicht nach, weil er dies entweder nicht kann oder nicht willens ist, geht diese Verantwortung auf die internationale Gemeinschaft über (Komplementärverantwortung der internationalen Gemeinschaft). Diese sollte zunächst mit friedlichen und nicht-militärischen Mitteln versuchen, auf die Situation einzuwirken und als letztes Mittel militärisch eingreifen, mit einem Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.

Obwohl die Responsibility to Protect die Möglichkeit einer militärischen Intervention zum Menschenrechtsschutz nicht ausschließt, ist es jedoch wichtig daran zu erinnern, dass das Hauptaugenmerk der Responsibility to Protect auf der Prävention von Massenverbrechen liegt. Und genau hier würde ein striktes und effektives Waffenhandelsabkommen ansetzen. Es würde besonders die präventive Komponente der Responsibility to Protect stärken, da es Waffenlieferungen an ein Regime verbietet, wenn ein konkreter Verdacht bestünde, dass diese Waffen für Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden könnten. Gleichzeitig würde die internationale Gemeinschaft so einen effektiven Beitrag leisten und dem Einzelstaat bei dem Nachkommen seiner Primärverantwortung unterstützen.

Zwar führt das Vorhandensein von Waffen nicht automatisch zu Massenverbrechen. Wenn jedoch die Absicht zu solchen besteht, wird durch unkontrollierte Waffenlieferungen deren Durchführung erleichtert. Auf der anderen Seite würde deren Durchführung ohne Waffenlieferungen erschwert.

Das Waffenhandelsabkommen wäre ein dauerhaftes Waffenembargo

Ein striktes Waffenhandelsabkommen führt zum einen dazu, dass keine Waffen mehr in Krisenregionen exportiert werden dürfen. Hierdurch würden potenzielle Konflikte entschärft und somit Massenverbrechen verhindert. Dies liegt vor allem daran, dass auf längere Sicht gesehen, keine neuen Waffen mehr geliefert würden. Zum anderen müsste die internationale Gemeinschaft nicht mehr warten, bis der UN-Sicherheitsrat ein striktes und bindendes Waffenembargo gemäß Artikel 41 i.V.m. Artikel 39 der UN-Charta erlassen hat, sondern ein Waffenembargo wäre de facto bereits in Kraft. Ein starkes Waffenhandelsabkommen würde nämlich Waffenlieferungen an Regime verbieten, wenn ein konkreter Verdacht besteht, dass die Waffen für Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden könnten. Dass ein solches Waffenhandelsabkommen dringend notwendig ist, beweist die derzeitige Situation in Syrien. Obwohl das Regime seit März 2011 brutal gegen die eigene Bevölkerung vorgeht, ist kein effektives Waffenembargo in Kraft. Der UN-Sicherheitsrat hat sich hierzu bis lang nicht durchdringen können. Russland, der wichtigste Waffenlieferant des Assad-Regimes hat zwar jüngst erklärt, keine neuen Verträge über Waffenlieferungen mit Syrien mehr zu schließen. Bereits beschlossene Waffenlieferungen sind hiervon jedoch nicht betroffen, so dass nach wie vor Waffen aus Russland an Syrien geliefert werden. Wäre ein striktes und effektives Waffenhandelsabkommen jedoch seit März 2011 in Kraft, hätten seit diesem Zeitpunkt auf legalem Wege keine Waffen mehr an Syrien geliefert werden dürfen.

Konventionelle Waffenembargos haben darüber hinaus gewisse Nachteile. Zum einen werden sie erst verhängt, nachdem Waffen bereits geliefert wurden und Gräueltaten stattfinden. Sie erfolgen damit meist zu spät. Ein striktes und effektives Waffenhandelsabkommen würde viel früher greifen. Zum anderen können Waffenembargos auch kontraproduktiv wirken. Wenn, wie z.B. in Bosnien, ein Waffenembargo einen Ausgleich zwischen den Konfliktparteien verhindert, kann ein solches auch Massenverbrechen begünstigen, da den Opfern die Mittel zur Selbstverteidigung fehlen. Ein striktes und effektives Waffenhandelsabkommen würde jedoch Waffenlieferungen in Krisengebiete verhindern, bevor die ersten Überlegungen über ein Waffenembargo angestoßen werden würden. Hierdurch würden den potentiellen Tätern keine Waffen für Massenverbrechen zur Verfügung stehen.

Dass selbst bestehende Waffenembargos die Proliferation von Waffen und die Verübung von Massenverbrechen nicht effektiv verhindern können, beweist auf traurige Weise die Demokratische Republik Kongo. Seit über zwei Jahrzehnten wüten bewaffnete Konflikte im Osten des Landes, denen sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen. Obwohl seit 2003 ein Waffenembargo des UN-Sicherheitsrats in Kraft ist, gelangen Milizen nach wie vor an Waffen. Dies liegt zum einen daran, dass seit 2008 der UN-Sicherheitsrat Waffenlieferungen an die Armee der Demokratischen Republik Kongo erlaubt, obwohl diese ebenfalls Verbrechen an der Zivilbevölkerung verübt. Zum anderen wird der Endverbleib der gelieferten Waffen nicht geregelt, wodurch diese Waffen durch korrupte Einheiten leicht an Milizen weitergegeben werden können, die mit diesen die Bevölkerung im Osten des Landes terrorisieren. Auch ignorieren die Waffenlieferanten der Demokratischen Republik Kongo – wozu China und die USA zählen – die reale Gefahr, dass ihre gelieferten Waffen in die Hände von Milizen geraten und somit einen Beitrag zu Massenverbrechen leisten. Hierdurch wird das Waffenembargo des UN-Sicherheitsrats wirkungslos.  Solche Waffenlieferungen wären durch ein striktes und effektives Waffenhandelsabkommen jedoch nicht möglich. Auch würde ein solches den Endverbleib der Waffen regeln.

Fazit

Da ein striktes und effektives Waffenhandelsabkommen einen Beitrag zur Verhinderung von Massenverbrechen leisten kann und gleichzeitig ein auf Dauer angelegtes effektives Waffenembargo darstellt, fordert Genocide Alert alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen auf, auf die Verabschiedung eines solchen hinzuarbeiten. Im Besonderen wird die Bundesregierung aufgefordert, ihren Einfluss bei den Vereinten Nationen zu nutzen, um darauf hinzuwirken, eine Verwässerung des Vertrages zu verhindern. Unkontrollierte Waffenlieferungen an Regime, die mit diesen Waffen Massenverbrechen verüben können, müssen auf Dauer gestoppt und untersagt werden. Hierdurch würde die Responsibility to Protect gestärkt werden und die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen würden einen wirkungsvollen Beitrag zur Erfüllung ihrer auf dem Weltgipfel 2005 ohne Gegenstimme eingegangen Verantwortung leisten, Massenverbrechen zu verhindern.

von Jamil Balga

Kongo-Experte Christoph Vogel zur Situation im Kongo

 

Genocide Alert: Seit einigen Wochen machen einige hundert Rebellen der sogenannten M23 den Osten des Kongo unsicher und treiben tausende Menschen in die Flucht. Was steckt hinter M23 und welche Ziele verfolgen sie?
Christoph Vogel: M23 ist eine Bewegung, die sich aus desertierten Regierungssoldaten gebildet hat. Der Name kommt vom sogenannten Friedensabkommen vom 23. März 2009 zwischen der Regierungsarmee und der damaligen CNDP. Diese Rebellengruppe unter Laurent Nkunda hat zwischen ca. 2007 und 2009 in Nord-Kivu und teilweise auch in Süd-Kivu versucht, einen eigenen Staat im Staat zu gründen und hätte damals auch fast Goma erobert. Sie setzten sich hauptsächlich aus sogenannten „kongolesischen Tutsi“ zusammen, wie auch jetzt M23.

Das Narrativ, welches M23 für die Rebellion hauptsächlich verwendet, ist, dass das Abkommen vom 23. März nicht umgesetzt wurde. Es beinhaltet als wichtigsten Punkt die Integration der damaligen Rebellen in die Regierungsarmee, umfasst aber auch zahlreiche andere Punkte, wie zum Beispiel Dezentralisierung und mehr Eigenverantwortung für die Kivu-Region, humanitäre Bereiche, sowie zahlreiche andere Zugeständnisse, z.B. Vergabe von Posten an Leute aus dem Osten. Dazu kommt ein zweites Narrativ: Die M23 sieht sich (wie die CNDP damals) als Schutztruppe für die sogenannten „kongolesischen Tutsi“, der ruandischsprachigen Bevölkerungsteile in den Kivu-Provinzen, die sich aufgrund der Konfliktgeschichte und der verschiedenen ethnischen und politische Probleme immer wieder Verfolgungen ausgesetzt sehen. Das sind die beiden offiziellen Narrative, die man bisher erkennen kann.

In den vergangenen Tagen verdichten sich Meldungen von Informanten, dass die M23 gemeinsam mit anderen Deserteuren, verschiedenen Mayi-Mayi Milizen (Yakutumba und Nyatura), sowie Rebellengruppen in Ituri (FPRI /COGAI) und Südkivu (Raia Mutomboki) eine Allianz zu schmieden versuchen. Dies würde die Lage natürlich noch einmal erheblich verändern.
GA: Wie schätzt du mögliche Sezessions- oder Putschabsichten der M23 ein?
CV: Es gibt natürlich einerseits die Befürchtung dass die M23 als eigenständige Gruppe gewisse Territorien in den Kivus, besonders in Nord-Kivu, unter ihre Kontrolle bringen könnte. Das läuft unter der Parole „tukate nchi“ (was auf Kiswahili „Lasst uns das Land zerschneiden!“ bedeutet). Das könnte ein Hinweis sein, dass eine Art Sezession angestrebt wird. Und gleichzeitig gibt es die Gerüchte, dass Ruanda hinter der M23 Rebellion steckt.

Ich halte eine Sezession jedoch momentan für sehr unrealistisch. Im Vergleich zu der Zeit zwischen 1998 und 2003 im „Zweiten Kongokrieg“, als in einigen Regionen tatsächlich eine Art de facto Sezession für ein paar Jahre stattfand ist es mittlerweile so, dass MONUSCO (als Nachfolgemission von MONUC) eine der größten Friedensmission ist, die die UN derzeit hat. Das macht die Sache für die M23 vor Ort ist schwieriger und ich kann mir letztendlich auch nicht vorstellen, dass die führenden Köpfe der M23 eine Sezession wirklich wollen. Schließlich gehören sie zu den Leuten, die die Konflikttopographie im Osten natürlich am besten kennen und genau wissen, dass jeder Sezessionsversuch, selbst wenn er erfolgreich wäre, in neue Probleme münden würde. Das wäre dann von Anfang an ein Kleinstaat, der aus einem riesigen Flickenteppich verschiedener bewaffneter Gruppen und unterschiedlicher politischer Interessen bestehen würde, die auf sehr unterschiedlichen ethno-politischen Narrativen und ökonomischen Interessen basieren würde.
GA: Wie verhält sich Präsident Kabila in dieser Situation?
CV: Die Desertion von Bosco Ntaganda mit einigen getreuen Bataillonen und später von der Gruppe um Sultani Makenga, dem operativen Kommandanten von M23, wurde zum Teil von Kabila provoziert. Kabila hat vor einigen Monaten in Goma eine Rede gehalten, in der er indirekt Bosco Ntaganda zur persona non grata erklärt hat, die Strafverfolgung auf kongolesischer Seite oder eine Festsetzung zu befürchten hätte. Die Rede wurde auf Kiswahili gehalten und in den westlichen Medien zum Großteil falsch übersetzt, nämlich als eine unmittelbare Aufforderung zur Festnahme. Dabei hatte Kabila nur angekündigt, dass eine Verhaftung von Ntaganda jederzeit möglich sei. Das hat natürlich viel Unruhe verursacht und sich letztendlich auch auf die unmittelbare Desertion ausgewirkt. Seitdem war die Rolle der Regierung jedoch eher passiv.

Der Informationsminister hat zwar aktive Propaganda betrieben, um die M23 damit in die Ecke zu drängen. Nachdem der Verdacht aufgekommen ist, dass Ruanda eine wichtige Rolle bei M23 spielen könnte, gab es aber sehr zeitnah diplomatische Bemühungen zwischen den Außenministern der DR Kongo und Ruanda. Ansonsten ist der Präsident selbst relativ still geblieben. Die Gründe dafür kennt man nicht. Es gibt Gerüchte, wonach dies einfach seiner eigenen Führungsschwäche zuzuschreiben ist. Andere Gerüchte besagen, dass Kabila selbst mehr in die Angelegenheit involviert sein könnte als es derzeit scheint. Mitte Juli haben sich er und der ruandische Präsident Kagame am Rande des Gipfels der Afrikanischen Union in Addis Ababa für eine Stunde getroffen und über M23 gesprochen. Bisher ist jedoch nicht bekannt, was genau besprochen wurde.
GA: Bleiben wir bei Ruanda. Kürzlich wurde der Bericht der Expertengruppe der Vereinten Nationen zu der DR Kongo veröffentlicht, in dem sehr detailliert aufgeführt wird, in welcher Weise Ruanda die M23 materiell, logistisch, finanziell etc. unterstützt und damit auch gegen UN-Sanktionen verstößt. Welche Motive verfolgt Ruanda dabei?
CV: Die Berichte der UN Group of Experts gehören seit einigen Jahren mit zu den besten empirischen Quellen, die es zu der Situation in der DR Kongo gibt. Dabei ist es üblich, dass für jedes Faktum, welches im Bericht erscheint drei voneinander unabhängigen Quellen – so gibt es die Methodologie vor – bestätigt werden müssen. Für das aktuelle Addendum zum Zwischenbericht wurde die Methodologie sogar noch einmal verschärft und auf fünf unabhängige Quellen erweitert.

Dabei wurde allerdings von ruandischer Seite kritisiert, dass keinerlei ruandische Quellen befragt wurden. Zusätzlich zu den zivilgesellschaftlichen und privaten Akteuren werden auch immer Informationen aus Armee- und Geheimdienstkreisen in der DR Kongo eingeholt. Jedoch wurden dieses Mal keine Informationen auf ruandischer Seite beschafft. Das sollte man wissen, bevor man die Informationen beurteilen kann.

In Gesprächen mit Mitarbeitern an diesem Bericht durfte ich einige der Beweise, die im Anhang aufgeführt sind, mit eigenen Augen sehen und deren Richtigkeit – außerhalb des Kontextes – überprüfen, besonders hinsichtlich der Telefonanrufe und SMS. Jedoch kann man nicht aus den Telefonmitschnitten schließen, dass zwischen ruandischer Seite und M23 eine Waffenlieferung oder ähnliches beschlossen wurde. Das geben die Beweise nicht eindeutig her. Es ist aber ein offenes Geheimnis, dass bei vorangegangenen Rebellionen immer ein sehr enger Kontakt mit der ruandischen Regierung bestanden hat. Für die ehemalige CNDP beispielsweise ist das erwiesen, aber auch schon im Zweiten Kongokrieg für RCD-Goma.

Es ist kaum mehr von der Hand zu weisen, dass einige der Rekruten der M23 aus Ruanda kamen aber das heißt nicht unbedingt, dass die ruandische Regierung sie aktiv geschickt hat. Es spricht alles dafür, dass Ruanda in irgendeiner Form mitmischt, die Motive bleiben jedoch unklar und es ist bislang nicht endgültig zu beweisen, dass die Rebellion von Ruanda angezettelt wurde.

Ein interessanter Hinweis dazu ist, dass nicht nur „Tutsi“ auf Seiten der M23 sind, sondern zum Teil auch demobilisierte ehemalige-FDLR Kämpfer („Hutu-Milizen“). Das ist sozusagen eine alliance contre nature.
GA: Kommen wir noch einmal auf Bosco Ntaganda zurück. Du sagtest ja bereits, dass er eine der zentralen Rollen bei der Rebellion spielt. Kürzlich gab es ja noch einen zweiten Haftbefehl mit einer erweiterten Anklage beim IStGH gegen Ntaganda. Ntaganda ist im Ostkongo auch einer der größten Profiteure des Ressourcenhandels. Wie würdest du seine Rolle bei M23 beschreiben?
CV: Er ist mit Sicherheit eine zentrale Figur auch aufgrund der Tatsache, dass die Bedrohung Ntagandas durch Kabila letztendlich als Katalysator der Desertationen wirkte. Derzeit sieht es jedoch so aus, dass Ntaganda operativ nur wenig mit M23 zu tun hat. Nach seiner Desertation wurde er zuletzt auf seiner Farm in Masisi gesehen, westlich von Goma, während das eigentliche M23-Stammgebiet ja eher um Rutshuru bzw. Bunagana nordöstlich von Goma liegt. Seit diesem Zeitpunkt ist er aber verschollen. Es gibt Gerüchte, wonach Ntaganda aktives Mitglied von M23 ist, es gibt aber auch solche, die besagen, dass es zwischen den Anhängern von Makenga und denen von Ntaganda interne Streitigkeiten gegeben hat. Man vermutet dennoch, dass Ntaganda von M23 gedeckt wird, allerdings nicht notwendigerweise ein Teil der Rebellion ist.

Vielleicht noch einen kurzen Kommentar zum Haftbefehl, der zu einem absolut brandaktuellen Zeitpunkt kommt. Dabei muss man jedoch beachten, dass sowohl der erste als auch der zweite Haftbefehl sich auf Verbrechen beziehen, die vor dem Ausbruch der M23 Rebellion begangen wurden. Die Anklage ist also nicht direkt auf das bezogen, was aktuell passiert.
GA: Kommen wir nochmal auf den Expertenbericht der Vereinten Nationen zu sprechen, der ja deutlich macht, dass die M23 schwerpunktmäßig im Grenzgebiet DR Kongo/Ruanda/Uganda aktiv ist. Nun hat die M23 einen Marsch auf Goma angekündigt. Was macht deiner Meinung nach die Brisanz dieser Ankündigung aus?
CV: Der Marsch wurde ja bereits mehrfach angekündigt und fast noch häufiger dementiert. Die militärische Führung um Makenga und sein offizieller Sprecher Kazarama haben gesagt, dass M23 nicht auf Goma marschieren wird. Die letzte öffentliche Ankündigung eines Marsches auf Goma kam vom neu ernannten politischen Sprecher, Bischof Runiga, der auch schon damals für die CNDP eine Sprecherfunktion hatte und interessanterweise auch der Schwiegervater von Laurent Nkunda ist.

Was einen Marsch auf Goma betrifft, sollte man beachten, dass die M23 erst vor zwei Wochen zum ersten Mal aktiv Territorien eingenommen hat, nachdem sie bis zu diesem Zeitpunkt die kongolesischen Streitkräfte nur defensiv bekämpft hat. Bunagana und Rutshuru wurden eingenommen und die M23 sind bis vor Kiwanja und Rumangabo in Richtung Goma vormarschiert. Diese Positionen wurden aber sehr schnell wieder aufgegeben, offiziell zumindest. Inoffiziell haben dann Polizeieinheiten, die eher M23 Sympathisanten sind, diese Gebiete wieder übernommen, bevor dann letztendlich die kongolesische Regierung teilweise mit Unterstützung der MONUSCO wieder Boden gut machen konnte. Diese Taktik zeigt, dass die M23 im Moment zwar operativ zwar sehr gut aufgestellt ist – besonders hinsichtlich der Ausstattung mit Waffen und der Fähigkeiten ihrer Streitkräfte – allerdings dürfte es aufgrund der wenigen Kombattanten militärisch für die M23 derzeit nicht möglich sein, Goma einzunehmen, vor dem Hintergrund, dass die kongolesische Regierung mit ihrem Partner, der MONUSCO, ziemlich viele Streitkräfte und auch teilweise schweres Gerät zusammengezogen haben. Trotz der rhetorischen Ankündigungen ist es daher meiner Meinung nach sehr unwahrscheinlich, dass die M23 in den nächsten Tagen oder Wochen auf Goma marschieren wird, es sei denn es würde tatsächlich noch eine Hetzjagd gegen ruandophone Bürger in Goma geben. Das würde die Sachlage noch einmal verändern. In der letzten Woche gab es schon derartige Zwischenfälle.
GA: Was waren das für Zwischenfälle?

CV: Es handelte sich dabei um eine Art Motorradfahrer-Gang, deren Mitglieder in verschiedenen Teilen der Stadt und insbesondere an der Universität von Goma gezielt ruandophone und vor allem junge Männer gestellt und in ihnen vorgeworfen haben, Kollaborateure und Sympathisanten der M23 zu sein. Auf der Basis von sprachlichen und unter Umständen auch physiognomischen Merkmalen wurden die jungen Männer dann in die Mangel genommen, durch die Stadt gehetzt. Einige Ruander bzw. ruandophone Kongolesen mussten über die Grenze nach Ruanda flüchten. Hierzu gibt es einen Bericht des POLE Instituts, man weiß aber nicht genau, wer die Angreifer waren. Höchstwahrscheinlich Kongolesen die die ruandischsprachige Bevölkerung als Bedrohung verstehen oder von einflussreichen Individuen angestiftet wurden. Es gibt aber natürlich auch das Gegengerücht, wonach die ruandophon-kongolesische oder sogar die ruandische Seite selbst die Übergriffe angezettelt haben, um die politische Notwendigkeit zu schaffen, unter Umständen doch in Goma einzumarschieren. Wie so vieles in diesem Kontext ist das nur sehr schwer zu auseinanderzuhalten.
GA: Die Vereinten Nationen befürchten eine Eskalation des Konflikts. In der letzten Woche haben Einheiten der MONUSCO sogar Angriffe auf die Rebellen mit Hubschraubern rund um Goma geflogen. Wie schätzt du die Möglichkeiten externer Einflussnahme ein, um die Zivilbevölkerung zu schützen und den Konflikt womöglich zu beruhigen?

CV: Grundsätzlich gibt es natürlich immer die Möglichkeit, diplomatisch oder militärisch zu versuchen den Konflikt zu lösen. Um mit der diplomatischen Seite zu beginnen: Es gab am 11. Juli ein Sondertreffen der Internationalen Konferenz der Region der Großen Seen auf Außenministerebene um über den Konflikt zu sprechen. Daraus ging eine Erklärung hervor, die unter anderem die Errichtung einer zusätzlichen internationalen neutralen Schutztruppe für die Grenzregion vorsieht und gleichzeitig die Absichtserklärung enthält, positiv auf den Konflikt einwirken zu wollen, um M23 und FDLR zu isolieren und zu eliminieren.

Die Staats- und Regierungschefs der Afrikanischen Union, die ein paar Tage später in Addis Ababa getagt haben, haben diese Erklärung größtenteils mitgetragen. Das sind vielversprechende Zeichen.

Es hat sich in den letzten Jahren aber auch oft gezeigt, dass Ruanda relativ unempfindlich gegenüber der afrikanischen peer pressure ist. Der Erfolg solch diplomatischer Maßnahmen ist daher skeptisch zu betrachten, obwohl es positiv zu werten ist, dass Kongolesen und Ruander sich regelmäßig an einen Tisch setzen und sich unterhalten. Das war auch schon einmal anders.

Auf internationaler Ebene ist es seit Veröffentlichung des Berichts schwierig, weil sich Ruanda sehr in die Enge gedrängt fühlt und letztendlich derzeit auch auf UN-Ebene kaum Diskussionsbereitschaft zeigt. Die kongolesische Regierung hat nach den Vorwürfen bzgl. der Wahlen im letzten Jahr viel Kredit verspielt und zahlreiche internationale Partner vor allem aus Europa und Nordamerika scheinen ein wenig die Lust verloren zu haben, auf der kongolesischen Seite allzu sehr unterstützend tätig zu sein.

Zu den militärischen Optionen ist zu sagen, dass die UN-Mission natürlich angesichts des großen Territoriums und dessen Topographie extreme Schwierigkeiten hat, das Mandat zu erfüllen. Die Hauptaufgabe der UN – der Schutz der Zivilbevölkerung – kann trotz aller Anstrengungen, womöglich auch zum Teil aufgrund von Fehlwahrnehmungen, leider nicht erfüllt werden. Dazu kommt, dass die UN-Mission nach zahlreichen Kollaborationen mit der kongolesischen Regierungsarmee schon seit langem nicht mehr als neutrale, friedensstiftende Kraft perzipiert wird, sondern als Konfliktpartei, die an der Seite der kongolesischen Armee kämpft. Letztere ist in etwa für ähnlich viele Menschenrechtsverletzungen verantwortlich wie die verschiedenen Rebellengruppen. Neben der mangelnden operativen Kapazität schwächt das natürlich auch die Legitimität der Mission. Das wurde Mitte Juli infolge der Helikopterangriffe auf M23 – bei denen anscheinend auch Zivilisten ums Leben gekommen sind – wiederum deutlich.

Was die mögliche Einrichtung einer regionalen Friedenstruppe, falls sie denn zustande kommen sollte, angeht, wird entscheidend sein, welche Staaten beteiligt wären, wie das Mandat ausgestaltet würde und inwiefern die Truppe als legitime Schlichtungseinheit wahrgenommen würde oder nicht.
GA: Siehst du eine aktive Rolle, die Deutschland in dem Fall spielen könnte?
CV: Deutschland ist sicher nicht in der schlechtesten Position, sich gerade hier verstärkt diplomatisch zu engagieren. Es hat als aktives Partnerland sowohl auf kongolesischer als auch auf ruandischer Seite eine solide Position, um möglicherweise als honest broker tätig zu sein – besonders im Vergleich zu Frankreich oder Belgien, die eine ganz andere Geschichte mit den betreffenden Staaten verbindet.

Ich sehe jedoch im Moment auf deutscher Seite nicht das politische Interesse sich verstärkt diplomatisch einzubringen, obwohl es wünschenswert wäre, dass gerade aufgrund der taktisch guten Position Deutschlands, mehr unternommen würde, um auf den Konflikt einzuwirken. Allerdings hat man in den bisherigen Konflikten zumeist beobachten können, dass im Endeffekt die USA oder eben Belgien und Frankreich und regionale Partner stärker engagiert waren als Deutschland.
GA: Herzlichen Dank, Christoph.

Was tun mit der Schutzverantwortung?

Gastbeitrag von Julian Junk und Leon Steinbacher

Die Schutzverantwortung oder „Responsibility to protect“ (oder ganz kurz: R2P) ist mittlerweile nicht mehr nur ein akademisches Modethema. Zerbrachen sich zunächst UN Kommissionen und Staatenlenker über die Verantwortung von Staaten, sowohl ihre eigene Bevölkerung als auch die Bevölkerungen fremder Staaten vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, und mithin über das schwierige Verhältnis zwischen staatlicher Souveränität und internationaler humanitärer Intervention den Kopf, so übernahm kurz danach die Wissenschaft die Debatte: ist die R2P schon eine Norm im völkerrechtlichen Sinne? Ist sie, normativ, ein trojanisches Pferd für militärische Interventionen?

Liberale Optimisten betonen das Potential der R2P zur dauerhaften Beendung von massiven Menschenrechtsverletzungen. Demgegenüber konzipieren kritische Stimmen die R2P oftmals als neoimperialistisches Instrument zur Durchsetzung westlicher Interessen. Seit der breiten internationalen Anerkennung der R2P im Abschlussdokument der UN World Summit 2005 werden diese Fragen in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen und Konferenzen – und bei aktuellen politischen Ereignissen wie in Darfur, in Libyen oder in Syrien auch in der breiten Öffentlichkeit – diskutiert. Aus dem Blick gerät dabei, dass es innerhalb der UN, innerhalb einiger Regionalorganisationen und innerhalb einiger nationaler Parlamente und Regierungen, eine rege Debatte darüber gibt, wie man die R2P „operationalisieren“ oder „mainstreamen“, d.h. wie sie in alle Bereiche der internationalen Politik und Verwaltung in konkrete Handlungsanweisungen überführt werden kann.

Diese Diskussionen wurden bislang in unterschiedlichen akademischen wie praktisch-politischen und praktisch-administrativen Zirkeln geführt. Eine internationale Autoren-Konferenz, die zum Thema „Norms and Practice of Humanitarian Interventions – Operationalizing the Responsibility to Protect“ vom 14. Bis 16. Juni an der Universität Konstanz stattfand (in einer Kooperation zwischen dem dortigen und dem Frankfurter Exzellenzcluster sowie dem Frankfurter Forschungsprojekt „Sicherheitskultur im Wandel“), setzte sich zum Ziel, diese unterschiedlichen Diskussionsstränge in einem Dialog von Wissenschaftlern und Praktikern (bspw. aus der UN-Verwaltung, aus UN-Friedenmissionen oder aus der nationalstaatlichen Diplomatie) zusammenzuführen. Die Mischung aus akademischer und praktischer Expertise erwies sich wie schon bei der Jahreskonferenz des Forschungsprojekts „Sicherheitskultur im Wandel“ als äußerst ertragreich. So standen die konkrete Umsetzungspraxis der R2P innerhalb von UN Friedensmissionen und die Bindungswirkung der R2P für nationale Außen- und Sicherheitspolitik  ebenso im Fokus wie nicht-westliche Perspektiven auf die Schutzverantwortung im Generellen und wie eine Weiterentwicklung  von bislang teleologischen Verständnissen von Normentwicklungen auf internationaler Ebene.

In den Impulsvorträgen des ersten und des letzten Panels ging es zwar eher um theoretische Fragen zur R2P, jedoch wurde in den Diskussionen auch Wert auf die praktischen Herausforderungen, die sich daraus bspw. für UN-Beamte in einer Friedensmission wie im Südsudan ergeben, gelegt . In der Eingangsdiskussion im Rahmen des Themas „Legality, Morality and Institutionalization“ wurde auf diesen drei Ebenen der Status der R2P als Norm diskutiert. Wichtigste Thesen hierbei: Die R2P sei bereits fest verankerter und damit wirkmächtiger Teil des Völkergewohnheitsrechts (allen Unkenrufen des Scheiterns der R2P zum Trotz). Ferner könnte das „Mainstreaming“ der R2P innerhalb der UN Institutionen die Risiken des Flexibilitätsverlustes in der Auslegung der Norm und der Beliebigkeit der Norm gegenüber anderen Mainstreamingprozessen bergen. Im letzten Panel „The Non-Linearity of Norm Emergence and Norm Failure“ wurden Vorschläge zur Theoretisierung und der Normgenese im Fall der R2P gemacht und diskutiert. Dabei wurde intensiv der Frage nachgegangen, ob ein moralisch gerechtfertigter Bruch des Völkerrechts nicht als Teil der Normevolution auch für die R2P erforderlich sein kann oder doch eher zur Erosion völkerrechtlicher Standards beiträgt.

In den Panel II bis IV stand die Umsetzungspraxis der R2P stärker im Mittelpunkt. Die Diskussion des zweiten Panels „Operationalizing the R2P in the Field“ drehte sich um die Frage nach einer Koppelung oder Trennung des Prinzips des Schutzes der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten („Protection of Civilians“ oder PoC) und der R2P in den betroffenen Regionen vor Ort. Interessanterweise scheint die PoC innerhalb des UN Systems als wesentlich operationalisierbarer eingestuft zu werden. Im dritten Panel “The Global Politics of the Responsibility to Protect” ging es um Wirkungen von Mechanismen außerhalb der klassischen militärischen Optionen: um Sanktionsregime und um Mediendynamiken. Panel IV “Foreign Policy and Dilemmata of Operationalizing the R2P” bot einen ertragreichen Einblick in die Perspektiven Chinas und Brasiliens auf die R2P und eine detaillierte Fallstudie über und Kritik an der deutschen Enthaltung im Fall der Resolution 1973. Allgemein kam in diesen Panels immer wieder zur Sprache, dass die R2P eben deutlich mehr ist als tatsächliches oder angedrohtes militärisches Eingreifen – nachhaltige Prävention und Wiederaufbau sind genauso wichtig und werden in unterschiedlichen Öffentlichkeiten in der Welt verschiedentlich betont.

Die Tagung zeigte, dass sich neben allen wichtigen Debatten um die Moralität und die völkerrechtliche Stellung der R2P tatsächlich etwas bei der praktischen Umsetzung der Schutzverantwortung in nationalen Politiken, in der UN Administration in New York und in der Umsetzung vor Ort in Post-Konflikt-Gegenden tut – ein Prozess der von der medialen, wissenschaftlichen wie politischen Öffentlichkeit noch viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Die Beiträge der Tagung werden diese Querschnittsfragen nun in der Überarbeitung aufgreifen und in einem begutachteten Band bei Routledge Publishers auf Englisch veröffentlichen. Einige Beiträge werden schon in Kürze in einem von Christopher Daase und Julian Junk herausgegebenen Sonderheft der Friedens-Warte auf Deutsch erscheinen.

 

Dieser Artikel wurde am 16. Juli bereits beim sicherheitspolitik-blog veröffentlicht.

sipoblog