Ein trauriger Irrtum – Die Linkspartei und die Schutzverantwortung
Deutlich wird dieser Irrtum auch in ihrer Haltung zur Schutzverantwortung. Die jüngsten innerparteilichen Diskussionen zeigen zwar, dass es hier zumindest Hoffnung auf eine differenziertere Positionierung gibt. Letztendlich sind jedoch diejenigen Stimmen nach wie vor lauter, welchen das reine Dogma schwerer wiegt als ein Massengrab.
Erfreulich ist ebenfalls, dass in dem Papier auch die erste und dritte Komponente – die Verantwortung zur Prävention und zum Wiederaufbau – als Teil der RtoP zur Kenntnis genommen werden – was in der Auseinandersetzung mit der Schutzverantwortung allzu oft, und nicht nur von Seiten der Linkspartei, vergessen wird.
Ist nun also auch in der Linkspartei der Weg zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Schutzverantwortung frei? Werden sich am Ende gar diejenigen durchsetzen, welche bereit sind, im Angesicht eines Völkermordes auch mal ein Dogma hintenanzustellen? Vorerst wohl nicht. Denn die Dogmatiker melden sich gleich umso lauter zu Wort. Und zwar so laut und grell, dass man nur noch mit dem Kopf schütteln kann. Die bloße Erwähnung der RtoP reich dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Linken, Jan van Aken, in dem differenzierten Papier seiner Parteigenossen vor allem eins zu sehen: „eine Kampfschrift für militärische UN-Interventionen“, letztendlich gar eine „Militäreinsatz-Propaganda“.
Sein Argument gegenüber der Sanktionierung militärischer Zwangsmaßnahmen durch den UN-Sicherheitsrat lautet: „die Kriterien sind butterweich, unklar definiert und können sehr weit ausgelegt werden.“ Und weiter: „Was z. B. als „massenhafte systematische Menschenrechtsverletzung“ gilt, darüber entscheiden vor allem Machtinteressen und massive Medienkampagnen. Rein formal sind auch die Sanktionen gegen Hartz-IV-Betroffene, die das Existenzminimum wegkürzen, ‚massenhafte systematische Menschenrechtsverletzungen‘.“ Van Aken hat recht, massenhafte systematische Menschenrechtsverletzungen gibt es leider zu genüge. Deren Grausamkeit mit Hartz-IV gleichzusetzen, kann man nur als eine geschmacklose Verunglimpfung der Opfer verurteilen. Und dennoch: Überall dort militärisch zu Intervenieren, wo Menschenrechte verletzt werden ist keine sinnvolle Option. In diesem Punkt ist Van Aken zuzustimmen.
Nur: Diese Argumentation verfehlt an dieser Stelle vollständig und zeugt von einen fundamentalen Missverständnis des Konzepts der Schutzverantwortung. In ihr geht es nicht um Menschenrechtsverletzungen per se. Lediglich Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen unter die Schutzverantwortung. Van Aken sollte wissen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit etwas anderes sind, als Menschenrechtsverletzungen. So schwierig es im Einzelfall auch sein mag, zu entscheiden, wann das Ausmaß erreicht ist, welches ein Eingreifen notwendig macht – butterweich sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit wohl kaum – und bei Hartz-IV sollte es für eine Intervention nach diesen Kriterien sicherlich nicht reichen. Schlimmer noch: Wieder einmal wird der Kernpunkt des Konzeptes der RtoP verkannt: Es geht darin nicht nur darum, Wege zu finden, um derartige Massenverbrechen vorzubeugen und in akuten Situationen zu unterbinden. Es ging in der Entwicklung der Schutzverantwortung von Anfang an vor allem darum, in der Debatte um die Willkür eines „Rechts zur humanitären Intervention“ eine Alternative zu bieten, welche sich einem möglichen Missbrauch verschließt.
Man muss sich fragen, ob dieses Missverständnis lediglich auf Unwissenheit beruht, was verwundern würde, oder ob eine bewusste Täuschung über das Konzept der Schutzverantwortung gewollt ist – es ist immerhin auch ganz praktisch, sich in dem Selbstverständnis als der „einzigen echten Friedenspartei“ gegenüber den „Kriegstreibern“ von SPD und Grünen im linken Lager abgrenzen und dies wahltaktisch Ausschlachten zu können. Bleibt die Frage, ob man lieber über Leichen gehen würde, als für die Verhinderung eines Völkermordes einen Populismus aufzugeben? Es ist zu hoffen, dass die Genossen um André Brie den Mut haben, sich den Kriegstreibervorwürfen aus der eigenen Partei zu stellen und mit unbequemen Fragen in Sachen Menschenrecht vielleicht auch einmal innerhalb der Linkspartei ein Störfeuer zu entfachen.
Christoph Schlimpert