Mit ihrem detaillierten Antrag zur Schutzverantwortung im Bundestag im Mai 2012 zeigten die Grünen, dass sie sich intensiv mit der Schutzverantwortung auseinandersetzen. Einer der engagiertesten Vertreter der Schutzverantwortung bei den Grünen ist Tom Koenigs. Im Interview mit Genocide Alert erklärt der Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Bundestages die Position der Grünen zur Schutzverantwortung. Er attestiert der Bundesregierung Konzeptlosigkeit im Bezug auf die Responsibility to Protect und bezieht auch zu den konkreten Fällen in Libyen und Syrien Stellung.
Genocide Alert: Sie sind einer der stärksten Vertreter der Responsibility to Protect in ihrer Fraktion. Die Meinung der GRÜNEN zur Schutzverantwortung ist jedoch nicht einheitlich. Was ist ihr wichtigstes Argument, um Zweifler in Ihrer Partei von der Schutzverantwortung zu überzeugen?
Tom Koenigs: Ich finde es wichtig, zwischen dem Prinzip der Schutzverantwortung und den Instrumenten seiner Umsetzung zu unterscheiden. Das Prinzip ist anerkannt. Wir diskutieren darüber, wie es am wirksamsten umgesetzt werden kann, also welche Maßnahmen in welchen Situationen hilfreich sind, um Menschen wirksam vor schwersten Menschenrechtsverletzungen zu schützen und Staaten dabei zu helfen. RtoP ist nicht mit militärischen Interventionen gleichzusetzen sondern zielt darauf ab, schwerste Menschenrechtsverbrechen wie Völkermord bereits im Vorfeld zu verhindern. Die überwiegende Mehrheit der RtoP-Maßnahmen sind zivile und diplomatische Präventionsmaßnahmen, die nicht im Zentrum der medialen Öffentlichkeit stehen. Darin müssen wir besser werden, damit militärische Eingriffe erst gar nicht nötig werden. Es gibt viele Optionen zwischen den Extremen Nichtstun oder Entsendung der Marines. Zwangsmaßnahmen als äußerste Mittel gehören aber zu einem glaubwürdigen Konzept. Menschenverachtende Regime lassen sich nicht mit guten Worten am Morden hindern.
Genocide Alert: In den neunziger Jahren gab es im Rahmen der Kriege auf dem Balkan heftige Debatten zwischen den Imperativen „nie wieder Krieg“ und „nie wieder Auschwitz“. Über welche Etappen hat sich diese Debatte seit 1999 entwickelt? Welche Rolle haben bei dieser Diskussion die Krisen in Darfur und im Kongo gespielt?
Tom Koenigs: Schwerste Menschenrechtsverletzungen stellen uns immer vor das Dilemma, uns schuldig zu machen – durch Eingreifen oder durch Nichtstun. Dieses Dilemma wird heute aber anders diskutiert als noch vor zehn Jahren. Nach den Verbrechen in Ruanda 1994, Srebrenica 1995 und im Kosovo 1999 wurde heftig debattiert, wie legitim es ist, mit militärischem Eingreifen schwerste Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. In Deutschland hatte man aus Sorge vor einer Militarisierung der Außenpolitik einige Elemente des Menschenrechtsschutzes vernachlässigt. Die internationale Anerkennung der Schutzverantwortung 2005 hat die Positionen „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Auschwitz“ einander angenähert. Wir reden nicht mehr über das Recht von Staaten zur Intervention, sondern darüber, dass Staaten für den Schutz der eigenen Bevölkerung verantwortlich sind und darüber, wie die internationale Staatengemeinschaft Staaten dabei unterstützen kann. Zivile präventive Maßnahmen wurden explizit in den Vordergrund gestellt und militärisches Eingreifen nur im äußersten Notfall und nur mit einem Mandat des VN-Sicherheitsrates akzeptiert.
Fälle von lang andauernden Verbrechen wie in Darfur oder im Kongo haben gezeigt, dass militärische Zurückhaltung nicht immer weiter hilft. Eine frühzeitige militärische Reaktion kann in manchen Fällen, wenn sie von zivilen und politischen Maßnahmen begleitet und gefolgt ist, zu mehr Frieden beitragen als ein kategorischer Gewaltverzicht. Im UN-Rahmen haben es einzelne Staaten schwerer, für rein machtpolitisch motivierte Interventionen Zustimmung zu finden. Die Versuche Russlands, die Intervention in Georgien 2008 mit der Schutzverantwortung zu begründen oder die Bemühungen der US-Regierung, den Präventivkrieg gegen den Irak 2003 mit menschenrechtlichen Zielen zu legitimieren, sind gescheitert.
Genocide Alert: Die Schutzverantwortung wird von Seiten der Friedensbewegung verdächtigt, Kriege zu legitimieren und die Situation in den entsprechenden Ländern sogar noch zu verschlimmern. Die Partei DIE LINKE hat in den letzten Jahren versucht, sich als parlamentarischer Arm der „Antikriegsbewegung“ darzustellen. Kann man als Pazifist heute noch die GRÜNEN wählen?
Tom Koenigs: Es ist ein zivilisatorischer Fortschritt, dass die deutsche Gesellschaft gegenüber dem Einsatz militärischer Gewalt zurückhaltend ist. Absolute Gewaltfreiheit ist aber nicht zu rechtfertigen, wenn massenhafte Menschenrechtsverletzungen durch den Einsatz von Gewalt verhindert werden könnten. Gerade wir Deutschen, die 1945 von einem menschenverachtenden Regime mit Waffengewalt und unter unsäglichen Verlusten befreit worden sind, sollten die Fehler der amerikanischen Pazifisten in der Vorkriegszeit nicht wiederholen. Mit dem RtoP-Konzept hat sich die internationale Gemeinschaft darauf verständigt, bei schwersten Menschenrechtsverletzungen nicht mehr wegzusehen sondern sie zu verhindern, mit zivilen Mitteln soweit irgend dies geht und nur im äußersten Notfall mit militärischen Mitteln und das nach der VN-Charta. Diese Entwicklung ist ein wichtiger Schritt der Verrechtlichung und Zivilisierung internationaler Politik und mit einem radikalen Pazifismus nicht zu vereinbaren. Dazu haben wir Grüne uns nach schwierigen und langen Debatten durchgerungen. Bei Völkermord wollen wir uns lieber wegen misslungener als wegen unterlassener Hilfeleistung kritisieren lassen.
Genocide Alert: In ihrem Antrag zur RtoP hat sich die Fraktion die GRÜNEN sehr positiv und unterstützend zum Konzept geäußert. Was würde sich verändern, wenn die Grünen in der kommenden Bundestagswahl in die Bundesregierung gewählt werden würden?
Tom Koenigs: Trotz unserer historischen Verantwortung für die Verhütung von Völkermord spielt RtoP in der Außenpolitik der Bundesregierung zur Zeit kaum eine Rolle. Das deutsche Engagement für die Schutzverantwortung ist profil- und konzeptlos. Wir Grüne begreifen RtoP als wichtige Säule einer menschenrechtsgeleiteten globalen Friedenspolitik. Unter grüner Regierungsverantwortung wäre der Schutz von Menschen vor Massenverbrechen eine außen- und menschenrechtspolitische Priorität. Das bedeutet, wir würden die präventiven Kapazitäten und Frühwarnmechanismen der VN stärken, erneut die Diskussion über Kriterien für militärische Maßnahmen als äußerstes Mittel in den VN-Gremien anstoßen, VN-Missionen im Rahmen von RtoP-Mandaten nicht nur finanziell sondern auch personell unterstützen, RtoP in Regierungsgesprächen und Menschenrechtsdialogen ansprechen, RtoP-Training von Bundeswehrsoldaten einführen, die institutionellen – und in anderen Ländern schon existierenden – institutionellen Voraussetzungen schaffen, um schwerste Menschenrechtsverletzungen besser vorbeugen und schneller auf sie reagieren zu können. In unserem Antrag an die Bundesregierung (Drucksache 17/9584) haben wir diese Ziele formuliert.
Genocide Alert: Die Verhinderung von Massenverbrechen wurde kürzlich von Präsident Barack Obama als “nationales Interesse” definiert. Vor diesem Hintergrund wurde ein sogenanntes Atrocities Prevention Board gegründet. Auch die Grünen nehmen die Prüfung einer solchen Idee für Deutschland in ihrem Antrag auf. Wie sollte eine solche Institution in Deutschland konkret aussehen?
Tom Koenigs: Wir haben die Bundesregierung aufgefordert, sich der Initiative des Global Centre for the Responsibility to Protect (GCR2P) anzuschließen und eine nationale Kontaktstelle einzurichten, um schneller über RtoP-Maßnahmen entscheiden und sie besser koordinieren zu können. In diesem Zusammenhang fordern wir, ein mit dem in den USA eingerichteten Atrocities Prevention Board vergleichbares Gremium zu schaffen. Der Beirat setzt sich in den USA aus hochrangigen Vertretern der Ministerien für Äußeres, Verteidigung, Entwicklung, Finanzen und Justiz, der Geheimdienste, der Streitkräfte, der Vertretung bei den Vereinten Nationen und des Büros des Vizepräsidenten zusammen. Eine deutsche nationale Kontaktstelle für RtoP sollte ebenfalls auf hoher politischer Ebene angesiedelt sein. Dies setzt den politischen Willen voraus, die Verhinderung von Massenverbrechen ganz oben auf die politische Agenda zu setzen. Die Bundesregierung ist der Meinung, dass der Beirat zivile Krisenprävention ausreichend ist. Dabei ist die Prävention schwerster Menschenrechtsverletzungen nicht mit der Prävention von bewaffneten Konflikten gleichzusetzen. RtoP-Verbrechen stehen oft aber nicht immer direkt mit bewaffneten Konflikten in Zusammenhang wie die Fälle Kambodscha 1975-1978 und der Holocaust zeigen.
Genocide Alert: Die Libyenintervention wird von vielen als notwendiger Eingriff sowie als Erfolg für die Schutzverantwortung bewertet. Deutschland hat sich damals im Sicherheitsrat seiner Stimme enthalten und eine militärische Beteiligung abgelehnt. Welche Lehren sollte die Bundesrepublik aus der Intervention und dem eigenen Umgang mit dieser Frage ziehen? Würden Sie sich mit dem heutigen Wissen in einer ähnlichen Situation für eine Beteiligung an einer militärischen Intervention aussprechen?
Tom Koenigs: Es war ein schwerer moralischer und politischer Fehler, dass sich die Bundesregierung an der Seite von Russland und China enthalten hat. Gaddafi hat Regimegegner öffentlich als „Kakerlaken“ bezeichnet, von denen Libyen „gesäubert“ werden müsse. Die Rückeroberung Bengasis durch regimetreue Truppen stand kurz bevor. In dieser Situation hat sich die Bundesregierung ihrer Schutzverantwortung für die libysche Bevölkerung entzogen. Ein UN-Mandat mitzutragen bedeutet nicht automatisch, sich (militärisch) beteiligen zu müssen. RtoP soll angewendet werden, wo sie Aussicht auf Erfolg hat, jedenfalls aber durch ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft nicht verschlimmert wird. In Libyen war dies im Gegensatz zur gegenwärtigen Situation in Syrien gegeben. Der Fall Libyen zeigt aber auch Gefahren einer Überdehnung von RtoP-Mandaten. RtoP-Mandate sollten zeitlich eng begrenzt und nur auf den Schutz von Zivilisten beschränkt werden. Keine Situation schwerster Menschenrechtsverletzungen gleicht der anderen. Daher kann ich nicht pauschal sagen, wo ich mich für eine militärische Intervention aussprechen würde. Zu Recht heißt es im Abschlussdokument 2005, dass Entscheidungen von Fall zu Fall entschieden werden müssen. Eine deutsche Beteiligung im Fall Libyen hätte ich aber auch im Rückblick für angemessen gehalten.
Genocide Alert: Ist die internationale Staatengemeinschaft in Syrien ihrer Schutzverantwortung nachgekommen? Was hätte man aus heutiger Sicht zu einem früheren Zeitpunkt im Fall Syrien anders machen müssen?
Tom Koenigs: Nicht die internationale Gemeinschaft entzieht sich ihrer Schutzverantwortung für die syrische Bevölkerung sondern einzelne Mitgliedsstaaten. Mit ihrem Veto gegen drei Resolutionen des Sicherheitsrates haben Russland und China die Staatengemeinschaft daran gehindert, den syrischen Präsidenten zum Abtreten zu zwingen und auf eine friedliche Lösung des Konflikts hinzuwirken. Trotzdem war die Staatengemeinschaft nicht untätig: es wurden Sanktionen verabschiedet, diplomatische Beziehungen abgebrochen, ein Sonderberater eingesetzt und ein Sechs-Punkte-Plan mit einer VN-Beobachtermission verabschiedet. Die Friedensmission Kofi Annans kann aber nur so stark sein, wie die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen sie machen. Je mehr Zeit verstreicht, desto schwerer greifen die gut konzipierten Maßnahmen. Man hätte vieles früher und besser machen können. Ich hätte mir früher ein deutliches Signal des Sicherheitsrates an Assad, ein stärkeres Engagement der Arabischen Liga, schärfere Sanktionen, eine frühere Ausweisung des syrischen Botschafters aus Deutschland aber auch Verhandlungen mit dem in der Region einflussreichen Iran gewünscht.
Genocide Alert: Neben akuten Krisen wie jüngst in Libyen und Syrien gibt es „vergessene“ Fälle, wie den Sudan oder die DR Kongo, in welchen der Schutzverantwortung nicht nachgekommen wird, ohne dass diese durch den „CNN-Effekt“ auf der politischen Tagesordnung stehen. Wie lässt sich dem beikommen?
Tom Koenigs: Das ist eine zentrale Kritik am RtoP-Konzept. Wir können aber nicht ignorieren, dass die internationale Gemeinschaft nicht in alle Konflikten eingreifen kann. Da muss man realistisch bleiben. Aber nur weil Menschen nicht überall vor schwersten Menschenrechtsverletzungen geschützt werden (können), ist es nicht verwerflich, dass sie dort geschützt werden, wo es möglich ist. Aufmerksamkeit auf Fälle zu lenken, die nicht oder kaum auf der politischen Agenda stehen, ist eine Herausforderung von Politik und Zivilgesellschaft und Organisationen vor Ort. Je mehr es gelingt, politischen Druck aufzubauen, desto schwieriger wird es, solche Fälle zu ignorieren.
Genocide Alert: Syrien, Darfur, Kosovo: Was sollte getan werden, wenn in einer Situation wie in Syrien keine Zweifel an dem Charakter der Menschenrechtsverletzungen und dem Bezug zur Schutzverantwortung bestehen, der UN-Sicherheitsrat jedoch durch ein Veto blockiert ist?
Tom Koenigs: Welches Vorgehen der internationalen Gemeinschaft hilfreich ist, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Wenn ein Regime Massenverbrechen an der eigenen Bevölkerung begeht oder zulässt und der VN-Sicherheitsrat blockiert ist, sollten möglichst alle diplomatischen, politischen und ökonomischen Möglichkeiten unterhalb dieser Ebene ausgeschöpft werden, um das Regime zu schwächen und politisch zu isolieren, z.B. durch gezielte diplomatische Sanktionen, Reiseverbote, Einfrieren von Vermögenswerten oder Handels- und Waffenembargos. Wenn der Sicherheitsrat blockiert ist kann sich die Generalversammlung im Sinne der „Uniting-for-Peace-Resolution“ von 1950 mit dem Fall befassen, Empfehlungen an den VN-Sicherheitsrat geben und so den Handlungsdruck auf die ständigen Mitglieder erhöhen. Zwangsmaßnahmen kann sie aber nicht beschließen, dazu ist allein der Sicherheitsrat befugt.
10. August 20
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Links zum Weiterlesen:
Auf www.schutzverantwortung.de finden Sie außerdem detaillierte Beschreibungen der Positionen der deutschen Parteien sowie der Bundesregierung zur Schutzverantwortung und weitere Links und Literaturhinweise zum Thema.