Das RtoP-Bewusstsein in Deutschlands Zivilbevölkerung

von Julian Rössler

Die Finanz-, Euro- und Wirtschaftskrise hat im letzten Jahr Teile der politisch interessierten Bevölkerung aus ihrer Wohlstandslethargie gerissen und zur Blockupy-Bewegung formiert. In noch weit stärkerem Maße sind die Proteste der Indignados in Madrid und der Bevölkerung in Griechenland ausgefallen. Daneben wurde nicht zuletzt von der Zeitschrift Times 2011 als Jahr der Revolution proklamiert, womit in erster Linie auf den arabischen Frühling Bezug genommen wurde. Doch auch in mikropolitischen Fragestellungen scheint das politische Bewusstsein der Bevölkerung gewachsen – gerade in Deutschland. Über Monate kamen tausende Menschen zu Montagsdemonstrationen gegen das Stuttgart 21 Projekt. Im Februar 2012 demonstrierten mehr als 50.000 Menschen in Deutschland gegen das Anti-Piraterie Abkommen „Acta“. Zum Jahrestag der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima gingen zehntausende Deutsche in vielen Städten auf die Straße.

So positiv diese politische Partizipation junger Menschen jenseits von Partei und Wahlen ist, so zeigt der Fall Syrien dennoch, wie beschränkt das politische Bewusstsein ist. Während nach einhelliger Meinung davon ausgegangen wird, dass das syrische Regime, und anscheinend auch Teile der Opposition, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen und damit die schwersten Massenverbrechen vorliegen, so ruft dies doch keine erkennbare Entrüstung oder allgemeine Empörung in der deutschen Zivilgesellschaft hervor. Zwar wurden auch im Frühjahr Demonstrationen in Berlin gegen die Vorgehensweise des syrischen Regimes abgehalten, von einem Protest, der ein klareres Verhalten sowohl der deutschen Bundesregierung als auch der internationalen Staatengemeinschaft fordert, ist jedoch nichts zu sehen. Die Globalisierung hat zwar eine engere Verflechtung der Welt hervorgebracht, den Einzelnen scheint das Ausland dennoch nur dann zu interessieren, wenn es einen Bezug auf sein geregeltes „Wohlstandsleben“ in Deutschland gibt. Reine Menschlichkeitsbelange scheinen für eine Betroffenheit, die nach außen manifestiert wird, nicht auszureichen. Dabei betreffen uns die Massenverbrechen in Syrien oder anderswo stärker als gemeinhin angenommen. Durch die Anerkennung der Schutzverantwortung, der Responsibility to Protect, durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 2005 hat auch der deutsche Staat die Pflicht übernommen, Massenverbrechen, wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnische Säuberungen, zu verhindern – und dies nicht allein in deutschem Hoheitsbereich, sondern überall auf der Welt. Die dreiteilige Schutzverantwortung beinhaltet zwar zunächst die Pflicht in den eigenen nationalen Grenzen diese Massenverbrechen zu verhindern. Daneben besteht jedoch auch die Pflicht, bei Bestehen solcher Verbrechen in anderen Staaten, Beihilfe zu leisten, um diese Verbrechen zu beenden und am Wiederaufbau mitzuwirken, um zukünftige Massenverbrechen zu verhindern. Der Schutzverantwortung, welche 2005 von der Generalversammlung verabschiedet wurde und auf die sich der Sicherheitsrat in seiner Libyen-Resolution 1973 im letzten Jahr bezog, wird zwar teilweise die völkerrechtliche Verbindlichkeit abgesprochen, da Resolutionen der Generalversammlung nicht bindend seien und allein moralische Verpflichtungen statuieren. Dennoch erscheint die mehrmalige Erwähnung der Schutzverantwortung in Resolutionen des Sicherheitsrats  auf eine Etablierung der RtoP als allgemeines Rechtsprinzip oder Gewohnheitsrecht hinzuweisen. Die Entstehung von Gewohnheitsrecht kann völkerrechtlich nur dann entstehen, wenn Staaten über einen längeren Zeitraum eine bestimmte Handlung mit Rechtsüberzeugung vornehmen und diese als verbindlich sehen. Gerade weil wir inmitten des Etablierungsprozesses der Schutzverantwortung als völkerrechtlich bindendes Prinzip stehen, erscheint das Beharren auf diese Norm umso wichtiger.

Was die Durchsetzung der Schutzverantwortung nicht nur in der deutschen Außenpolitik sondern vor allem auch in der Zivilgesellschaft bremst, ist die fehlende Verbindung der deutschen Geschichte und den daraus verbundenen Pflichten mit der Schutzverantwortung. Spätestens seit Joschka Fischers Zeit als Außenminister nimmt die Maxime „Nie wieder Auschwitz“ eine prägende Rolle in der deutschen Außenpolitik ein. „Nie wieder Auschwitz“ stellt die besondere Verantwortung Deutschlands dar, die nicht nur im Auswärtigen Amt sondern auch in der Zivilgesellschaft Anerkennung fand. Während vor dem NATO-Einsatz im Kosovo Demonstrationen sowohl gegen eine militärische Intervention als auch für ein Handeln Deutschlands zur Wahrnehmung seiner internationalen Verantwortung im Kosovo stattfanden und so ein weitreichender Diskurs stattfand, fehlt ein solcher Diskurs jedoch in anderen Fällen, in denen Deutschland seiner Schutzverantwortung nachkommen müsste. Die Vorgänge im Kongo oder Mazedonien wurden, wenn überhaupt, alleine in akademischen Kreisen untersucht, das Handeln Deutschlands in diesen Konfliktherden wurde jedoch nicht auf breiter Ebene gesellschaftspolitisch analysiert. Eine gesellschaftliche Diskussion über eine besondere Verantwortung Deutschlands in der Außenpolitik findet zwar bei Fragen von Rüstungsexporten nach Israel oder Bahrein statt, die „Schutzverantwortung“ fristet in den Diskussionen dagegen immer noch ein Schattendasein.

Dabei stellt die Anerkennung der Schutzverantwortung 2005 die Konstituierung des „Nie wieder Auschwitz“ auf internationaler Ebene dar. In gleicher Weise, wie Ende der 90er Jahre ein Ende der serbischen Massenverbrechen unter Verweis auf „Nie wieder Auschwitz“ gefordert wurde, müsste heute folglich die Beendigung von Massenverbrechen unter Hinweis auf die Schutzverantwortung verlangt werden. Dennoch ist die Schutzverantwortung noch nicht in den Köpfen der Bürger angelangt. Die Enthaltung Deutschlands bei der Libyen-Resolution im letzten Jahr hatte zwar zumindest in der Tagespresse und in akademischen Kreisen für Aufruhr gesorgt, eine Auseinandersetzung mit dieser Frage auf Wählerebene fehlte dagegen. Während in den Vereinigten Staaten eine lautstarke NGO-Gemeinschaft wächst, die sich für dieses Thema engagiert, Politiker anschreibt und durch Veranstaltungen hunderttausende von Menschen erreicht, haben es sich in Deutschland lediglich ein paar wenige Organisationen wie insbesondere die Nichtregierungsorganisation Genocide Alert e.V. zur Aufgabe gemacht, das allgemeine Bewusstsein für die Verpflichtungen, die sich aus der Schutzverantwortung ergeben, zu sensibilisieren.

Um dies zu ändern, müssten die Hauptgründe für das fehlende Bewusstsein der Schutzverantwortung in der Zivilgesellschaftgeändert werden. Zum einen betont das Auswärtige Amt zwar in seinen Stellungnahmen und auf Veranstaltungen zur RtoP die Bedeutung dieses Prinzips, dennoch wurde bisher kein Verantwortlicher im Amt allein für die Schutzverantwortung abgestellt, der bei den internationalen Treffen der nationalen RtoP-Focal Points teilnimmt wie es die Vertreter anderer Staaten wie Dänemark, Frankreich, Costa Rica oder Ghana tun. Die jüngste Ankündigung der Bundesregierung im Rahmen des informellen interaktiven Dialogs der Generalversammlung einen solchen RtoP-Focal Point einzurichten ist zwar zu begrüßen. Wie schnell dies umgesetzt wird und welche Befugnisse dieser haben wird, wird sich aber erst zeigen müssen. Vor diesem Hintergrund verwundert es weniger, dass in der Zivilgesellschaft das Bewusstsein im Hinblick auf die effektive Umsetzung der Verpflichtungen aus der Schutzverantwortung fehlt, solange auch in offiziellen Stellen die Norm nicht als zentrales Element der Außenpolitik verstanden wird.

Zum anderen erscheint es verständlich, dass ein Einsatz von Soldaten mehr Entrüstung aufwirft als der Nicht-Einsatz. Eine Demonstration für den Einsatz von deutschen Soldaten in Syrien erscheint nur schwer vorstellbar. Dennoch, nach der Aufdeckung der Massaker in Bosnien und Ruanda in den 90er Jahren wurde die Empörung über das Nicht-Handeln der westlichen Staaten in der Zivilbevölkerung lautstark vorgetragen. Auch wenn diese Empörung im Moment im Hinblick auf den syrischen Bürgerkrieg noch fehlt, so muss den Bürgerinnen und Bürgern dennoch die Verbindung der Forderung „Nie wieder Auschwitz“ mit der Umsetzung der Schutzverantwortung, notfalls auch mit militärischen Mitteln, vermittelt werden.

Eine stärkere Verankerung der Schutzverantwortung in der Zivilgesellschaft würde dazu führen, dass Deutschland seine außenpolitische Position stärker für die Durchsetzung der Anerkennung der Schutzverantwortung in anderen Staaten einsetzt. Deutschland verpasst im Moment die Möglichkeit, seine starke Rolle im internationalen Staatengefüge, die sich insbesondere aus der Meisterung der Wirtschafts- und Finanzkrise ergeben hat, dazu zu nutzen, in Fragen des Menschenrechtsschutzes eine Vorreiterrolle einzunehmen und insbesondere bei Schwellen- und Entwicklungsländern um Vertrauen für eine Implementierung der RtoP zu werben. Um hier Druck auf die Regierung aufzubauen, muss ein zivilgesellschaftlicher Diskurs über die Durchsetzung der Schutzverantwortung geführt werden.

Es wird Zeit, dass die deutsche Zivilbevölkerung aus ihrer Lethargie erwacht und das wieder entdeckte politische Bewusstsein auch gegen die Verletzung fundamentaler Menschenrechte und Rechtsprinzipien einsetzt.

von Julian Rössler