Die Zukunft der „Responsibility to Protect“ nach dem Fall Gaddafis

FES Perspektive – Oktober 2011

Der UN-mandatierte Militäreinsatz zum Schutz von Zivilisten in Libyen hat erneut die Debatte um die Norm der „Responsibility to Protect“ (RtoP, deutsch: Schutzverantwortung) angefacht. Trotz berechtigter Fragen bezüglich der Einhaltung des UN-Mandats fällt das Resultat für den Einsatz unter dem Strich positiv aus, sowohl im  Hinblick auf die Zivilbevölkerung in Bengasi die vor Massenverbrechen geschützt werden konnte, als auch für die Weiterentwicklung der Norm der Schutzverantwortung.

Deutschland sollte die von der UN schon vor Sturz des Gaddafi-Regimes begonnene Planung für ein befriedetes Libyen unterstützen. Neben technischer und wirtschaftlicher Hilfe gehören hierzu die UN-geleitete politische Unterstützung in Fragen von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Sollte Libyen einen Blauhelmeinsatz zur Stabilisierung des Landes anfragen wäre auch hier an eine deutsche Beteiligung zu denken.

Die jüngsten Entwicklungen in Syrien machen deutlich, daß die Schutzverantwortung auch unterhalb einer militärischen Intervention die internationale Gemeinschaft zum Handeln bewegen sollte. Deutschland ist als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und auf Grund seines wirtschaftlichen Gewichts gefragt, konstruktiv Stellung zu beziehen und die Entwicklung innovativer Instrumente voran zu treiben.

 

Einleitung

International hat die ungewöhnlich entschlossene Reaktion der UN auf die militärische Unterdrückung der Protestbewegungen in Libyen durch das Gaddafi-Regime die staatliche Schutzverantwortung auf ein neues Niveau befördert. Das Prinzip der Schutzverantwortung wurde 2005 von allen Mitgliedsstaaten der UN angenommen und besagt, dass alle Staaten die Verantwortung haben, ihre Bevölkerungen vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit[1] zu schützen und hierbei von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden. Sollte ein Staat dieser Schutzverantwortung nicht nachkommen können oder wollen, dann geht die Responsibility to Protect auf die internationale Gemeinschaft über, die alle notwendigen präventiven, reaktiven und nachsorgenden Mittel zur Abwendung solcher Massenverbrechen zu ergreifen hat. Mit der Libyen-Resolution 1973 vom 17. März 2011 hat der Sicherheitsrat erstmalig eine militärische Intervention zum Schutz einer Zivilbevölkerung  mit Verweis auf diese Schutzverantwortung beschlossen. Nach dem Sturz Gaddafis im August 2011 lassen sich einige wichtige Schlussfolgerungen für die Zukunft der internationalen Schutzverantwortung zur Verhinderung von Massenverbrechen ziehen. Stärker als in der Vergangenheit muss nicht nur über die Frage des wann, sondern auch des wie nachgedacht werden. Nachdem in der vergangenen Dekade ein grundsätzlicher Konsens über Sinn und Rahmen der Schutzverantwortung gefunden wurde, muss nun ein breiter Meinungsbildungsprozess bezüglich der Umsetzung des Prinzips begonnen werden.

Deutschlands ist durch seine Enthaltung zur Resolution 1973 seiner Unterstützungsfunktion für die Norm der Schutzverantwortung nicht gerecht geworden. Die jüngsten Entwicklungen in Syrien machen gleichzeitig deutlich, dass die Schutzverantwortung künftig schneller unterhalb einer militärischen Einmischung der internationalen Gemeinschaft effektiv wahrgenommen werden muss.

 

Souveränität im Wandel der Zeit: Von der Nicht-Intervention zur Schutzverantwortung

Mit dem Ende des Kalten Krieges trat das Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Souveränität und Menschenrechtsschutz auf die Tagesordnung der internationalen Politik. In den rasch aufeinander folgenden und mit massiver Gewalt einhergehenden Konflikten und humanitären Katastrophen in Irak, Somalia, Ruanda und Bosnien sah sich die internationale Gemeinschaft mit der Frage konfrontiert, wie und wann ein militärisches Eingreifen zur Beendigung von Massenverbrechen gegen Zivilbevölkerung notwendig sei. Die Völkermorde in Ruanda und Srebrenica, die in ihrer Tragweite nur durch das passive Zuschauen der internationalen Gemeinschaft ermöglicht wurden, schockierten die Weltöffentlichkeit und waren ein wesentlicher legitimatorischer Bezugspunkt als es im Jahr 1999 zu einer vom Sicherheitsrat der UN nicht mandatierten humanitären Intervention im Kosovo kam. Was für die einen ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat war, stellte für die anderen angesichts eines blockierten Sicherheitsrates eine militärische Nothilfe zum Schutz der Zivilbevölkerung dar. UN-Generalsekretär Kofi Annan kam abschließend zu dem Resümee, dass die Intervention nicht legal, dennoch aber legitim war. Um ein für allemal die Frage zu klären, durch wen eine humanitäre Intervention zu autorisieren sei und wann und mit welchen Mitteln sie zu erfolgen habe, richtete er im Jahr 2000 eine unabhängige Internationale Kommission zu Fragen von Intervention und Staatensouveränität (ICISS) ein. Die ICISS kam zu dem Ergebnis, dass souveräne Staaten die Verantwortung haben, ihre eigenen Bürger gegen Massenverbrechen zu schützen.  Sollte ein Staat dieser Schutzverantwortung nicht nachkommen können oder wollen, so geht diese Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft über. Neben dem Primat der Prävention entwickelte die Kommission auch konkrete Vorschläge in Bezug auf die Umstände einer militärischen Intervention. Diese solle eine realistische Erfolgschance haben, proportionale Mittel anwenden, nur nach dem Scheitern nicht-gewaltsamer Bemühungen beschlossen werden und in ihrer Konsequenz mehr nutzen als schaden. Für die Autorisierung solcher Einsätze sollte immer der UN-Sicherheitsrat als das höchste und meist legitime Organ ersucht werden.

Die Publikation des Reports im Oktober 2001 wurde vollständig überschattet von den Angriffen auf die USA am 11. September. Darüber hinaus fügte der danach von den USA geleitete Einmarsch einer „Koalition der Willigen“ im Irak dem Ruf nach militärischer Intervention zum Schutz von Zivilisten nachhaltigen Schaden zu. Eine der Konsequenzen hiervon war die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft in Bezug auf die Massenverbrechen in Darfur. Dennoch waren es nicht zuletzt die Vorfälle in Darfur, ebenso wie die sich verändernde Haltung der Afrikanischen Union, die ihre Indifferenz gegenüber Massenverbrechen aufzugeben begann, durch welche die Norm der Schutzverantwortung einen Wiederaufstieg erlebte. In ihrer sogenannten Millennium-Erklärung im September 2005 einigte sich die UN-Generalversammlung einstimmig auf die Verabschiedung der Schutzverantwortung. Es dauerte allerdings noch bis zum Jahr 2009, bis UN Generalsekretär Ban Ki-moon seinen Bericht zur Umsetzung dieser Norm vorlegen konnte, die seitdem auf drei Grundpfeilern basiert: Erstens, der Schutzverantwortung souveräner Staaten für ihre eigenen Bürger; zweitens, der Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft zur Unterstützung der Nationalstaaten bei der Umsetzung ihrer Schutzverantwortung; und drittens, der Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft, rechtzeitig und entschlossen zu handeln wenn ein Staat dieser Verantwortung selbst nicht nachkommt.

Auf die Schutzverantwortung wurde seit ihrem Beschluss im Jahr 2005 an verschiedenen Stellen Bezug genommen, wodurch die Norm zunehmendes Gewicht und eine deutlichere Form erhalten hat. Die Feststellung, dass das Verhalten der Regierung Myanmars nach dem Taifun Nargis keine Verletzung der Schutzverantwortung darstellte gehört ebenso zu diesem Definitionsprozess wie der Entschluss der Vereinten Nationen, in Libyen und der Elfenbeinküste mit militärischen Mitteln den Schutz einer bedrohten Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Der Fall Libyen ist dennoch ein besonderer Meilenstein für die RtoP, der Chancen, Risiken und offene konzeptionelle Fragen noch einmal besonders klar illustriert hat.

 

Der Fall Libyen und die RtoP

Libyen hat sich zum ersten Fall entwickelt, in dem die internationale Staatengemeinschaft ihrer Schutzverantwortung gegenüber einer bedrohten Zivilbevölkerung  – und in letzter Konsequenz auch unter Einsatz militärischer Mittel – in kürzester Zeit gerecht geworden ist. Dass es dazu kam, lag an den besonderen Dynamiken innerhalb Libyens und innerhalb der internationalen Gemeinschaft: Innerhalb Libyens, war ersten das Gaddafi-Regime frühzeitig mit unverhältnismäßiger Härte gegen eine demonstrierende Zivilbevölkerung vorgegangen und hatte so den begründeten Verdacht von bevorstehenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit genährt; zweitens stand mit dem libyschen Übergangsrat und seinen bewaffneten Milizen eine politisch und militärisch unterstützbare Alternative zur Regierung in Tripolis zur Verfügung, die öffentlichkeitswirksam um internationale Unterstützung bat; und drittens, zeichnete sich ab, dass es gerade im Zuge der drohenden Einnahme Bengasis durch Regierungstruppen höchstwahrscheinlich zu einem Massaker gekommen wäre, welches nur durch eine schnelle und entschlossene militärische Intervention verhindert werden konnte. Die Mitglieder des Sicherheitsrates wurden hierdurch unter massiven Zeitdruck gesetzt, innerhalb kürzester Zeit zu einer Entscheidung zu gelangen.

Auch international, und anders als beispielsweise in Darfur, entwickelte sich die Lage in kaum vorherzusehender Weise und Deutlichkeit zu Gunsten der Interventionsbefürworter. Schon am 25. Februar empfahl der UN-Menschenrechtsrat, Libyens Mitgliedschaft in diesem Gremium auszusetzen. Die UN Generalversammlung folgte dieser Empfehlung am 1. März einstimmig. Parallel dazu nahm der UN-Sicherheitsrat am 26. Februar Resolution 1970 an, die auf Grund der Befürchtung von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eine Reihe nicht-militärischer Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII Artikel 41 der UN Charta anordnete. Hierzu gehörten ein Waffenembargo, ein Reiseverbot für Schlüsselfiguren des Gaddafi-Regimes, sowie das Einfrieren der Auslandsguthaben des libyschen Regimes. Die Verabschiedung von Resolution 1970 war aber vor allem deshalb ein wegweisender Eskalationsschritt der Vereinten Nationen, weil sie eine Überweisung der Vorgänge in Libyen an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) anordnete. Neben der Aufwertung des Gerichtshofs in Den Haag ist an diesem Schritt besonders bemerkenswert, dass die USA und China erstmalig einer solchen Überweisung zustimmten und dieser Schritt den Handlungsdruck auf den Sicherheitsrat in der Folge zusätzlich erhöhte. Am 16. Mai erließ der IStGH Haftbefehle gegen Gaddafi, seinen Sohn Saif-al-Islam, und den Geheimdienstchef Abdullah Al Sanousi wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die Verhängung von Sanktionen und die Überweisung des Falls an den IStGH hatten nicht den Effekt einer Eindämmung der Gewalt, weswegen die Arabische Liga die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen forderte und damit die Tür zu einem militärischen Eingreifen unter UN-Mandat aufstieß. Damit war auch ein regionaler Konsens für eine Intervention mit Bezug auf die Schutzverantwortung gegeben, dessen zeitlicher Zusammenfall mit dem durch Gaddafi angedrohten Massaker in Bengasi den Ausschlag geben sollte: Am 17. März verabschiedete der UN-Sicherheitsrat Resolution 1973, bei der sich die Veto-Mächte China und Russland, sowie die nicht-ständigen Ratsmitglieder Indien, Brasilien und Deutschland der Stimme enthielten. Die Resolution autorisierte einen militärischen Einsatz zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung mit allen notwendigen Mitteln, jedoch unter Ausschluss der Entsendung von Besatzungstruppen. Dass die genaue Form der Anwendung militärischer Zwangsmittel in das Ermessen derjenigen Staaten gestellt wurde, die die Resolution implementieren würden, garantierte zwar die zügige Annahme der Resolution, führte aber auch absehbar zu dem politischen Konflikt der dann im Zuge der Implementierung zutage trat.

 

Kritik am Libyen-Einsatz

Schon kurz nach Beginn der NATO-geführten Luftangriffe auf militärische Ziele des Gaddafi-Regimes regte sich unter den abstimmungsneutralen Ländern Brasilien, Indien, China und Russland, aber auch beim ursprünglich zustimmenden Südafrika, Kritik an den intervenierenden Staaten. Sie warfen der NATO und den Westmächten im Sicherheitsrat vor, dass das Mandat für die Intervention zum Schutze von Zivilisten in der Praxis zu einer militärischen Unterstützung für einen Regimewandel genutzt wurde, der so nicht vom Mandat gedeckt gewesen sei. Zweifelsohne hatten die Luftangriffe der Alliierten wesentlichen Anteil daran, daß das Regime in Tripolis Mitte August zu Fall kam. Ob es sich hierbei jedoch tatsächlich um eine Mandatsüberschreitung handelt, hängt davon ab, wo und wie die völkerrechtliche von der politischen Interpretation getrennt wird. Eine politische Lösung des Konflikts auf dem Verhandlungsweg war ab dem Moment kaum mehr denkbar, ab dem Gaddafi einen Rückzug von sich und seiner Familie von der Macht prinzipiell ausgeschlossen hatte und somit Verhandlungen mit den Rebellen den Boden entzogen hatte. Die Resolution des Sicherheitsrats bot zwar keinerlei völkerrechtliche Handhabe, einen unmittelbaren Sturz des Regimes zu betreiben. Gleichzeitig ist die Resolution 1973 aber offen genug gehalten, dass zur Erfüllung des Mandats – Schutz der Zivilbevölkerung unter Einbeziehung militärischer Mittel – ein Regimesturz die mittelbare Konsequenz sein könnte.  Der Sturz Gaddafis unter Mithilfe der Alliierten ist also an und für sich kein ausreichender Grund von einer Mandatsüberschreitung zu sprechen. Es stellt sich weiterhin die Frage, wie und ob das UN-Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung überhaupt in einem Libyen erfüllbar gewesen wäre, welches weiterhin unter der Herrschaft Gaddafis verblieben wäre. Die Antwort auf die Frage also, bis zu welchem Punkt militärisch interveniert werden sollte und wie viel Regimewechsel bzw. Einfluss auf politische Strukturen im Rahmen von RtoP-Interventionen in Kauf genommen werden darf oder gar muß, wird die zukünftige Durchführbarkeit von RtoP-Interventionen maßgebend beeinflussen.

Eine ernst zu nehmende Kritik am Einsatz in Libyen ist die Befürchtung, dass es wie im Falle des Irak nach der militärischen Entmachtung von Saddam Hussein in sektiererischer Gewalt versinken könnte. Umso wichtiger ist es darum jetzt, dem libyschen Übergangsrat mit Rat, Tat und Ressourcen beim Aufbau eines neuen legitimen, demokratischen, und die Menschenrechte achtenden Rechtsstaat beizustehen. Nachdem die Vereinten Nationen ihrer Schutzverantwortung vor Massenverbrechen zunächst gerecht geworden sind, steht sie nun auch in einer Pflicht des Wiederaufbaus. Die Ausgangslage hierfür ist deutlich besser als im Fall des Irak: Da der UN-Sicherheitsrat der Intervention in Libyen und der Strafverfolgung Gaddafis zugestimmt haben, so stehen nach Artikel 25 der UN-Charter alle Mitgliedsstaaten der UN in der Verantwortung, die Folgen der Sicherheitsratsentscheidungen mitzutragen. Wegweisend wird die am 16. September vom Sicherheitsrat einstimmig angenommene Resolution 2009 sein, die neben der teilweisen Aufhebung der Flugverbotszone und die  Freigabe von eingefrorenen Auslandsguthaben auch die Einrichtung einer UN-Unterstützungsmission (UNSMIL) anordnet. Aus wohlverstandenem Eigeninteresse an regionaler Stabilität sollten die europäischen Staaten dazu beitragen, dass sich das post-revolutionäre Libyen stabilisiert und die erforderlichen Transformation erfolgreich bewältigt.

 

Nach der Intervention in Libyen, vor der Intervention in Syrien?

Während der Beschluss der UN sowie der militärische Einsatz in Libyen zweifellos als Erfolg für die Norm der RtoP gewertet werden können, stellt sich die Frage, warum angesichts des Vorgehens des Assad-Regimes mit militärischer Gewalt gegen friedliche Proteste in Syrien nicht ebenfalls unter Rückgriff auf die Norm der RtoP interveniert wird. Untergräbt die selektive Anwendung der Schutzverantwortung nicht die Legitimität der neuen Norm? Diese Kritik ist berechtigt, macht aber umso mehr deutlich, dass es sich bei RtoP nicht um ein abgehobenes Normengebilde handelt, sondern um das Ringen um eine Reaktion auf Massenverbrechen in einer Welt der Inkonsequenz und Interessengegensätze. In Libyen bestand die Chance, ein Massaker an der Bevölkerung Bengasis zu verhindern und eine Zivilbevölkerung vor massiven Menschenrechtsverletzungen zu schützen, ohne dass hierbei ein regionaler Flächenbrand drohte. Im Falle Syriens hingegen ist die Mandatierung einer Intervention durch den UN-Sicherheitsrat bis auf weiteres nicht zu erwarten. Selbst die Erwägung von Sanktionen, wie  sie in einem Resolutionsentwurf am 4. Oktober 2011 im Sicherheitsrat zur Abstimmung stand, fiel dem Veto Pekings und Moskaus zum Opfer. Da sich auch Brasilien, Indien und Südafrika enthielten, fällt der lange Schatten der Libyen-Intervention auf die syrischen Protestierenden. Erschwerend kommt hinzu, dass es bezüglich Syriens keinen regionalen Konsens über die richtige Vorgehensweise gegen das Assad-Regime gibt. Der von Syrien unterstützte Libanon ist momentan selbst Mitglied des Sicherheitsrats und auch Iran steht weiterhin an der Seite Assads. Zu tief ist Syrien in den Nahostkonflikt verstrickt, als dass die Auswirkungen eines militärischen Einsatzes gegen dessen Regierung lokal begrenzt werden könnten. Wenn sich die Opferzahlen nicht massiv vergrößern und der Handlungsdruck auf den UN Sicherheitsrat damit noch einmal sprunghaft zunimmt, ist ein militärisches Eingreifen auf Grund der unvergleichbar größeren Risiken äußerst unwahrscheinlich.

Diese Inkonsequenz kann man zwar zu Recht kritisieren, sollte aber nicht die Schlussfolgerung daraus ziehen, dass die Intervention in Libyen deswegen weniger legitim gewesen wäre. Der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für die Schutzverantwortung, Edward Luck, hat hierzu richtigerweise festgestellt das es besser sei, inkonsequent einige Leben zu retten als konsequent keines. Luck weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass es sich bei RtoP nicht um ein legalistisches, sondern um ein politisches Instrument handelt. Der Bezug auf die Norm kann zu politischem Momentum beitragen, dieses aber nicht ersetzen. Aber selbst wenn eine militärische Intervention nicht möglich, nicht sinnvoll und von den Protestierenden in Syrien vielleicht auch nicht erwünscht ist, gibt es dennoch Möglichkeiten, den Druck auf Syrien unter Bezugnahme auf die Schutzverantwortung zu erhöhen. Es ist ein später, wenn auch richtiger Schritt, dass Europa und die USA die politische Isolierung des Regimes in Damaskus betreiben und ihre Sanktionen verschärfen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob der Westen nach wirtschaftlichen Sanktionen und diplomatischer Isolation sein Pulver verschossen hat. Der Fall Syrien zeigt, dass es zur Durchsetzung der Schutzverantwortung bisher unterhalb einer militärischen Intervention und oberhalb der Verhängung von Sanktionen an einem ausdifferenzierten  Instrumentarium fehlt, welches es in Zukunft zu entwickeln gilt.

 

Deutschlands Haltung zur Schutzverantwortung

Mit ihrer Enthaltung im Sicherheitsrat zur Libyen Resolution 1973 hat die Bundesregierung politisches Vertrauen und Kapital verspielt. Die als Begründung angeführte Einschätzung, Deutschland müsse sich bei einer Zustimmung in den UN auch im nächsten Schritt an einem militärischen Einsatz beteiligen oder sogar Soldaten nach Libyen schicken, kann nicht wirklich überzeugen. Auch wurden Seitens der Bundesrepublik keine alternativen Vorschläge entwickelt, wie die libysche Zivilbevölkerung vor der massiven Gewaltanwendung der Gaddafi-treuen Sicherheitskräfte hätte geschützt werden können. Weder haben Sanktionsdrohungen eine spürbar deeskalierende Wirkung gezeigt, noch hätten sie einen Beitrag zur Verhinderung eines Massakers in Bengasi geleistet. Als Fazit bleibt, dass Sanktionen zwar ein wichtiges Instrumentarium der Schutzverantwortung sind, jedoch schnell an ihre Grenzen stoßen, wenn es um die Verhinderung unmittelbar drohender oder die Beendigung von bereits statt findenden Massenverbrechen geht.

Das Abstimmungsverhalten im UN Sicherheitsrat hat die Frage aufgeworfen, wie ernst Deutschland es mit der Schutzverantwortung meint. Auf nationaler Ebene gibt es, mit Ausnahme der Linkspartei, einen parteiübergreifenden Konsens in Fragen RtoP: Bereits 2004 stellte die damalige Bundesregierung den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ vor, um Konfliktstrukturen und die daraus resultierenden Herausforderungen für die Staatengemeinschaft zu analysieren. Besonders die Handlungsoptionen für zivile Krisenprävention und Schutz von Menschenrechten greifen dem 2005 von der UN-Generalversammlung angenommenen Bekenntnis zur Schutzverantwortung sogar vor. Aber auch das Weißbuch zur deutschen Verteidigungspolitik von 2006 nimmt positiven Bezug auf die Schutzverantwortung.

Innerhalb der UN galt Deutschland bisher als Befürworter der RtoP und zählte zur sogenannten Freundesgruppe der Schutzverantwortung. Dort, wie in der Gruppe der EU-Länder haben jedoch andere Länder die Federführung übernommen. Beispielsweise als bei den letzten Finanzverhandlungen um die personelle Unterstützung für den Sonderberater des UN-Generalsekretärs für die Schutzverantwortung gestritten wurde, oder auch bei der jährlichen Generalversammlungsdebatte zum Thema RtoP: Der Einsatz an politischem Kapital um der Norm auch reale Bedeutung zu geben, bleibt begrenzt. Das Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat im Falle Libyen wird international auch in diesem Kontext interpretiert.

Während Deutschlands Haltung im Libyenkonflikt bei den westlichen Partnern fast ausnahmslos auf Unverständnis stieß, so hat die Debatte innerhalb Deutschlands parteiübergreifende Differenzen über Rolle und Verantwortung der Bundesrepublik offen gelegt. Hier taten sich ideologische Risse auf, an die ein ernsthafter und verantwortungsvoller Diskussionsprozess um die Schutzverantwortung anknüpfen sollte. Die deutsche Politik muss sich darüber klar werden, welche Rolle die Bundesrepublik auf europäischem und internationalem Parkett spielen soll. Vor allem muss Berlin eine Antwort auf die Frage finden, wie dem allgemein geteilten Bekenntnis zu Multilateralismus und UN tatsächlich Taten zur Erfüllung weltöffentlicher Interessen folgen. Es gilt daher nicht nur über das ob, sondern auch über das wie nachzudenken.

In diesem Sinne bietet es sich für Deutschland unmittelbar an, zunächst die Schutzverantwortung dadurch wahrzunehmen, dass man das Post-Gaddafi-Libyen im Prozess des Wiederaufbaus und der politischen Transformation unterstützt. Neben technischer und wirtschaftlicher Hilfe gehört hierzu vor allem die UN-geleitete politische Unterstützung bei der Entwicklung eines demokratischen politischen Systems, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Sollte Libyen zusätzliche Unterstützung in Form eines Blauhelmeinsatz zur Stabilisierung des Landes erbeten wäre auch hier an eine deutsche Beteiligung zu denken.

 

Mittel und Wege zur Weiterentwicklung der Schutzverantwortung

Die unter dem Banner der Schutzverantwortung autorisierte Intervention der NATO ist als Erfolg für die RtoP zu werten. Europa und die USA haben mit ihrem Einschreiten gezeigt, dass sie selbst dann zum militärischen Schutz einer muslimischen, afrikanisch-arabischen Zivilbevölkerung bereit sind, wenn es sich wie im Falle Gaddafis um einen politisch und ökonomisch gefälligen Diktator handelt. Dies wird der Glaubwürdigkeit der Schutzverantwortung und möglicherweise auch dem Image des Westens in der arabischen Welt gut tun. Gleichzeitig hat der Einsatz auch innerhalb des Westens gezeigt, dass eine humanitäre Intervention entgegen vieler gegenteiliger Prognosen auch ohne Bodentruppen, ohne eigene Verluste und ohne „mission creep“ realisiert werden kann. Die Kritik der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) an der angeblichen Mandatsüberschreitung der Alliierten wird mittelfristig dadurch gelindert werden, dass der Einsatz selbst letztlich ein Erfolg war und auch die Skeptiker mit einer neuen libyschen Regierung konstruktiv zusammenarbeiten wollen. Ihre Zustimmung im Sicherheitsrat am 16. September zur Einsetzung von UNSMIL bestätigt dies.

Die Libyen-Intervention bedeutet allerdings keinen Anbruch eines neuen Zeitalters humanitärer Einsätze in weltöffentlichem Interesse. Die Umstände, unter denen sich der Sicherheitsrat auf die Resolutionen 1970 und 1973 geeinigt hat, werden sich zu anderen Gelegenheiten nicht ohne weiteres wiederholen. Das Gerangel im UN-Sicherheitsrat um eine Verurteilung Syriens hat dies unlängst belegt. Wenn sich der Sicherheitsrat in Zukunft wieder zu einem militärischen Einsatz unter Berufung auf die Schutzverantwortung entschließen sollte, dann werden die BRICS Staaten vermutlich dafür sorgen, dass ein RtoP-Einsatz transparenter und operativ vorhersehbarer ausgestaltet wird. Denkbar wären auch Innovationen in der Sicherheitsratsarbeit, wie etwa die Einrichtung eines Komitees, vergleichbar mit den Sanktionskommittees, oder der Einsetzung eines Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs, wie bei Blauhelmmissionen.

Letztendlich hat der Libyen-Einsatz verdeutlicht, daß ein verstärkter Fokus auf die Umsetzung der Norm gelegt werden muss. Die Weiterentwicklung der Schutzverantwortung als Norm ist kein Selbstzweck, sondern bemisst sich letztendlich daran, ob sie dem Schutze der Menschen vor Massenverbrechen dient. Unterhalb der Schwelle einer militärischen Intervention bedarf es weiterer Instrumente als der Verhängung wirtschaftlicher und politischer Sanktionen, die sich in der Vergangenheit zwar als wichtige, aber auch begrenzt wirksame Druckmittel gezeigt haben. Ein weiteres, innovatives Instrument wäre die Herstellung größerer Konflikt-Transparenz durch eine gezielte Beobachtung und Veröffentlichung von Satelliten- oder Drohnenaufnahmen. Das „Satellite Sentinel“ Projekt der Harvard Humanitarian Initiative beobachtet zum Beispiel die Konfliktregion Abyei und Süd-Kordofan im Sudan. Die Initiative konnte auf diese Weise der Regierung in Khartum nicht nur ethnische Säuberungen und Massaker nachweisen, sondern auch die Vorbereitungen einer militärischen Offensive belegen, die daraufhin prompt verschoben wurde. Ähnliche Initiativen wären auch in anderen Konflikten denkbar, um hierdurch  Öffentlichkeit und diplomatischen Druck zu erzeugen sowie gerichtsfeste Informationen, zum Beispiel für den Internationalen Strafgerichtshof, zu sammeln. Der präventive Effekt einer möglichen strafrechtlichen Verfolgung sowie der Herstellung von Transparenz und politischer Verantwortlichkeit sollte nicht unterschätzt werden.

Auch auf regionaler und nationaler Ebene sollte die präventive Komponente der Schutzverantwortung konsequenter verfolgt werden, anstatt derlei Fragen einzig und allein auf UN-Ebene zu verorten. Die Obama-Administration hat z.B. zu diesem Zweck das sog. „Atrocities Prevention Board“ eingesetzt, welches ein hochrangig-besetzter inter-ministerieller Ausschuss zur Verhinderung von Massenverbrechen ist. Auf diese Weise wird auf institutioneller und personeller Ebene Vorsorge dafür getragen, dass die Verhinderung von Massenverbrechen bei der Formulierung der amerikanischen Außenpolitik künftig ausreichend Berücksichtigung findet. Deutschland und andere EU-Länder sollten diesem Beispiel folgen und entsprechende Regierungs- und Parlamentskommissionen ins Leben rufen. Ohne eine deutliche institutionelle, finanzielle und personelle Aufwertung der Prävention von Massenverbrechen wird eine Umsetzung der Schutzverantwortung auf nationaler und regionaler Ebene nur schwer realisierbar sein.

Wenn eine humanitäre Intervention als letztes Mittel zur Beendigung von Massenverbrechen nicht ausgeschlossen werden kann, stellt sich außerdem die Frage einer besseren Umsetzung der Schutzverantwortung auch im militärischen Bereich. Da Projekte wie eine UN-eigene schnelle Eingreiftruppe zur Verhinderung von Massenverbrechen langfristig durch den politischen Widerstand vieler UN-Mitglieder blockiert sind, bleiben mittelfristig einzelstaatliche Initiativen notwendig. Pionierarbeit hat in dieser Hinsicht das amerikanische „Mass Atrocity Response Operations Projekt“ des Carr Center for Human Rights Policy geleistet, indem es Herausforderungen und Lösungswege effektiver humanitärer Interventionen herausgearbeitet hat. Bis zum heutigen Tag ist der Schutz von Zivilbevölkerungen vor schwersten Menschenrechtsverletzungen kein Gegenstand militärischer Planung, Ausbildung oder Doktrin. Innerhalb der Vereinten Nationen, die seit dem Jahr 1999 Blauhelmmissionen mit Zivilschutzmandat in Krisenregionen schicken, stecken Definition, Aufgabenbeschreibung oder Benchmarking bezüglich des Schutzes von Zivilisten weiterhin in den Anfängen. Wann immer UN Blauhelme dabei versagen, eine Bevölkerung vor Übergriffen zu schützen, ist dies unter anderem auf eben jenen konzeptionellen und operativen Mangel zurückzuführen. Auch die NATO musste sich in Libyen dem Problem stellen, was genau der Schutz von Zivilisten beinhaltet und wie dieser praktisch umgesetzt werden kann: Wann z.B. gilt ein Panzer als unmittelbare Bedrohung für die Zivilbevölkerung und ist somit ein legitimes Ziel eines Militäreinsatzes? Reicht hierfür die reine Anwesenheit in einem Konfliktgebiet, muss eine direkte Kampfbeteiligung vorliegen, oder ist die Bewachung eines militärisch wichtigen Knotenpunktes ein ausreichender Grund für eine Attacke? Das grundlegende Problem ist, dass sich eine von Außen erzwungene Verhinderung und Beendigung von Massenverbrechen gegen eine Zivilbevölkerung nicht unter Bezugnahme auf traditionelle militärische Standardprozeduren erreichen lässt. Anstatt eine möglichst große militärische Überlegenheit vor einer Intervention sicherzustellen kommt es bei humanitären Interventionen auf ein möglichst rasches Einschreiten an, um so viele Zivilisten wie möglich vor Gewalt zu schützen.

Es ist notwendig zu verstehen, dass Streitkräfte durch humanitäre Interventionen mit einem weitestgehend unbekannten Operationstypus konfrontiert sind, der einzigartige Herausforderungen birgt und daher einer eigenen zivil-militärischen Doktrin bedarf. Je rascher an dieser Stelle Fortschritte erzielt werden, desto umfangreicher sind die Handlungsoptionen der Politik, im Falle von Massenverbrechen schnell und angemessen reagieren zu können. Trotz des wichtigen Fokus der RtoP auf präventive Konfliktbearbeitung ist es für die Zukunft der Schutzverantwortung deshalb unumgänglich, dass auch das robuste Spektrum der Schutzverantwortung diskutiert und weiterentwickelt wird. Mit Spannung wurde deshalb in New York vernommen, dass der RtoP-Sonderberater des UN-Generalsekretärs, Edward Luck, als Thema für die nächste Generalversammlungsdebatte der Schutzverantwortung ausgerechnet die „interventionistische“, so genannte dritte, Säule des RtoP-Konzepts auf die Tagesordnung setzen will.

 

Über die Autoren:

Volker Lehmann, PhD, ist Senior Policy Analyst im FES Büro New York

Robert Schütte ist Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Genocide Alert

 



[1] Im weiteren Verlauf des Textes werden diese Verbrechen als Massenverbrechen zusammengefasst.

Libyen: Stresstest für die Schutzverantwortung?

Als das Regime des Muammar Ghaddafi zu stürzen begann und die Truppen des Nationalen Übergangsrats Tripolis einnahmen, klopfte man sich in den außenpolitischen Schaltzentralen in London und Paris auf die Schultern: Man hatte richtig entschieden und in einem innerstaatlichen Konflikt Partei ergriffen, um die Bevölkerung von Bengasi vor der angekündigten Rache des Diktators zu schützen.

Unter britischer und französischer Federführung wurde die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats vom März, in welcher der unbedingte Schutz der libyschen Zivilbevölkerung mit allen dafür notwendigen Mitteln gefordert wurde, umgesetzt. Die bei der UN-Generalversammlung 2005 verabschiedete Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“) wurde dadurch in Libyen zum ersten Mal angewendet.

Deutschland hatte sich nicht an dem Einsatz beteiligt und dadurch die sicherheitspolitischen Partner brüskiert und seine Glaubwürdigkeit als langjähriger Verfechter der Schutzverantwortung beschädigt. Gleichwohl fühlte sich kurioser Weise auch Außenminister Westerwelle nach dem Sturz Ghaddafis als Sieger. Die von Deutschland mitgetragenen Sanktionen hätten nämlich ebenfalls zum Sturz des Regimes beigetragen. Westerwelle war im März mit seiner Entscheidung innenpolitisch allerdings nicht allein, Amtsvorgänger Steinmeier und auch der Fraktionschef der Grünen, Jürgen Trittin, sprachen sich ebenfalls gegen den Einsatz militärischer Mittel aus und stellten damit wieder einmal unter Beweis, dass Deutschland nicht bereit ist, ein bestimmender Akteur auf dem internationalen Parkett zu werden, dessen Handeln sich nur auf dem Papier an der Durchsetzung internationaler Normen und der Verteidigung von Menschenrechten ausrichtet. Ruanda und Srebrenica, wesentliche Ausgangspunkte für die Entwicklung der Schutzverantwortung, waren den Herren wohl nicht mehr im Gedächtnis und von der historischen Verantwortung deutscher Außenpolitik (vgl. von Schorlemer) war nichts zu spüren.

Das Konzept der Schutzverantwortung (RtoP) : Entstehung & Hintergrund

Am 24.Oktober 2005 stimmte die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit überwältigender Mehrheit dem Konzept der Schutzverantwortung zu. Dieses wurde auf Betreiben der kanadischen Regierung durch die „International Commission on Intervention and State Sovereignity“ entwickelt.
Ziel der Schutzverantwortung ist es, die Gefahr von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit frühzeitig zu erkennen und bestenfalls zu verhindern oder zumindest zu stoppen. Sollte diese Verantwortung von Nationalstaaten nicht erfüllt oder sogar verletzt werden, geht sie auf die internationale Gemeinschaft über, die dann mit Hilfe von Verhandlungen, Sanktionen und im äußersten Fall militärischen Interventionen die Pflicht hat, Zivilisten zu schützen.
Grundlegend für das Konzept ist die „Responsibility to prevent“, welche besagt, dass alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft dazu verpflichtet sind, Maßnahmen zu ergreifen, um Konflikte präventiv zu unterbinden. Hierzu gehören vor allem Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit wie Armutsbekämpfung, Förderung von guter Regierungsführung und Bildung sowie des Dialogs zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen. Flankiert werden müssen diese Maßnahmen natürlich von einer verantwortungsvollen Außen- und Außenhandelspolitik, die im Zweifel eigene Interessen zurückstellt, wenn dadurch erkennbar das Konfliktpotential in einem Land oder einer Region erhöht wird. In einem Waffenexportland wie Deutschland muss daher stets besonders sorgfältig geprüft werden, was in welche Länder geliefert werden darf. Dabei geht es nicht nur um Panzer, sondern auch um Kleinwaffen und militärisch nutzbare Radar- und Kommunikationstechnik.

In den politischen und feuilletonistischen Debatten wird dieser Teil des Konzepts von seinen Gegnern häufig vernachlässigt. Man beschränkt sich – insbesondere in linken und pazifistischen Kreisen – auf die Handlungsoption der militärischen Intervention (responsibility to react), die gerne als „humanitärer Interventionismus“ oder auch als „Rückkehr zum Faustrecht“ (Ruf) bezeichnet und mit der Vermutung versehen wird, neoimperialistische Motive seien nicht auszuschließen.

Während diese Polemiken eher ideologisch motiviert scheinen, muss das Konzept der Schutzverantwortung kritisch analysiert werden, da durch ihre Anwendung folgende komplexe völkerrechtliche und politische Fragen aufkommen:

  1. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit die Verantwortung des Schutzes von Zivilisten auf die internationale Gemeinschaft übergeht und ggfs. eine Militärintervention gerechtfertigt und legitim ist?
  2. Wo ist die Grenze zwischen Schutzverantwortung und regime change?
  3. Wie kann verhindert werden, dass durch eine militärische Intervention Zivilisten zu Schaden kommen?

Gründe für eine militärische Intervention

Formelle Voraussetzung für die Anwendung der Schutzverantwortung ist eine Resolution des UN-Sicherheitsrats. Aufgrund der unterschiedlichen teils aber auch konkurrierenden geostrategischen und machtpolitischen Interessen der ständigen Mitglieder ist davon auszugehen, dass nur in seltenen und wirklich schwerwiegenden Fällen Resolutionen zu Stande kommen. Dadurch wird einerseits die Vermutung abgeschwächt, die Schutzverantwortung legitimiere militärische Interventionen, die in Wahrheit interessengeleitet sind. Gleichzeitig entsteht durch die Machtbalance im Sicherheitsrat andererseits die Problematik, dass Diktatoren wie Omar Al-Bashir im Sudan aufgrund ihrer guten Beziehungen zu einem ständigen Mitglied vor einer völkerrechtlich legitimen Intervention wie in Libyen geschützt sind, obwohl dort schwerste Menschenrechtsverbrechen begangen wurden und werden. In der derzeitigen Situation muss daher gefragt werden, warum Syrien unter Augen der Weltöffentlichkeit mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten vorgehen darf, während in Libyen eingegriffen wurde. Der Fall Libyen zeigt deutlich welche drei Voraussetzungen noch erfüllt sein müssen, um die Anwendung von militärischen Mitteln zu rechtfertigen:

Erstens muss eine objektiv erkennbare Gefährdungslage für Zivilisten bestehen. Im Falle Libyens hat Ghaddafi selbst den Beweis erbracht, indem er den Demonstranten in Bengasi mit einer Niederschlagung der Proteste mit allen Mitteln drohte. Die ersten Reaktionen der regimetreuen Sicherheitskräfte erstickten jeden Zweifel an dieser Ankündigung umgehend (vgl. HRW).

Zweitens sollten angrenzende Staaten bzw. Regionalorganisationen in die Entscheidung über eine militärische Intervention einbezogen werden (Ischinger). Im Falle Libyens ging die Forderung nach einer Flugverbotszone maßgeblich von der Arabischen Liga aus und der Einsatz wurde trotz mitunter abweichender Stellungsnahmen grundsätzlich mitgetragen. Ohne diese Zustimmung der Arabischen Liga wäre die Intervention sicherlich aus einem anderen Blickwinkel diskutiert worden. Der Schutz der Zivilisten wäre hinter einem abermaligen Aufleben der Huntington-Thesen vom Kampf der Kulturen getreten.

gaddafi Drittens muss es eine klare Roadmap zur Umsetzung der entsprechenden Sicherheitsratsresolution geben. Im Falle Libyen forderte die Resolution 1973 den Schutz von Zivilisten vor Angriffen der Ghaddafi-Truppen, die Durchsetzung der Flugverbotszone und des Waffenembargos sowie Reiseverbote und das Einfrieren des Auslandsvermögens von Personen und Institutionen. Dies hat die NATO erfüllt. Allerdings wurden durch die Waffenlieferung an den NTC seitens Frankreichs die Grenzen der Resolution überschritten. Es handelte sich damit nicht mehr um den reinen Schutz von Zivilisten, sondern bedeutete eine klare Parteinahme innerhalb eines innerstaatlichen Konflikts.
Dieser Vorgang wurde zu Recht kritisiert, man muss allerdings fragen, welche Alternativen es in dieser Situation gibt. Hätte sich die NATO auf ihren eigentlichen Auftrag beschränkt, hätten die Truppen des NTC sicherlich Tripolis noch nicht erreicht, da ihnen auch gegen geschwächte Regierungstruppen die notwendige Schlagkraft gefehlt hätte. Ein langwieriger Bürgerkrieg wäre wohl ausgebrochen, an dessen Ende mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr Opfer zu beklagen gewesen wären. Im Libyen-Konflikt mag dieses Vorgehen durch den Erfolg des NTC und den zweifellos nachgewiesenen Gräueltaten des Regimes (HRW) nachträglich legitimiert sein. Dies darf jedoch unter keinen Umständen zur Regel werden, da die Schutzverantwortung eine Notfall-Option bleiben muss und kein Mittel darstellen sollte, um sich – im Sinne der Bush-Doktrin – Diktatoren zu entledigen. Wann aber ist ein Einsatz zum Schutz von Menschenrechten zu Ende? Der Wortlaut der UN-Resolution deckt alle Maßnahmen die zum Schutz von Zivilisten in Bedrohungslagen („under the threat of attack“) notwendig sind. Es ist schwer festzustellen, wann genau der Punkt erreicht ist, an dem ein Aggressor keine Bedrohung mehr darstellt. Im konkreten Fall musste man zudem noch davon ausgehen, dass Ghaddafi seine Ankündigung von Rache irgendwann wahr machen würde, sei es früher oder später.

„Do no harm“

Auch wenn es sich im Nachhinein nicht mit Gewissheit sagen lässt, ob eine militärische Intervention mehr Menschenleben gerettet oder zivile Opfer verursacht hat, kann bei diesem Einsatz mit hoher Wahrscheinlichkeit von Ersterem ausgegangen werden. Dies entspricht der sog. „Do-no-harm“ Regel, die besagt, dass Interventionen nicht gerechtfertigt sind, wenn die dadurch entstehenden Konsequenzen die Situation in einem Konflikt absehbar verschlimmern.
Es muss daher zunächst Ziel einer jeden militärischen Operation sein, Angriffe auf die Zivilbevölkerung durch Luftschläge und Artillerie zu verhindern und möglichst viele Menschen aus den Kampfzonen zu evakuieren.

In Libyen ist der NATO bei ihren Luftschlägen bis auf wenige Zwischenfälle gelungen,  zivile Opfer zu vermeiden und die libysche Bevölkerung bei ihrem Kampf gegen den Gewaltherrscher Ghaddafi zu unterstützen. Nun geht es darum, der Verantwortung für den Wiederaufbau und damit einhergehend auch der Präventionsverantwortung in dieser Post-Konflikt-Situation mit entwicklungspolitischen Maßnahmen in den Bereichen Sicherheitssektorreform, Verwaltungsaufbau und Förderung der Zivilgesellschaft gerecht zu werden. Eine neue Chance für Deutschland zu zeigen, dass man nicht nur auf dem Papier und bei Sonntagsreden internationale Verantwortung übernehmen will, wenngleich dies das Versagen im Sicherheitsrat nicht wieder gut machen wird.

Langfristig wird diese erfolgreiche Anwendung der Schutzverantwortung ein wichtiges Signal senden, da der Sicherheitsrat bewiesen hat, dass er nicht gänzlich handlungsunfähig ist und die Weltöffentlichkeit schwersten Menschenrechtsverbrechen in innerstaatlichen Konflikten nicht mehr hilflos gegenüber steht. Man muss die angesprochenen Probleme, die mit der Anwendung der Schutzverantwortung einhergehen, sehr ernst nehmen und insbesondere die Zivilgesellschaft muss hier ihre Rolle als kritische Wächterin spielen. Doch Libyen kann als erfolgreichen Stresstest für die Norm der Schutzverantwortung gewertet werden.

Quellen:

Sven Scheid

Offener Brief an MdBs: Demokratische Republik Kongo: Was unternimmt Deutschland zur Unterstützung von Sicherheit und Stabilität im Vorfeld der Wahlen 2011?

Anlässlich der Wahlen in der Demokratischen Republik Kongo am 28. November 2011 versendete Genocide Alert am 08. September 2011 einen offenen Brief an alle Bundestagsfraktionen und ausgewählte Bundestagsabgeordnete, um eine Unterstützung eines sicheren Urnenganges im November zu fordern.

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Osten der Demokratischen Republik Kongo gehört zu einer der gefährlichsten Regionen weltweit. Besonders in den Provinzen Nord- und Süd-Kivu beherrschen zahlreiche gewaltbereite, bewaffnete Rebellengruppen das Territorium. Trotz Unterstützung der UN-Blauhelmmission (MONUSCO) ist die dortige Armee nur begrenzt in der Lage, für die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu sorgen. Plünderungen, Entführungen, Morde und Massenvergewaltigungen gehören seit über einem Jahrzehnt zum grausamen Alltag im Osten des Landes. Wie bewaffnete Auseinandersetzungen bei den Wahlen im Jahr 2006 und die gewaltsame Unterdrückung der Proteste gegen angebliche Manipulationen der Wählerregistrierung vor der Wahlkommission in Kinshasa zeigen, stellen die für den 28. November diesen Jahres anberaumten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ein weiteres Sicherheitsrisiko dar.

Vor diesem Hintergrund fordern wir Sie auf, einen freien und sicheren Urnengang im November 2011 im Kongo zu unterstützen und dadurch einen Beitrag zur Stabilisierung des Landes zu leisten.

Auf eine Entsendung von EUFOR Truppen wird bei dieser Wahl verzichtet, obwohl der Einsatz im Juli 2006 erfolgreich verlief. Umso wichtiger erscheint es, dass Deutschland sich für eine weitreichende und engagierte Überwachung und Begleitung der Wahlen durch die MONUSCO, die EU, die kongolesischen Parteien und die kongolesische Zivilgesellschaft einsetzt.

Von der Europäischen Union wurden 47 Millionen Euro für die Wahlbeobachtung freigegeben. Die Bedingungen für die Entsendung eines Wahlbeobachterteams vor Ort werden eruiert. Das Auftreten von Gewalt Anfang Juli zeigt die unbedingte Notwendigkeit, dass von Seiten der EU, MONUSCO und von Seiten der kongolesischen Parteien und der Zivilgesellschaft Transparenz über den Ablauf der Wahlen hergestellt wird.

Konkret fordert Genocide Alert:

  • Die Entsendung europäischer Wahlbeobachter und den Einsatz und das Training ziviler Wahlbeobachter sicherzustellen, um zu vermeiden, dass eine unfaire und unfreie Wahl durch fehlende Transparenz ermöglicht wird.
  • Die Implementierung eines Code of Conduct zu fordern, der die Parteien dazu verpflichtet, politische Freiheiten einzuhalten, auf Hassreden zu verzichten und die Wahlergebnisse allein durch legale Mittel anzufechten und von Vergeltungsmaßnahmen nach den Wahlen abzusehen. Diese Selbstverpflichtung soll im Rahmen einer öffentlichen Zeremonie von den politischen Parteien unterschrieben werden.
  • Ein Komitee zu schaffen, welches die Einhaltung des Code of Conduct überwacht. Dieses Komitee sollte aus Vertretern der Zivilgesellschaft, der politischen Parteien, diplomatischen Vertretern und der MONUSCO zusammengesetzt sein. Das Komitee überwacht und berichtet über den Ablauf der Wahlen.

Aufgrund der Entscheidung, keine EUFOR Truppen zu entsenden und der noch nicht definierten Aufgaben der europäischen Wahlbeobachtungskommission kommt der MONUSCO eine bedeutende Rolle zu. Der UNO-Sicherheitsrat hat mit der Verlängerung des MONUSCO-Mandats bis zum 30. Juni 2012 auch entschieden, dass MONUSCO die Wahlen technisch und logistisch unterstützen wird. Das allein wird aber nicht ausreichen.

Konkret fordert Genocide Alert:

  • MONUSCO personell und materiell aufzustocken, so dass der Schutz von Zivilisten substantiell verbessert werden kann. Dazu gehören auch die Dokumentation und Verfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen besonders im Osten des Landes.
  • Die weitreichende Unterstützung legitimer Sicherheitsmaßnahmen der kongolesischen Autoritäten durch die MONUSCO.
  • Ein verstärktes Engagement der MONUSCO sowohl vor als auch nach den Wahlen für eine Reform des Sicherheitssektors und der Rekrutierung und Ausbildung der kongolesischen Armee.

Wir würden uns über eine Stellungnahme Ihrerseits freuen und verbleiben bis dahin mit freundlichen Grüßen,

Robert Schütte, Vorsitzender Genocide Alert e.V.

Johanna Schmidt, Projektkoordinatorin, DR Kongo

„Wer von Frieden redet darf von Menschenrechten nicht schweigen“ – Kommentar von Robert Schütte zum Antikriegstag

Wie jedes Jahr am 1. September gedenken die Deutschen am Antikriegstag dem Überfall Deutschlands auf Polen, der den 2. Weltkrieg einläutete. Die Pressemitteilungen und Zeitungsartikel haben den einhelligen Tenor: Für Frieden, gegen Kriege. Ganz ehrlich: Kann es angesichts weltweiter Gewalt etwas Sympathischeres geben als für Frieden zu demonstrieren? Schwerlich, denn wenn man den Friedensbewegten in unserer Gesellschaft eines sicherlich nicht absprechen kann, dann ist es, dass sie es gut meinen. Und doch habe ich mich bewusst und aus Gewissensgründen dazu entschlossen, dem pazifistischen Treiben Wasser in den Wein zu schütten. Ungewöhnlich für einen Menschenrechtler? Dem möchte ich mit reinem Gewissen widersprechen.

Man kann nicht nur, man muss für Frieden sein. Ich kenne in der Tat niemanden, der Krieg gut findet. So sehr ich aber für Frieden bin, so sehr bin ich auch für den Schutz von Menschenrechten. Wer ist denn heutzutage ernsthaft nicht mehr für den Schutz von Menschenrechten? Problematisch wird dies erst, wenn „Frieden“ und „Menschenrechtsschutz“ nicht mehr in Einklang zu bringen sind; wenn aus „Frieden“ „Friedhofsruhe“ wird. Spätestens seit den Völkermorden in Ruanda, Srebrenica und Darfur wissen wir doch, dass die Welt systematischen Massenverbrechen nicht tatenlos zusehen darf. Wenn ein Massenmord an unschuldigen Zivilisten nur noch durch den Einsatz von Militär zu verhindern ist, dann hat die Welt eine Verantwortung zur Rettung dieser Menschen, notfalls auch mit Gewalt. Das macht einen Krieg nicht zu etwas Gutem. Aber manchmal ist der Einsatz von Gewalt leider die am wenigsten schlechte verbleibende Option. In solchen Situationen kann man nicht zur gleichen Zeit Pazifist und Menschenrechtler sein. In solchen Situationen muss man eine Entscheidung treffen im Wissen, dass es manchmal leider keine guten, sondern nur mehr oder weniger schlechte Optionen gibt. Manchmal kann man leider nicht zugleich für Frieden und Menschenrechte sein. Die Frage ist eher, ob man diese bedrückende Tatsache anerkennt oder vor ihr die Augen verschließt.

Um im Bilde zu bleiben muss man leider feststellen, dass in der Friedensbewegung offenbar viele Augen verschlossen bleiben. So wird gegen die NATO, Israel und natürlich die Bundeswehr protestiert. Das ist legitim, vielfach ist dies auch angebracht. Auffällig ist aber, dass dort anscheinend niemand auf die Idee kommt gegen Gaddafi, die Taliban, Assad oder die Hamas zu demonstrieren. Wieso eigentlich nicht? Ist Gaddafi, der gegen seine eigene Bevölkerung zu Kriege zog und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wird, denn kein Wort wert? Sind nicht auch die Taliban zu kritisieren, die laut Vereinten Nationen durch ihre Anschläge auf belebte Märkte und Straßen für mehr als 75% aller toten Zivilisten in Afghanistan verantwortlich sind? Ist nicht auch die Hamas dafür zu verurteilen, dass sie israelische Kinder in ihren Betten ermordet und ihre Raketen in Gaza aus Kindergärten und Krankenhäusern abschießt? Wo ist die Solidarität mit den syrischen Protestierenden, die von ihrer eigenen Regierung zusammengeschossen und gefoltert wird? Bei aller notwendigen Kritik am Westen frage ich mich, wie manche Teile der Friedensbewegung mit ihren noblen Intentionen einen solchen moralischen Blackout haben können.

Die Einseitigkeit mancher Antikriegsproteste konnte in diesem Jahr wieder einmal auf deutschen Ostermärschen beobachtet werden. So war auf einem Plakat zu lesen: „Zivilsten vor der NATO schützen!“ Gerade im Hinblick auf die humanitäre Intervention in Libyen kann man als Menschenrechtler bei solchen Aussagen nur mit den Augen rollen. Es waren die USA, Großbritannien und Frankreich, die im Auftrag der UN mit ihrer Intervention gerade noch rechtzeitig ein Massaker in Bengasi verhindert und das Ende des Gaddafi Regimes ermöglicht haben. Ich bin mir sicher: Wäre es nicht zu einem Eingreifen gekommen, würde sich heute alle Welt fragen, wie wir ein „zweites Srebrenica“ trotz eindeutiger Warnungen zulassen konnten. Mit deutschen Sanktionen hatte weder der Schutz der libyschen Zivilbevölkerung noch der Sturz Gaddafis zu tun. Danke NATO, nein danke Westerwelle möchte man da sagen.

Die humanitäre Intervention war und ist ein leuchtendes Beispiel dafür, dass westliche Soldaten im Notfall auch für die Menschenrechte arabischer und muslimischer Zivilisten kämpfen. Selbst wenn es zu keinem weiteren Einschreiten in Syrien oder am arabischen Golf kommt: Es ist besser, inkonsequent einigen Menschen das Leben zu retten, als konsequent keinen. Weltweit schützen mehr als 100.000 bewaffnete UN-Blauhelmsoldaten unzählige Frauen, Männer und Kinder vor Kriegsgewalt. In vielen Fällen wäre ein solcher Schutz ohne Waffen und Soldaten nicht zu schaffen. Ohne diese Friedenstruppen würden noch mehr Frauen im Kongo vergewaltigt, noch mehr Männer in Darfur ermordet und noch mehr Kinder zu Soldaten oder Sexsklaven gemacht. Selbst in Afghanistan sorgt der Einsatz der afghanischen Armee und ihrer internationalen Verbündeten (inklusive Deutschland) dafür, dass Menschenrechte inzwischen nicht wie unter den Taliban die letzte Geige spielen.

Natürlich kann man trotzdem begründet gegen Einsätze der Bundeswehr sein. Dennoch müssen auch knallharte Pazifisten vom ihrem hohen Ross der moralischen Überlegenheit absitzen, weil ihr grundsätzliches „Nein“ zu Militäreinsätzen seine eigenen Opfer fordert: Seien es Männer in Libyen, Frauen im Kongo oder Kinder in Darfur. Wer also am 1. September „nie wieder Krieg“ ruft, der sollte über ein „nie wieder Auschwitz“ nicht schweigen.

Robert Schütte (follow me on twitter: robert_schuette

R2P – ein zivilisatorischer Fortschritt: Ein großer Schritt für die Menschheit

Das Eingreifen der NATO anhand eines UN-Mandats war das richtige Signal. Die Staatengemeinschaft hat gerade noch rechtzeitig ein libysches Srebrenica verhindern können. Die Schutzverantwortung ist der manifestierte Wille zum Schutz der Menschenrechte – eine Schande, dass Deutschland dabei nur zuguckt.

 

Mit der Autorisierung einer humanitären Intervention in Libyen hat die UN eine historische Entscheidung getroffen. Unter dem Banner der Schutzverantwortung (responsibility to protect, kurz: R2P) wurde eine internationale Koalition autorisiert, die Kriegsmaschinerie Gaddafis zu stoppen und weitere Menschenrechtsverbrechen zu verhindern. Zuvor hatte der libysche Machthaber Gaddafi eine brutale Säuberungsaktion angedroht und zivile Wohngebiete bombardieren lassen. Wegen des Verdachts auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt inzwischen der Internationale Strafgerichtshof. Die Intervention kam gerade noch rechtzeitig, um ein Massaker in der Stadt Bengasi zu verhindern. Das Eingreifen der Alliierten hat somit letztlich Tausenden Menschen das Leben gerettet und ein libysches Srebrenica verhindert. Ohne die Intervention würde heute wohl diskutiert, wie die Welt trotz besseren Wissens ein solches Verbrechen zulassen konnte.
Ein libysches Srebrenica verhindert
Mit ihrem Eingreifen hat die UN die im Jahr 2005 einstimmig verabschiedete Norm der Schutzverantwortung umgesetzt: Wenn ein Staat seine eigene Bevölkerung nicht vor massiven Menschenrechtsbrüchen schützen kann oder will, dann muss die Weltgemeinschaft diese Schutzverantwortung übernehmen. Das Ziel ist hierbei kein Regime-Wechsel, sondern die Verhinderung von Massenverbrechen an wehrlosen Zivilisten. Als letztes Mittel ist dabei auch der Einsatz von Gewalt erlaubt, wenn alle zivilen Mittel wirkungslos geblieben sind.Trotz großer Unterstützung der Norm gibt es auch Gegenstimmen. Nassauer kritisiert beispielsweise, dass die R2P eine Aufweichung des internationalen Nichteinmischungsverbots sei und den entgrenzten Einsatz von Militär ermögliche. In der Tat ist die internationale Gemeinschaft nach den bitteren Erfahrungen der letzten 20 Jahre zu der Einsicht gekommen, dass kein Staat ein Recht auf Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen hat. Die Schutzverantwortung schreibt der Weltgemeinschaft deswegen eine klare Verantwortung für Leib und Leben bedrohter Bevölkerungen zu, wenn nationale Regierungen versagen oder sogar selbst für Massenverbrechen verantwortlich sind. Weltpolitisch ist das ein enormer Fortschritt. Auch das Völkerrecht wird mit der R2P vom Kopf auf die Füße gestellt. Es würde seinen ureigensten zivilisatorischen Zweck verfehlen, wenn es die Rettung unschuldiger Zivilisten vor schwersten Menschenrechtsverbrechen verhindern würde.

Deutschland auf der falschen Seite der Geschichte
In Libyen manifestiert sich der Wille der UN, Massenverbrechen zu beenden und zu bestrafen. Andernorts jedoch zögert der Sicherheitsrat, weshalb manche kritisieren: „Wenn wir nicht in Syrien, Darfur und Somalia eingreifen, dann bitte auch nicht in Libyen.“ Die Kritik an der selektiven Ausübung der R2P ist berechtigt, und dennoch muss man fragen: Ist es nicht besser, inkonsequent einigen Menschen das Leben zu retten als konsequent niemandem? Sollte nicht zumindest dort geholfen werden, wo eine Verhinderung von Massakern an Zivilisten international durchsetzbar ist? In Libyen wurde die Chance genutzt, zu beweisen, dass die R2P funktioniert und auch für muslimische, arabische und afrikanische Zivilisten gilt. Es ist tragisch, dass sich Deutschland bei dieser historischen Entscheidung auf die falsche Seite der Geschichte gestellt hat.
von Robert Schütte

Dieser Artikel erschien am 4. Mai 2011 auf der Websites von The European hier.

Warum ich keine Ostermärsche besuche

Wie jedes Jahr zum Ende der Fastenzeit ziehen auch heute wieder Ostermärsche durch deutsche Städte und protestieren für Frieden und gegen Kriege. Kann es etwas Sympathischeres geben als Menschen, die an einem freien Tag nicht shoppen gehen sondern für Frieden demonstrieren? Schwerlich, denn wenn man den Friedensbewegten in unserer Gesellschaft eines sicherlich nicht absprechen kann, dann ist es, dass sie es gut gemeint haben. Und doch habe ich mich bewusst und aus Gewissensgründen dafür entschlossen, den pazifistischen Protestzügen fern zu bleiben. Ungewöhnlich für einen Menschenrechtler? Dem möchte ich mit reinem Gewissen widersprechen.

Man kann nicht nur, man muss für Frieden sein. Ich kenne in der Tat niemanden, der Krieg gut findet. So sehr ich aber für Frieden bin, so sehr bin ich auch für den Schutz von Menschenrechten. Wer ist denn heutzutage ernsthaft nicht mehr für den Schutz von Menschenrechten? Problematisch wird dies erst, wenn „Frieden“ und „Menschenrechtsschutz“ nicht mehr in Einklang zu bringen sind; wenn aus „Frieden“ „Friedhofsruhe“ wird. Spätestens seit den Völkermorden in Ruanda, Srebrenica und Darfur weiß ich, dass die Welt systematischen Massenverbrechen nicht tatenlos zusehen darf. Wenn ein Massenmord an unschuldigen Zivilisten nur noch durch den Einsatz von Militär zu verhindern ist, dann hat die Welt eine Verantwortung zur Rettung dieser Menschen, notfalls auch mit Gewalt. Das macht einen Krieg nicht zu etwas Gutem. Aber manchmal ist der Einsatz von Gewalt leider die am wenigsten schlechte verbleibende Option. In solchen Situationen kann man nicht zur gleichen Zeit Pazifist und Menschenrechtler sein. In solchen Situationen muss man eine Entscheidung treffen im Wissen, dass es keine guten, sondern nur mehr oder weniger schlechte Optionen gibt. Manchmal kann man leider nicht zugleich für Frieden und Menschenrechte sein. Die Frage ist eher, ob man diese bedrückende Tatsache anerkennt oder vor ihr die Augen verschließt.

Um im Bilde zu bleiben muss man leider feststellen, dass auf den Ostermärschen offenbar viele Augen verschlossen bleiben. So wird gegen die NATO, Israel und natürlich die Bundeswehr protestiert. Das ist legitim, vielfach ist dies auch angebracht. Auffällig ist nur, dass dort anscheinend niemand auf die Idee kommt gegen Gaddafi, die Taliban oder auch die Hamas zu demonstrieren. Wieso eigentlich nicht? Ist Gaddafi, der gegen seine eigene Bevölkerung zu Kriege zieht und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wird, denn kein Wort wert? Sind nicht auch die Taliban zu kritisieren, die laut Vereinten Nationen durch ihre Anschläge auf belebte Märkte und Straßen für mehr als 75% aller toten Zivilisten in Afghanistan verantwortlich sind? Ist nicht auch die Hamas dafür zu verurteilen, dass sie israelische Kinder in ihren Betten ermordet und ihre Raketen in Gaza aus Kindergärten und Krankenhäusern abschießt? Bei aller notwendigen Kritik am Westen frage ich mich, wie die Friedensbewegung mit ihren noblen Intentionen einen solchen moralischen Blackout haben kann.

Die Einseitigkeit des Protests der Ostermärsche wurde dieses Jahr leider zusätzlich durch die Geschichtsvergessenheit und Ignoranz mancher Demonstranten unterstrichen. So war auf einem Plakat zu lesen: „Zivilsten vor der NATO schützen!“ Gerade im Hinblick auf die humanitäre Intervention in Libyen kann man als Menschenrechtler bei solchen Aussagen nur mit den Augen rollen. Es waren die USA, Großbritannien und Frankreich, die im Auftrag der UN mit ihrer Intervention gerade noch rechtzeitig ein Massaker in Bengasi verhindert haben. Ich bin mir sicher: Wäre es nicht zu einem Eingreifen gekommen, würde sich heute alle Welt fragen, wie wir ein „zweites Srebrenica“ trotz eindeutiger Warnungen zulassen konnten. Die Rettung hunderter oder tausender Zivilisten vor dem sicheren Tod würde alleine schon ausreichen, um die aktuelle Intervention als Erfolg zu bezeichnen. Es gibt bis zum heutigen Tag keinen einzigen bestätigten Bericht von einem durch die NATO getöteten libyschen Zivilisten, was der Presse bisher leider keine Meldung wert war. Es gibt nichts Verwerfliches daran, dass die NATO Gaddafi daran hindert, Wohngebiete aus der Luft, zu Lande und von der See her zu bombardieren. Für hunderttausende libysche Zivilisten ist die NATO inzwischen zu einer Lebensversicherung avanciert. Die humanitäre Intervention war und ist ein leuchtendes Beispiel dafür, dass westliche Soldaten im Notfall auch für die Menschenrechte arabischer und muslimischer Zivilisten kämpfen. Selbst wenn es zu keinem weiteren Einschreiten in Syrien oder am arabischen Golf kommt: Es ist besser, inkonsequent einigen Menschen das Leben zu retten, als konsequent keinen.

Weltweit schützen mehr als 120.000 bewaffnete UN-Blauhelmsoldaten unzählige Frauen, Männer und Kinder vor Kriegsgewalt. In vielen Fällen wäre ein solcher Schutz ohne Waffen und Soldaten nicht zu schaffen. Ohne diese Friedenstruppen würden noch mehr Frauen im Kongo vergewaltigt, noch mehr Männer in Darfur ermordet und noch mehr Kinder zu Soldaten oder Sexsklaven gemacht. Selbst in Afghanistan sorgt der Einsatz der afghanischen Armee und ihrer internationalen Verbündeten (inklusive Deutschland) dafür, dass Frauen und Mädchen endlich eine gewisse Chance auf ein menschenwürdiges Leben haben. Natürlich kann man trotzdem begründet gegen Einsätze der Bundeswehr und Militär überhaupt sein. Dennoch müssen auch knallharte Pazifisten vom ihrem hohen Ross der moralischen Überlegenheit absitzen, weil ihr grundsätzliches „Nein“ zu Militäreinsätzen seine eigenen Opfer fordert: Seien es Männer in Libyen, Frauen im Kongo oder Kinder in Darfur.

Robert Schütte ist Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation „Genocide Alert“ (www.genocide-alert.de). Er ist erreichbar unter robert.schuette@genocide-alert.de sowie auf Twitter unter robert_schuette.

UN-Einsatz an der Elfenbeinküste: Die Rückkehr zum Verantwortungsbewusstsein

Was sich dieser Tage in Côte d’Ivoire ereignet, ist mit Blick auf internationale Schutzverantwortung ein Meilenstein. Gemeinsam mit den Geschehnissen in Libyen und der dort umfänglich wahrgenommenen Responsibility To Protect, steht die mutmaßliche Wende im andauernden Konflikt in dem westafrikanischen Land für eine neue Art und Weise seitens der internationalen Staatengemeinschaft, mit derartigen Situationen umzugehen. Neuer Mut sowie Ent- und Geschlossenheit, die theoretisch längst als wichtig und unabdingbar eingestuften Veränderungen auch mit praktischen Mitteln zu erreichen, scheint endlich Einzug zu halten.

 

Laurent Gbagbo, faktisch regierender Präsident Côte d’Ivoires seit 2000, befindet sich in Gesprächen mit französischen Botschaftern, die seinen Rückzug vom politischen Parkett beschließen sollen. Dem vorausgegangen sind massive Unruhen seit der Präsidentschaftswahl im Oktober 2010, in deren Folge der bis 2005 offiziell amtierende Präsident Gbagbo wie auch sein Kontrahent Alassane Ouattara den Eid leisteten und damit die Präsidentschaft annahmen.
Bürgerkriegsartige Zustände forderten seitdem hunderte Menschenleben und veranlassten über eine Million Menschen zur Flucht, so die Zahlen der UN.

Bereits seit 2004 ist die UN im Rahmen der Operation UNOCI (United Nations Operation in Côte d’Ivoire) in den Konflikt involviert, um mit Blauhelmtruppen das Ende der Kampfhandlungen sowie Entwaffnung und die Wiedervereinigung des Landes zu beobachten und zu unterstützen. Das Land ist seit dem Putschversuch gegen Gbagbo vom 19.September 2002 praktisch in zwei Hälften geteilt. In den von Oppositionellen besetzten Norden und den von regierungstreuen Truppen kontrollierten Süden. Infolge dieses Putsches entsendete die UN Blauhelme, die gemeinsam mit französischen Soldaten weitere Zusammenstöße zwischen Norden und Süden verhindern sollten. Während in den Folgejahren der Staatsapparat um Machthaber Gbagbo immer wieder neu angesetzte Präsidentschaftswahlen zu verhindern wusste, wurden diese nun am 31.10. (erster Wahlgang) resp. 28.11.2010 (Stichwahl Gbagbo/Ouattara) durchgeführt, wobei Ouattara mit 54.1% als Sieger aus ihnen hervorging. Allerdings missachtete Gbagbo dieses Ergebnis und ließ durch den regierungsnahen Verfassungsrat das Wahlergebnis manipulieren, um selbst im Amt bleiben zu können. Dies wurde von der internationalen Staatengemeinschaft weitgehend abgelehnt, so wurde u.a. seitens der Europäischen Union, der Afrikanischen Union sowie der USA der zweite Kandidat der Stichwahl, Ouattara, als rechtmäßiger Präsident anerkannt. Des Weiteren nahm der Unmut im Volk wieder zu, das sich eine Lösung des Konflikts durch die Präsidentschaftswahlen erhofft hatte.

Die seither immer heftiger gewordenen Auseinandersetzungen im Land veranlassten die UN, am 30.03.2011 die Resolution 1975 zu verabschieden, die das UNOCI Mandat um „alle notwendigen Maßnahmen“ zum Schutze der Zivilbevölkerung erweiterte.

Das so legitimierte Eingreifen der UN-Truppen in Zusammenarbeit mit der französischen Armee vor Ort markiert eine Zäsur in der Selbstsicherheit westlicher Staaten, die sich lange im Schatten der andauernden Konflikte am Hindukusch und im Irak verloren hatte. Es fehlte schlicht die Entschlossenheit, sich systematischer Gewalt von Despoten militärisch zu widersetzen. Dieser Zustand kollektiver Lethargie scheint nun überwunden zu sein. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy erklärte während seiner Ansprache zum Einsatz der französischen Luftwaffe in Libyen, dass, „jeder Herrscher verstehen muss […], dass die Reaktion der internationalen Gemeinschaft und Europas von diesem Moment an jedes Mal die gleiche sein wird: Wir werden auf der Seite der friedlichen Demonstranten sein, welche nicht mit Gewalt unterdrückt werden dürfen.“

Die Resolution 1975 zum Einsatz in der Elfenbeinküste und auch die humanitäre Intervention in Libyen zeigt, dass die Mitglieder der Vereinten Nationen ihre Schutzverantwortung jetzt ernst nehmen und auch bei zukünftigen Problemen durchaus zu agieren bereit scheinen. Diese erfreuliche wie notwendige Wende gilt es mitzutragen, speziell auch von Seiten der Bundesregierung, die als wichtiger Bestandteil der EU ihrem Führungsanspruch gerecht werden und sich klar zu ihrer Schutzverantwortung und der Wahrung von Menschenrechten weltweit bekennen muss.


Jan Dannheisig / Michael Barrabas

 

Sudan Before the Split: Germany can protect civilians by means of diplomacy – if it acts now

The revolution in Egypt brought down a dictator and spurred hopes for democracy, while Libya’s uprising brought on a civil war in which the West is now intervening to protect civilians. Sudan borders both of these countries, and in some sense it also borders both of these political scenarios. Civilians there face grave dangers that have only grown with the convulsions seizing the region. Fortunately, the January referendum in which South Sudan chose to separate from the north was largely peaceful. But fighting in the border region of Abyei has recently forced thousands to flee, and there could be massive bloodshed when South Sudan formally declares its independence July 9. With urgent diplomatic action, Germany can help to ensure that such violence does not break out – and that the international community will not have to face the prospect of a second intervention in the region.

Germany must do all it can to secure the progress that has been achieved in South Sudan and to finally find a solution to the simmering Darfur conflict. Doing this will require short-, medium- and long-term policy tools. In this Policy Brief, Genocide Alert issues short-term recommendations – steps that Germany should take immediately. There are less than four months left until the next turning point in Sudan. Humanitarian crises are resolved most effectively and cheaply if they are prevented from arising in the first place.

Germany should immediately:

  • Advocate for the strengthening of the U.N. peacekeeping missions UNMIS (South Sudan) and UNAMID (Darfur). UNMIS’ mandate will expire in July. It must be renewed not only for the new state of South Sudan, but also for the critical border regions that will remain with the north. Khartoum must be persuaded to accept a continued peacekeeping presence in these flashpoint areas under its control. Both U.N. missions also urgently need better mobility. The Sudanese Armed Force’s practice of barring peacekeepers from access to crisis spots must no longer be tolerated. The matter of finding 20 critically needed helicopters for UNAMID must move from the realm of discussion, where it has resided for years, to action. Finally, troop-contributing countries should be asked to lift geographic restrictions on the deployment of their soldiers. (For more details, see Genocide Alert’s January Policy Brief here.)
  • Develop a detailed Sudan policy that maps out crisis scenarios and coordinates action across the political, economic, development-assistance and military realms. The German Government announced a new “Sudan concept” in October, but this is no more than a four-page document in which diplomacy for the post-referendum phase is treated in only half a page. The plan must be deepened and the unclassified portions publicized.
  • Pressure Khartoum and Juba (South Sudan) to settle the many unresolved questions of the independence process. It is particularly important to clear the uncertainty over the future of oil revenues. Germany should observe the negotiations on oil, debts, border determination, citizenship and border control, etc. at the highest levels (see next point). Chancellor Merkel should be prepared to intervene personally in the discussions if necessary, acting in cooperation with the African Union, U.S. and other observers.
  • Name a high-ranking special envoy for Sudan. This person would coordinate diplomatic efforts in New York, Khartoum, Brussels and elsewhere around the world; have direct access to Chancellor Merkel or Foreign Minister Westerwelle; and lead the German observation of North-South negotiations.
  • Send the right signals on Darfur. Germany should also observe the stalled Darfur peace talks at the highest levels. Germany should publicly commit itself to the international obligation to ensure that the more than 2 million refugees from the region can return home safely to rebuild their lives. And Germany should engage in diplomacy to ensure that Khartoum does not see international incentives for peaceful behavior in South Sudan as license to foment war in Darfur.
  • Prove willing to deploy diplomatic and economic pressure. Doing so will first require a build-up of political will within the German policy community. As the January GA Policy Brief explained, Germany has several points of leverage vis-a-vis Khartoum. They include the potential downgrading of diplomatic relations, German objection to international debt relief for Khartoum, and the threat of sanctions against key regime members, similar to those the E.U. recently imposed on Ivory Coast’s Laurent Gbagbo. Serious diplomacy also means that Germany will lead in the E.U. but will not allow its Sudan policy to fall victim to consensus politics. At the U.N. Security Council, Germany’s charge is to be a strong voice for the people of Sudan and not to shy away from disagreements with China and Russia. Finally, the importance of high-level attention should not be underestimated. When Chancellor Merkel and Foreign Minister Westerwelle express their concern about Sudan, they send an important signal to German media, to German diplomats, and not least to the regime in Khartoum.
  • Continue to provide humanitarian aid, development assistance and support for the buildup of institutions in South Sudan. To prevent a failed state and the eruption of conflict among groups in South Sudan, the South Sudanese people must see improvements in their living conditions. Road construction, improved access to water and health care, and employment programs for youth can all be important peace dividends. Moreover, Germany should support the construction of state institutions and police forces. As it has largely done in the past, Germany should ensure that its aid is sensitive to the dynamics of the region’s complex conflicts.

It is time to win the peace in Sudan. Germany should not be missing from this effort.
David Dagan, Christoph Schlimpert, Sarah Brockmeier

For more information on Sudan, also see the January Genocide Alert Policy Brief on the Referendum in Sudan, as well as our article on the dangers facing the Sudan after the referendum (in German).

Sudan vor der Spaltung: Deutschland kann durch diplomatische Maßnahmen Zivilisten schützen – wenn es jetzt handelt

In Ägypten hat die Revolution einen Diktator gestürzt und Hoffnungen auf ein neues System beflügelt, in Libyen mündete sie in einem Bürgerkrieg, in dem der Western nun zum Schutz von Zivilisten interveniert. Zwischen diesen beiden Ländern und politischen Situationen liegt der Sudan. Dort sind Zivilisten weiterhin großen Gefahren ausgesetzt, die sich mit den Unruhen in der Region nur verschärfen. Das Referendum, in dem der Südsudan im Januar seine Unabhängigkeit beschlossen hat, verlief zwar weitgehend friedlich. Zuletzt haben jedoch Kämpfe in der Grenzregion Abyei tausende Menschen zur Flucht gezwungen, und mit der offiziellen Teilung am 9. Juli könnte es zu massiver Gewaltanwendung kommen. Deutschland kann mit sofortiger Diplomatie dazu beitragen, dass dies verhindert wird – und dass die internationale Gemeinschafts somit nicht unter Druck kommt, eine zweite humanitäre Intervention in der Region zu lancieren.
Deutschland muss alles tun, um den bisherigen Fortschritt im Süden abzusichern und endlich eine Lösung des Darfurkonflikts zu finden. Dazu werden kurzfristige sowie mittel- und langfristige Maßnahmen notwendig sein. Im vorliegenden Policy Brief stellt Genocide Alert kurzfristige Empfehlungen vor – Maßnahmen, die Deutschland umgehend ergreifen sollte. Es bleiben bis zum nächsten Wendepunkt im Sudan nur noch vier Monate Zeit. Humanitäre Krisen sind am besten und billigsten gelöst, wenn sie von vornherein verhindert werden.Deutschland sollte umgehend:

    • Sich intensiv für eine Stärkung der UNO Blauhelmtruppen UNMIS (Südsudan) und UNAMID (Darfur) einsetzen. Das UNMIS Mandat wird im Juli auslaufen. Es muss nicht nur für den neuen Staat im Südsudan sondern auch für die kritischen Grenzgebiete im Nordsudan erneuert werden. Hierzu muss die Diplomatie alles daran setzten, Khartum in der Ablehnung  einer Verlängerung umzustimmen. Außerdem muss die volle Mobilität beider Missionen garantiert werden. Die Praxis der sudanesischen Armee, Blauhelmen den Zugang zu Krisengebieten zu verweigern, darf nicht mehr toleriert werden. Und die nun Jahre andauernde Diskussion über 20 fehlende Helikopter für UNAMID muss endlich in Handeln umgesetzt werden. Zu guter Letzt sollten die truppenstellenden Länder gebeten werden, geographische Beschränkungen für den Einsatz ihrer Soldaten aufzuheben. (Weitere Details siehe GA Policy Brief vom Januar hier).
    • Einen detaillierten Plan für seine Sudanpolitik zusammenstellen, in dem Krisenszenarien durchdacht sind und in dem politische, wirtschaftliche, entwicklungspolitische und militärische Maßnahmen integriert werden. Die Bundesregierung hat zwar im Oktober ein neues „Sudankonzept“ angekündigt, doch dies besteht lediglich aus vier Seiten. Diplomatische Maßnahmen für die post-Referendum-Phase werden sogar auf nur einer halben Seite angerissen. Der Plan sollte vertieft und soweit wie möglich öffentlich gemacht werden.
    • Druck auf Khartum und Juba (Südsudan) ausüben, die offenen Fragen des Unabhängigkeitsprozesses rasch zu klären. Insbesondere muss die Ungewissheit über die Zukunft der Öleinkommen beseitigt werden. Deutschland sollte die Verhandlungen über Öl, Schulden, Staatsangehörigkeit und Grenzkontrollen, Grenzziehung, usw. auf höchster Ebene beobachten (siehe nächsten Punkt). In Kooperation mit AU, USA und anderen Beobachtern sollte Bundeskanzlerin Merkel bereit sein, sich, falls notwendig, persönlich in die Gespräche einzuschalten. Deutschland sollte sich außerdem bereit erklären, wirtschaftliche Abkommen mittels Beobachtern zu garantieren.
    • Einen hochrangigen Diplomaten als Sudanbeauftragten ernennen. Diese Person würde die diplomatischen Bemühungen in New York, Khartum, Brüssel und anderswo koordinieren; direkten Zugang zu Außenminister Westerwelle oder Kanzlerin Merkel haben; und die deutsche Beobachtung der Nord-Süd Verhandlungen leiten.
    • Die richtigen Signale zu Darfur senden. Auch die Darfur-Friedensgespräche muss Deutschland auf höchster Ebene beobachten. Deutschland sollte sich öffentlich zu der internationalen Verpflichtung bekennen, die Rückkehr der über 2 Millionen Flüchtlinge und den Wiederaufbau ihrer Existenzen zu ermöglichen. Diplomatisch sollte Deutschland sich dafür einsetzen, dass Khartum die internationalen Anreize zu einer friedlichen Lösung im Süden nicht als Lizenz dafür sieht, in Darfur weiter auf Krieg zu setzen.
    • Bereitschaft zeigen, diplomatische und wirtschaftliche Hebel anzuwenden. Dazu muss erst der politische Wille innerhalb der deutschen Politik aufgebaut werden. Wie im GA Policy Briefvom Januar beschrieben, kann Deutschland gegenüber Khartum, falls notwendig, mehrere Druckmittel einsetzen. Dazu gehören die Herabstufung bilateraler diplomatischer Beziehungen, die deutsche Ablehnung eines internationalen Schuldenerlasses für das Regime und eine Androhung von personenbezogenen Sanktionen, wie sie die EU zuletzt gegen den ivorischen Präsidenten Laurent Gbagbo beschlossen hat. Diplomatischen Einsatz leisten bedeutet auch, in der EU zu führen, nicht aber die Sudanpolitik im Konsens ersticken zu lassen. Im UNO-Sicherheitsrat gilt es, eine kraftvolle Stimme für die sudanesische Bevölkerung zu bilden, und gegebenenfalls auch nicht vor einer Unstimmigkeit mit China und Russland zurückzuschrecken. Die Bedeutung von Aufmerksamkeit auf höchster Ebene darf außerdem nicht unterschätzt werden. Wenn Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Westerwelle ihre Besorgnis über den Sudan ausdrücken, setzt dies ein wichtiges Signal für die deutschen Medien, die deutschen Diplomaten und nicht zuletzt für das Regime in Khartum.
  • Weiterhin humanitäre Hilfe sowie Entwicklungshilfe leisten und den Aufbau von Institutionen im Südsudan unterstützen. Um einen gescheiterten Staat sowie das Ausbrechen von Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen im Südsudan zu verhindern, muss die südsudanesische Bevölkerung Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen spüren. Wichtige Friedensdividenden in diesem Zusammenhang sind der Bau von Straßen, besserer Zugang zu Wasser und Gesundheitsversorgung, und Beschäftigungsprogramme für Jugendliche. Des Weiteren sollte Deutschland den Aufbau von staatlichen Institutionen und Polizei  unterstützen. Wie weitestgehend bisher geschehen, sollte die deutsche Hilfe stets die Dynamiken der verschiedenen Konflikte berücksichtigen.

Im Sudan geht es darum, den Frieden zu gewinnen. Deutschland darf dabei nicht fehlen.

 

David Dagan, Christoph Schlimpert, Sarah Brockmeier

Die PDF Version dieses Policy Briefs ist hier zu finden. Mehr Hintergrundinformationen zur Situation im Sudan sind zu finden im Genocide Alert Policy Brief vom Januar, sowie Genocide Alert Artikeln zu den Gefahren nach dem Referendum und derzeitigen Situation im Sudan

Humanitäre Intervention in Libyen: Eine historische Entscheidung

Es ist ein historischer Moment: Mit Resolution 1973 hat der UN-Sicherheitsrat ein Mandat zur Durchsetzung einer Flugverbotszone über Libyen sowie aller notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung erlassen. Ausgenommen hiervon ist nur der Einsatz von Besatzungstruppen auf libyschem Boden. Endlich setzt die internationale Gemeinschaft ein Zeichen für Menschenrechte, inklusive der Ermächtigung, Deklarationen nun auch Taten folgen zu lassen. Es sind offenbar keine geo-strategischen Interessen, sondern humanitäre Motive, die die Welt endlich zu einem Eingreifen veranlasst haben. Spät, aber nicht zu spät macht die internationale Gemeinschaft klar, dass sie zur Wahrnehmung ihrer Schutzverantwortung gegenüber der libyschen Bevölkerung willens ist.

Für Gaddafi bedeutet dies, dass weitere Bombardierungen durch seine Luftwaffe künftig durch Kampfjets Frankreichs, Großbritanniens, Kanadas, der USA sowie weiterer Staaten verhindert werden. Außerdem ist auch ein Ausschalten von vorrückenden Panzern oder anderer Bodenziele abgedeckt, wenn diese die Zivilbevölkerung gefährden sollten. Bemerkenswert ist außerdem, dass es sich nicht um einen westlichen Alleingang handelt. Die arabische Liga hat nicht nur selbst die Einrichtung einer Flugverbotszone gefordert, sondern ist sogar bereit bei der militärischen Umsetzung zu helfen. Nach allem Zwist und bösem Blut der letzten zehn Jahre handelt es sich um einen bemerkenswerten Schulterschluss zwischen Orient und Okzident, wenn auch nur im speziellen Falle Libyens. Für die westliche Staatenwelt bedeutet die humanitäre Intervention zum Schutz des libyschen Volkes vor seiner eigenen Regierung eine Handreichung an die muslimischen Völker dieser Welt mit der Aussage: Auch für bedrohte Muslime ist der Westen bereit, das Leben eigener Soldaten aufs Spiel zu setzen. Angesichts einer Mehrheit kriegsmüder Wähler daheim und einer schwierigen Mission am Hindukusch ist dies eine mehr als beachtliche Entscheidung.

Zwar haben Russland und China nicht für Sicherheitsratsresolution 1973 gestimmt, sie haben aber auch nicht ihr Veto dagegen eingelegt. Dies allein kann schon als ein Schritt in die richtige Richtung gewertet werden wenn man bedenkt, dass beide Länder ansonsten jeglichem Eingriff in die Souveränität dritter Staaten zu Menschenrechtszwecken extrem skeptisch gegenüberstehen. Der wirkliche Wermutstropfen ist vielmehr die Enthaltung Brasiliens, Indiens und Deutschlands. Alle drei Staaten haben sich für einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat beworben und haben nun doch bewiesen, dass sie offenbar zur Übernahme von Verantwortung im weltweiten Maßstab nicht in der Lage sind. Von den aufstrebenden Mächten Indien und Brasilien hätte man mehr erwarten können. Von Deutschland hätte man mehr erwarten müssen. Mit ihrer Enthaltung hat sich die schwarz-gelbe Bundesregierung im Westen isoliert, durch ihre Blockadehaltung hat sie die Möglichkeit einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik verhindert. Vor allem aber hat sie mit ihrer ablehnenden Positionierung populistischen Pazifismus mit Friedens- und Menschenrechtspolitik verwechselt. Man muss von Glück reden, dass Deutschlands Stimme in der Welt kein Gehör gefunden hat. Die Bundesregierung hat sich für die falsche Seite der Geschichte entschieden.

von Robert Schütte, Vorsitzender von Genocide Alert