Wie weiter in Syrien, Frau Becker?
Flugverbotszone in Betracht ziehen, grenzüberschreitende humanitäre Hilfe, Unterstützung für Polizei- und Sicherheitskräfte in den Rebellengebieten – Im Interview mit Genocide Alert geht Petra Becker, Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, auf Möglichkeiten ein wie die prekäre Lage in Syrien entschärft und den Menschen geholfen werden kann.
Genocide Alert: Frau Becker, wie konnten die friedlichen Proteste in Syrien zu einem solch grausamen Bürgerkrieg eskalieren?
Petra Becker: Die Brutalität, mit der das Regime die Proteste von Anfang an unterdrückt hat, hat die Bewegung nach wenigen Monaten in die Militarisierung getrieben. Kein anderer Staat im Kontext des Arabischen Frühlings war in der Gewaltanwendung gegen seine Bürger so maßlos: Demonstranten wurden erschossen; Verletzte in Krankenhäusern liquidiert; Mediziner, die Demonstranten zu versorgen wagten, verhaftet und gefoltert; aufständische Orte dem Erdboden gleichgemacht; Krankenhäuser, Schulen und Wohnhäuser bombardiert; Menschen systematisch ausgehungert; Hunderttausende brutal gefoltert, Tausende davon bis zum Tod. Das hat die Regimegegner zu der Erkenntnis getrieben, dass man diesem Terrorregime mit friedlichen Mitteln nicht beikommen kann.
Gleichzeitig gibt es aber noch Gewalt auf einer subtileren Ebene: staatliche syrische Medien und solche, die dem Regime freundlich gesonnen sind, diffamieren bis heute friedliche Aktivisten als Terroristen und verhindern so erfolgreich eine Solidarisierung der Weltgemeinschaft mit den Opfern.
Gleichzeitig hat das Regime den Konflikt von Beginn an als eine Aggression des sunnitischen Pöbels dargestellt, dessen Ziel es sei, die Macht an sich zu reißen und sich an den Bevölkerungsgruppen zu rächen, auf die sich das Regime in mehr als vierzig Jahren Diktatur gestützt hat – allen voran den Alawiten, aber auch an anderen Minderheiten sowie einem Teil der sunnitischen Bourgeoisie. Damit hat er sich die Unterstützung weiter Teile dieser Bevölkerungsgruppen gesichert. Die Tatsache, dass er auch bei der Niederschlagung des Aufstandes überwiegend auf Rekruten und Milizionäre aus diesen Bevölkerungsgruppen gesetzt hat, schürt ihre Angst vor einem Fall des Regimes noch weiter. Inzwischen haben bei Seiten – Militär und regimetreue Milizen einerseits und Rebellengruppen andererseits das Gefühl, dass es um ihr blankes Überleben geht. Töten oder getötet werden. Eine Verhandlungslösung ist für sie weder sichtbar noch innerhalb ihrer Reichweite.
Genocide Alert: Welche Handlungsmöglichkeiten wurden Ihrer Meinung nach bislang zu wenig in Betracht gezogen?
Petra Becker: Es gibt eine Forderung, die seit drei Jahren auf dem Tisch liegt, aber nie ernsthaft in Betracht gezogen wurde, und das ist die Einrichtung einer Flugverbotszone. Ich weiß, dass bisher der politische Wille dazu fehlte. Trotzdem glaube ich, dass dies die einzige erfolgversprechende Maßnahme im Kampf gegen den Dschihadismus ist.
Genocide Alert: Was sind die drei dringendsten Maßnahmen, die die internationale Gemeinschaft unmittelbar zum Schutz von Zivilisten in Syrien ergreifen kann?
Petra Becker: Erstens: eine Flugverbotszone. Zweitens: Grenzüberschreitende Humanitäre Hilfe. Drittens: Gehälter und Ausbildung für Polizei- und Sicherheitskräfte in den Rebellengebieten.
Wenn man erreicht, dass Menschen in den Rebellengebieten mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt werden, das Bombardement aufhört und die Sicherheitslage sich verbessert, dann kann wieder Alltag einkehren, Menschen können sich um ihre Familien kümmern , mit dem Wiederaufbau beginnen und ihre Kinder wieder zur Schule schicken. Zurzeit ist die humanitäre Lage so prekär, dass die Menschen sich gezwungen sehen, jede sich bietende Einkommensquelle zu nutzen – und sei es der Sold, den ISIS seinen Kämpfern zahlt. Mittelfristig würde die Stabilisierung der Rebellengebiete auch die Flüchtlinge, die in den Nachbarländern in großem Elend leben, zu einer Rückkehr ermutigen und so die Nachbarländer entlasten.
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