Die Verantwortung ernst nehmen – der brasilianische Vorschlag einer Responsibility while protecting und die R2P Agenda

Der brasilianische Vorschlag einer Responsibility while Protecting stößt derzeit in Europa auf Skepsis und wird eher als Hindernis für die R2P-Debatte gesehen. Dies ist jedoch eine oberflächliche Betrachtungsweise. Man muss verstehen, dass Brasilien aus einer sehr souvernitätsfreundlichen Position kommt und dass die Intervention in Libyen in Brasilien, aber auch anderswo auf Gegenwind gestoßen ist. RwP ist ein konstruktiver Beitrag zur R2P-Debatte, der von den westlichen Staaten ernst genommen werden sollte. Nur mit RwP sind Länder wie Indien oder Brasilien weiterhin als Unterstützer der R2P zu halten. Zudem zeigt die laufende Debatte, dass die genauen Umrisse von RwP keineswegs fix sind, sondern von Brasilien selbst weiter geprägt werden. In diese Diskussion lohnt es sich einzusteigen. 

von Gerrit Kurtz

Die Vertreter_innen der europäischen Staaten und anderer Regierungen, welche für eine starke Umsetzung des Konzepts der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P) eintreten, fragen sich derzeit, wie sie mit dem brasilianischen Vorschlag einer Responsibility while Protecting (RwP) umgehen sollen. Dies war auch wieder während der jüngsten Debatte zu R2P in der Generalversammlung am 5. September 2012 sichtbar. Viele Regierungen wie z.B. diejenigen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und Deutschlands haben eine skeptische Position gegenüber RwP eingenommen. Sie sehen den Vorschlag als Einschränkung des Handlungsspielraums des Sicherheitsrats bei Krisensituationen, in denen schnelles Handeln zum Schutz von Menschenleben gefragt ist. Dieser Beitrag wird diese Sichtweise versuchen zu entkräften und darlegen, welche wichtigen Chancen der brasilianische Vorschlag für die R2P-Agenda bietet. Dazu werde ich kurz die wichtigsten Elemente der RwP und deren Hintergrund vorstellen, danach auf mögliche Vor- und Nachteile für die R2P-Agenda eingehen und zuletzt einige Politikempfehlungen für die derzeit noch skeptischen Staaten geben.

Hintergrund: die Responsibility while Protecting

Der Vorschlag zur RwP muss in direktem Zusammenhang mit der umstrittenen Intervention in Libyen 2011 gesehen werden. Wie Gareth Evans ausführt, stören sich aufstrebende Länder wie Brasilien, Indien und Südafrika nicht so sehr an der ursprünglichen Bombardierung der Panzer vor Benghazi – schließlich hatten sie sich ja enthalten oder sogar für die Resolution 1973 (2011) gestimmt. Die schon bald folgende Forderung, dass der Schutz von Zivilisten nur durch einen Regimewechsel in Tripolis zu haben sei, und Paris’, Londons und Washingtons Hinweis, erst dann den militärischen Einsatz beenden zu wollen, führte jedoch zu Verstörungen. Diese Verlautbarungen fielen auf den fruchtbaren Boden der alten Ängste, dass „humanitäre Interventionen“ letztlich doch nur ein Instrument der starken Mächte zur Durchsetzung ihrer imperialen Interessen sei.

Bei RwP handelt es sich um eine Reihe von Prinzipien, die hauptsächlich zwei Themen berühren: zum einen Begrenzungen der Rolle der Anwendung militärischer Gewalt durch den Sicherheitsrat und zum anderen eine verstärkte Überwachung und Rechenschaftspflichtigkeit bei der Umsetzung von Einsätzen zur Friedensdurchsetzung durch einzelne Staaten oder Staatengruppen. Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff hatte in ihrer Rede im Rahmen der Generaldebatte der Generalversammlung 2011 darauf Bezug genommen:

Much is said about the responsibility to protect; yet we hear little about responsibility in protecting. These are concepts that we must develop together.

Im November 2011 brachte Brasilien ein Konzeptpapier ein, welches im Februar 2012 bei einem informellen Workshop Brasiliens in New York von Vertretern von Staaten und der Zivilgesellschaft diskutiert wurde. Das Konzeptpapier ist bislang die einzige konkrete Darstellung von RwP. Es betont die “politische Unterordnung und chronologische Sequenzierung” der drei Säulen von R2P und legt großen Wert auf die Tatsache, dass auch militärische Einsätze zum Schutz von Menschenleben im Rahmen der R2P selber zivile Opfer verursachen und möglicherweise sogar zur Verschlimmerung eines Konfliktes beitragen können. Wie genau Sequenzierung zu verstehen ist, wird nicht genannt.

Die Begrenzungen der Gewaltanwendung, die in dem Papier genannt werden, beziehen sich auf klassische Kriterien aus der Tradition des „Gerechten Krieges“ in der politischen Philosophie, wie sie auch in verschiedenen Reformberichten erwähnt wurden, wie z.B. Kofi Annans „In Larger Freedom“ Bericht von 2005 (Absatz 126). Es handelt sich um Prinzipien wie einem Vorrang für Prävention, die Autorität des Sicherheitsrates (und „in besonderen Umständen“ sogar die Autorität der Generalversammlung unter einer „Uniting for Peace“ Resolution), die Verhältnismäßigkeit der Mittel sowie eine Aussicht auf Erfolg im Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln.

In Bezug auf stärkere Überwachungs- und Rechenschaftsmechanismen bleibt der Vorschlag sehr vage und erwähnt nur „bessere Verfahren…, um die Art und Weise der Interpretationen und Umsetzung von Resolutionen zu überwachen und zu bewerten“.

Vor- und Nachteile von RwP für die R2P Agenda

Der Hauptvorteil des brasilianischen Vorschlags liegt in seinem konstruktiven Beitrag zu der Debatte zu R2P. Es ist ein Vorschlag zur weiteren Entwicklung des Konzepts, der gleichzeitig das Niveau der Debatte zu militärischen Einsätzen steigern könnte, indem es eine ausführliche und systematische Begründung von Interventionen einfordert. Das Risiko, dass die genannten Kriterien eher als „Ausrede für Nicht-Handeln“ genutzt werden, wie z.B. von Frankreich befürchtet, scheint dabei gleichzeitig gering zu sein, insbesondere angesichts der laufenden Weiterentwicklung des Inhalts des Konzepts durch Brasilien.

R2P selbst war ein großer Schritt in Richtung einer konsensfähigeren Sprachregelung, weg vom „Recht zur Intervention“, das u.a. vom Gründer von Médecins sans Frontières (MSF) und früheren französischen Außenminister Bernard Kouchner, vorangetrieben wurde. Doch das französische Außenministerium wirbt heute noch damit, dass R2P „das Erbe“ dieses umstrittenen Konzepts sei. Entsprechend stößt die RwP bislang auf große Zustimmung bei vielen R2P-skeptischen Ländern wie z.B. Indien. Dies mag auch dadurch erleichtert werden, weil der Vorschlag von einem „insider proponent“ (Acharya 2004: 248), einem Mitglied einer Gemeinschaft ähnlich orientierter Staaten (z.B. unter dem Label der BRICS), kommt. Brasilien hat bei diesen Staaten eine andere Glaubwürdigkeit als z.B. Kanada, welches das ursprüngliche R2P-Konzept mit der International Convention on Intervention and State Sovereignty vorangetrieben hatte.

Der Fokus von RwP auf der Verhinderung eines erzwungenen Regimewechsels macht es auf der anderen Seite unwahrscheinlicher, dass der Sicherheitsrat eine Resolution verabschieden wird, in der explizit ein politischer Wechsel im Zusammenhang mit einer militärischen Intervention gefordert wird. Nicht zuletzt ist der Resolutionsentwurf, der das Kommunique der Action Group on Syria am 19.07.2012 bestätigen sollte, durch russisches und chinesisches Veto gescheitert. In dem Entwurf wurde explizit auch die Einsetzung einer Übergangsregierung gefordert, die allerdings Mitglieder der gegenwärtigen Regierung hätte enthalten dürfen. Weil Russland und China als Teil der Action Group vorher dem zugestimmt hatten, war die Frustration von Kofi Annan groß – später nannte er diese Situation als Wendepunkt für seine Entscheidung, von seinem Amt als gemeinsamer Sondergesandter der Vereinten Nationen und der Arabischen Liga für Syrien zurückzutreten.

Wenn einzelne Staaten die Kriterien von RwP vorschieben sollten, um entschiedenes Handeln zu verhindern und darauf pochen, dass noch nicht alle friedlichen Mittel ausgeschöpft seien, so wird das keineswegs ein neuer Vorwurf sein. Dabei ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass sich gerade hier Brasiliens Position weiterentwickelt hat. So vertrat es in der jüngsten R2P Debatte folgende Ansicht:

Sequencing between the three pillars of R2P should be logical, based on political prudence. It does not mean the establishment of arbitrary check-lists.

Gareth Evans betont ebenfalls diese diskursive Offenheit in seiner jüngsten Rede nach Gesprächen mit brasilianischen Offiziellen. Diese Entwicklung zeigt deutlich, dass westliche Staaten die Aufforderung Brasiliens zu mehr Diskussion ernst nehmen sollten.

Was ist zu tun?

RwP wird nicht von der Bildfläche verschwinden, sondern sich weiter entwickeln. Wenn westliche Staaten ein Interesse an der Aufrechterhaltung der R2P Agenda haben, sollten sie sich bemühen, diese Diskussion aktiv und konstruktiv zu prägen.

Sie sollten RwP als konstruktiven Vorschlag ansehen, welcher eher das Ziel hat, R2P zu retten und nicht zu zerstören. Das ist auch das Ergebnis einer aktuellen Umfrage unter zivilgesellschaftlichen Organisationen durch die International Coalition on the Responsibility to Protect (ICRtoP).

Weiterhin sollten Staaten ihre Argumentation für R2P auf moralische und politische Gründe fokussieren. Obgleich Prävention stärkere Berücksichtigung finden sollte, darf die Notwendigkeit einer ausgeglichenen Abwägung von Gründen und die vorgeschlagene „Sequenzierung“ nicht zu einer Verzögerung notwendiger Einsätze führen. Der frühe Einsatz robuster Mittel wie eines Verweises der Situation an den IStGH oder der Einsatz einer Fact-Finding Mission müssen für eine glaubwürdige R2P realistische Optionen bleiben. Genauso muss die Abwägung im Sinne der genannten Kriterien immer die Dringlichkeit der Situation berücksichtigen. Als der Völkermord in Ruanda ausgebrochen war, starben täglich tausende von Menschen. Mitte März 2011 hatten die Panzer und Flugwaffe Gaddafis bereits mit der Umzingelung und dem Beschuss von Benghazi begonnen. Mögliche Kriterien sollten immer die politische Konsensfindung erleichtern, nicht den Weg effektiven Handelns verstellen.

Gleichzeitig können westliche Nationen die symbolischen Konsequenzen der konstruktiven Berücksichtigung von RwP durchaus verkraften. Obgleich der Vorschlag Brasiliens als versteckte Kritik an der Libyen-Intervention zu verstehen ist, ist das Konzept nicht so stark mit der (von Brasilien und anderen empfundenen) Mandatsüberschreitung der NATO-geführten Koalition verbunden, dass eine Auseinandersetzung bedeuten würde, von bereits getroffenen Interventionsentscheidungen zurückzutreten. Vielmehr wäre eine Betonung der konstruktiven Punkte und eine wahrhafte Argumentation für eine aktive R2P Agenda auf dieser Grundlage im eigenen Interesse der westlichen Staaten. Damit könnten diese einerseits das Fundament der Schutzverantwortung stärken als auch schwankende Staaten wie Brasilien und Indien vollständig ins Boot holen.

 

Gerrit Kurtz ist derzeit Gastwissenschaftler in Delhi, wo er sich mit Indiens Position in der R2P-Debatte beschäftigt. Er hat gerade seinen Master in Internationale Beziehungen in Berlin und Potsdam abgeschlossen. Im Vorstand des Jungen UNO Netzwerks leitet er die Arbeitsgruppe Junge UN-Forschung, welche Nachwuchswissenschaftler_innen der UN Studies zusammenbringt.

 

Dieser Artikel erschien erstmals am 25.09.2012 auf dem Blog „Junge UN Forschung“ – dem Blog der AG Junge UN Forschung des Jungen UNO Netzwerks Deutschland e.V.