Interview mit Heidemarie Wieczorek-Zeul zur Schutzverantwortung

„Wir dürfen niemals vergessen, weshalb das Konzept der Schutzverantwortung von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde.“

20.03.2012

Nach der Enthaltung der Bundesregierung bei der Sicherheitsresolution zur Libyen-Intervention im letzten Jahr, kritisierte Heidemarie Wieczorek-Zeul die Bundesregierung scharf und erinnerte im Bundestag eindringlich an das Prinzip der  Schutzverantwortung. Im Interview mit Genocide Alert geht die SPD Abgeordnete und Bundesministerin a.D. für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit der Bundesregierung hart ins Gericht und erklärt warum sie die Schutzverantwortung für so wichtig hält und welche Schritte die Bundesregierung im Fall Syrien unternehmen sollte.

Genocide Alert: Sie haben sich vielfach öffentlich und im Bundestag für die Responsibility to Protect stark gemacht. Es gibt jedoch auch innerhalb SPD unterschiedliche Meinungen zur Norm der Schutzverantwortung. Was ist ihr wichtigstes Argument, mit dem Sie Kritiker in Ihrer Partei von der Schutzverantwortung überzeugen wollen?

Heidemarie Wieczorek-Zeul mdB und Bundesministerin a.D. (Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)

Heidemarie Wieczorek-Zeul mdB und Bundesministerin a.D. (Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)

Frau Wiezczorek-Zeul: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich massive und systematische Menschenrechtsverletzungen wie in Srebrenica und Ruanda niemals wiederholen. Aus diesen Erfahrungen heraus hat sich die internationale Gemeinschaft auf eine Verantwortung zum Schutz aller Menschen verständigt. Demnach haben Staaten die Primärverantwortung, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, systematischer Gewalt gegen Minderheiten und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Können oder wollen sie dies nicht, geht diese Verantwortung auf die Staatengemeinschaft über, die dann entsprechende Maßnahmen, zunächst präventiver Natur, vornehmen kann. Wir dürfen niemals vergessen, weshalb das Konzept der Schutzverantwortung den Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde.

Genocide Alert: Anlässlich der Debatte zum Libyeneinsatz haben Sie im Bundestag gesagt, dass Deutschlands Enthaltung zur UN-Resolution 1973 eine Schande sei. Andere Fraktionskollegen haben sich nicht weiter zu dieser Debatte positioniert oder sich grundsätzlich hinter die Linie der Bundesregierung gestellt. Warum war es für die SPD so schwierig, sich auf eine einheitliche Haltung zur Libyenintervention zu einigen? Wie haben Sie die internen Debatten innerhalb der SPD-Fraktion wahrgenommen, und welche Rolle hat die Schutzverantwortung in diesen Diskussionen gespielt?

Frau Wiezczorek-Zeul: Einen militärischen Einsatz zur Schutzverantwortung zu beschließen, ist nicht leicht. Auch nicht, wenn es sich wie im Falle Libyens um eine Flugverbotszone ohne Einsatz von Bodentruppen handelte. Ein solcher Einsatz muss also sorgsam abgewogen werden. Mein Eindruck war, dass manche Kolleginnen und Kollegen und ganz sicher auch die gesamte Bundesregierung bisher das Konzept der Schutzverantwortung in seiner völkerrechtlichen Bedeutung nicht wirklich verstanden hatten. Die Bundesregierung handelte auch aus taktischen Überlegungen angesichts anstehender Regionalwahlen in Deutschland. Was Libyen anbelangt deuteten alle Zeichen darauf hin, dass Gaddafi Massaker gegenüber der eigenen Bevölkerung begehen würde. Die Rachedrohungen von Gaddafi gegen die Bewohner Bengasis sind mir noch in grausiger Erinnerung. Daher finde ich die Erklärung der Bundesregierung bei ihrer Stimmenthaltung nicht in eine militärische Auseinandersetzung hineingezogen werden zu wollen, ungeheuerlich. Die Bundesregierung hat sich im Jahr 2005 zu der Schutzverantwortung bekannt. Es drängt sich einem der Verdacht auf, dass der genannte Grund vorgeschoben ist. Die Bundesregierung hat mit ihrem Verhalten dazu beigetragen, dass Deutschland außenpolitisch an Ansehen eingebüßt hat.

Genocide Alert: Wie haben Verlauf und Ausgang der Libyenintervention seitdem die Debatte über die Schutzverantwortung in Partei und Parlament beeinflusst? Hat die Kritik der Opposition und Medien an der Libyen-Position der Bundesregierung Verständnis und Unterstützung für die Norm eher gestärkt oder geschwächt?

Frau Wiezczorek-Zeul: Meines Erachtens hat sie das Verständnis für die Norm der Schutzverantwortung gestärkt und ins Bewusstsein der Bevölkerung und der politisch Handelnden gerückt.

Genocide Alert: Ihr Fraktionskollege Dr. Rolf Mützenich wurde in der Libyen-Debatte von Seiten der Linkspartei als “größter Kriegstreiber” im Parlament bezeichnet, nachdem er die Enthaltung der Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat kritisiert hat. Der Vorwurf der LINKEN dürfte Ihnen in gleicher Weise gelten. Wie gehen Sie als exponierte SPD-Linke und mit dem Vorwurf der Kriegstreiberei um? Wie bewerten Sie die strikte Ablehnung der LINKEN in Bezug auf die Schutzverantwortung und Bundeswehrauslandseinsätze?

Frau Wiezczorek-Zeul: Der Vorwurf ist absurd und zielt auf bloßen populistischen Geländegewinn zu Lasten der Menschenrechte ab. Eines ist klar: Ein militärisches Vorgehen sollte niemals leichtfertig begonnen werden. Aber genau das sieht die Responsibility to Protect auch nicht vor. Sie beinhaltet zuallererst eine Verantwortung zur Vermeidung von systematischen und massiven Menschenrechtsverletzungen. Erst in einem letzten Schritt und bei Versagen diplomatischer Bemühungen sollen militärische Maßnahmen erwogen werden. Die Kommission zur Intervention und Staatensouveränität legt weitere Kriterien in Bezug auf eine militärische Intervention fest. Demnach sollte sie eine realistische Erfolgschance haben, unter Anwendung proportionaler Mittel geschehen und in ihrer Konsequenz mehr nutzen als schaden. Die Haltung regionaler Organisationen muss berücksichtigt werden und eine Autorisierung derartiger Operationen sollte durch den UN-Sicherheitsrat geschehen. All das war in Libyen gegeben.

Genocide Alert: Das Berliner Grundsatzprogramm der SPD von 1989 sprach noch davon, dass die deutschen Streitkräfte „ausschließlich der Landesverteidigung zu dienen haben“ und ihr Auftrag die „Kriegsverhütung durch Verteidigungsfähigkeit bei struktureller Angriffsunfähigkeit“ sei. Seitdem hat sich viel geändert. Wie hat sich das Leitbild sozialdemokratischer Friedenspolitik in den letzten zwei Jahrzehnten verändert? Kann man als Friedens- und Menschenrechtsaktivist noch SPD wählen?

Frau Wiezczorek-Zeul: Wir stehen heute mehr denn je vor dem Problem, dass sich umfassende Sicherheit nur gemeinsam erreichen lässt. Sie muss über nationale und regionale Grenzen hinaus gedacht werden. Es kann uns nicht kalt lassen, was in Afghanistan, im Irak oder anderswo geschieht, da es sich unmittelbar auf die Sicherheit und den Frieden in unserem Land auswirken kann. Wir Sozialdemokraten sind uns der Verantwortung Deutschlands für den Frieden in der Welt bewusst, lehnen aber Angriffs- und Präventivkriege wie dem Irakkrieg ab. Ein militärischer Einsatz zum Schutz von Menschenrechten, muss sorgfältig und unter Berücksichtigung aller verfügbaren Informationen abgewogen werden. Wenn er notwendig erscheint, dürfen wir uns dann auch nicht unserer Verantwortung entziehen. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang immer wieder an den brutalen Bürgerkrieg in Sierra Leone. In diesem Bürgerkrieg versuchten die RUF-Gewaltgruppen durch Terrorisierung der Bevölkerung an die Diamantenquellen im Land zu kommen, um ihre Herrschaft auszuüben. Die UNO zusammen mit den britischen Streitkräften stellte sich dem in den Weg, so dass die Chance bestand, dass in Sierra Leone der Gewalt ein Ende gesetzt werden konnte und die Menschen eine Zukunft hatten. Ich habe in dieser Situation Anfang des Jahres 2000 gelernt, dass es manchmal notwendig ist, um dauerhaft Chancen für die Menschen zu eröffnen, Wege zur Demokratie und auch zu wirtschaftlichen Chancen zu schaffen, Gewalt und Gewalttätern wie der RUF auch militärisch entgegen zu treffen. Sonst wäre Sierra Leone für alle Zeiten an diese Gewaltgruppen gefallen.

Genocide Alert: In Syrien finden zurzeit schwerste Menschenverbrechen statt, die eindeutig unter die Schutzverantwortung fallen. Die USA und Europa haben bereits Sanktionen gegen das Regime in Damaskus beschlossen. Mit einem durch Russland blockierten Sicherheitsrat und der Annahme, dass Russland seine Position vorerst nicht aufgibt, welche Mittel gibt es noch, auf die Situation positiven Einfluss zu nehmen? Welche Rolle können Deutschland und die EU hier spielen?

Frau Wiezczorek-Zeul: Die Verhängung des Ölboykotts und der Einreiseverbote sind wichtige Maßnahmen. Auch die Resolution der UN-Generalversammlung zu Syrien und die Ernennung von Kofi Annan zum Syrien-Sondergesandten zeigt, dass die internationale Gemeinschaft nicht willens ist, die faktische Blockade des VN-Sicherheitsrats durch Russland und China einfach so hinzunehmen. Nur helfen diese Maßnahmen leider nicht, dem Morden in Syrien unmittelbar ein Ende zu setzen. Deutschland und die EU sollten Kofi Annan nach Kräften unterstützen, einen sofortigen Waffenstillstand und Schutzkorridore für Hilfsleistungen an die notleidende Bevölkerung auszuhandeln. Die Menschen vor Ort brauchen dringend Schutz und medizinische Versorgung.

Genocide Alert: Sie stellten am 29.Juli 2011 die Anfrage im Bundestag, welche konkreten Schritte die Bundesregierung seit 2005 zur Umsetzung der Schutzverantwortung die Bundesregierung bisher unternommen habe. Sind Sie mit den genannten Maßnahmen zufrieden? Welche Schritte sollte die Bundesrepublik in den kommenden Jahren unternehmen?

Frau Wiezczorek-Zeul: Deutschland hat im Jahre 2005 für die Schutzverantwortung in den Vereinten Nationen gestimmt. Durch ihre Enthaltung bei der Libyen-Resolution im UN-Sicherheitsrat ist die Bundesregierung ihrer Unterstützungsfunktion für die Norm nicht gerecht geworden. Ich bin auch heute noch der Meinung, dass sie hätte zustimmen und einen Monitoring-Mechanismus verankern müssen, der den militärischen Verlauf in Libyen für den UN-Sicherheitsrat begleitet hätte. Die Enthaltung war meines Erachtens ein schwerer moralischer und politischer Fehler. Es wird uns nur gelingen, die internationale Schutzverantwortung auf allen Ebenen zu verankern, wenn ein breiter internationaler Konsens darüber hergestellt wird. Die Bundesregierung ist als derzeitiges nichtständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat eigentlich in einer Situation, in der sie engagiert für das Konzept und seine Operationalisierung werben sollte.

Genocide Alert: Da Menschenrechte über eine eher geringe institutionelle Verankerung in Ministerien verfügen, fallen solcherlei Belange bei der Formulierung und Umsetzung der deutschen Außenpolitik angesichts konkurrierender Interessen einzelner Ressorts schnell unter den Tisch.  Die Verhinderung von Massenverbrechen wurde nun kürzlich von Präsident Barack Obama erstmalig als “nationales Interesse” definiert. Vor diesem Hintergrund wurde ein sogenanntes Atrocities Prevention Board gegründet, das für eine ressortübergreifende Koordinierung von Maßnahmen zur Verhinderung von Massenverbrechen sorgen soll. Wäre eine solche Initiative auch in Deutschland wünschbar? Wie könnte so eine Koordinierungsstelle innerhalb der Bundesregierung aussehen damit gewährleistet wird, dass Menschenrechte in der deutschen Außenpolitik stärker berücksichtigt werden? (Hier ein kurzes Genocide Alert Hintergrundpapier zum Atrocities Prevention Board).

Frau Wiezczorek-Zeul: Die Idee, ein ressortübergreifendes Gremium zu bilden, das die verschiedenen Einheiten koordiniert und sich der Verhinderung von Massenverbrechen und Genozid widmet, finde ich gut. Ich habe bei derartigen Themen in meiner Ministerzeit gute Erfahrungen damit gemacht, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen und ihnen die Möglichkeit zu geben, an der Strategiebildung teilzuhaben. Wie ich das verstehe, plant die US-Regierung ein solches Gremium an der Exekutive anzusiedeln. Für Deutschland setzt dies den politischen Willen aller Beteiligten voraus, die Verhinderung von Massenverbrechen ganz oben auf die Agenda zu setzen. In Deutschland müsste dies unseren Verfassungsregelungen entsprechend angepasst werden. Wichtig fände ich vor allem, dass die Verfahren und Beschlüsse dem Parlament gegenüber transparent gemacht werden und es Möglichkeiten zur Mitwirkung zum Beispiel über den Ausschuss für Menschenrechte gibt.

Genocide Alert: Laut einer EMNID-Umfrage vom 18. März 2011 gaben 62 % der Befragten an, den militärischen Einsatz gegen den libyschen Machthaber Gaddafi für richtig zu halten. Deutschlands Beteiligung an einer solchen Intervention hielten dem hingegen nur noch 31% für richtig, gegen einen Bundeswehreinsatz sprachen sich 65 % aus. Wie erklärt sich diese zwiespältige Einstellung der Bürgerinnen und Bürger? Sind wir Deutschen noch nicht reif genug für die Übernahme von weltöffentlicher Verantwortung, wenn dies den Einsatz eigener Soldaten bedeutet?

Frau Wiezczorek-Zeul: Deutschland hat in der Vergangenheit gezeigt, dass es zur Übernahme internationaler Verantwortung fähig und willens ist. Nichtsdestotrotz herrscht in der deutschen Bevölkerung eine Interventionsskepsis, die unter anderem mit der Länge des Einsatzes in Afghanistan zu verstehen ist. Es muss darum gehen, im Vorfeld alles erdenklich zu unternehmen, damit ein militärischer Einsatz nicht mehr notwendig erscheint. Entwicklungszusammenarbeit ist im Übrigen die kostengünstigste präventive Politik. Deshalb ist es wichtig, dass heute die großen Herausforderungen der Zukunft, ökonomische Globalisierung, globale Machtverschiebungen und Klimaveränderung, auch wirklich erkannt und ihnen engagiert, politisch und finanziell gegengesteuert wird. Ich komme auf die Responsibility to Protect zurück, die als letztes Mittel eine militärische Intervention vorsieht und der Bemühungen zur friedlichen Lösung von Konflikten logisch vorgeschaltet sind. Dieser Säule, der Responsibility to Prevent, kommt die größte Bedeutung bei.