Schädel eines Opfers des Massakers in Srebrenica in einem exhumierten Massengrab bei Potocari, Bosnien und Herzegovina im Juli 2007. Photo by Adam Jones adamjones.freeservers.com

Hintergrund: Der Völkermord in Srebrenica 1995

Zwischen dem 11. und 17. Juli 1995 wurden in Srebrenica über 8000 Bosniaken von bosnisch-serbischen Truppen ermordet. Die in Srebrenica stationierten Blauhelme waren nicht im Stande die dort von den Vereinten Nationen errichtete Schutzzone zu verteidigen. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und der Internationale Gerichtshof haben diese Verbrechen später als Genozid bewertet. Srebrenica zeigt, dass das Ignorieren bekannter Warnzeichen es den Tätern erleichtert, ihre Pläne durchzuführen. Warnzeichen hätten früher erkannt werden und Maßnahmen eingeleitet werden können, um den Massenmord zu verhindern. Dieser Text gibt einen kurzen Überblick über die damaligen Geschehnisse.

Der Krieg in Bosnien-Herzegowina 1992-1995

Nach der Loslösung Bosnien-Herzegowinas von Jugoslawien im Februar 1992 erklärten die serbischen Gebiete des neuen Staates ebenfalls ihre Unabhängigkeit als Republik Srpska. In der serbischen Bevölkerung war bereits in den Jahren zuvor durch nationalistische Politiker und Intellektuelle Angst vor anderen Ethnien geschürt worden. In Hetzkampagnen wurde ein Völkermord an den Serben durch die anderen Völker Jugoslawiens als Bedrohung ausgemalt. Der Zerfall des Vielvölkerstaats schien diese Ängste zu bestätigen. Am 6. April 1992 kam es schließlich zum Kriegsausbruch in Bosnien Herzegowina und serbische Truppen versuchten die Kontrolle über das Land zurückzuerlangen. Zwar zogen sich die offiziellen Truppen der Föderalen Republik Jugoslawiens aus Bosnien Herzegowina zurück, es blieb jedoch eine große Zahl gut bewaffneter und trainierter Truppen im Land zurück die nunmehr als Armee der bosnischen Serben kämpften. Der nun herrschende Bürgerkrieg eskalierte sehr schnell: Humanitäre Hilfskonvoys für Zivilisten, durchgeführt vom Roten Kreuz und anderen Hilfsorganisationen, wurden behindert und teilweise angegriffen, es wurden ethnische Säuberungen durchgeführt und Konzentrationslager eingerichtet. Diese Eskalation muss vor dem Hintergrund einer serbischen politischen Elite um Präsident Slobodan Milošević betrachtet werden, die einen ethnisch-basierten Nationalismus als Grundlage ihres Machtanspruches propagierte: Nur in einem Großserbien, so die Propaganda, könne das serbische Volk überleben. Kriegsverbrechen gegen Serben in Kroatien und Bosnien unterstützten dieses Heraufbeschwören einer Vernichtungsangst und führten zu einer verbrecherischen Kriegsführung.

Die im Land aktive Mission der Vereinten Nationen UNPROFOR erhielt im Juni 1992 das Mandat die Bereitstellung humanitärer Hilfe zu unterstützen. Allerdings besaß die Mission anfangs nur ein Mandat unter Kapitel VI der VN Charta und durfte Gewalt nur zur Selbstverteidigung einsetzen. Da kein Waffenstillstand bestand, den sie hätten überwachen können, sahen sich die Blauhelme mit unlösbaren Problemen konfrontiert.

Im August 1992 entschied der Sicherheitsrat mit Resolution 770 die Mitgliedstaaten unter Kapitel VII der Charta aufzurufen, in Absprache mit der UN alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen um die Bereitstellung humanitärer Hilfe in Bosnien und Herzegowina sicherzustellen. Doch die katastrophale Lage für die Zivilisten, die zwischen den Fronten gefangen waren, änderte sich nicht.

Im April und Mai 1993 ging die nun UNPROFOR II genannte Mission in eine neue Phase über: Der Sicherheitsrat verlangte in Resolution 819 und 824 die Schaffung „sichere Zonen“ in bosnischen Gebieten (Srebrenica, Sarajevo, Gorazde, Zepa, Tuzla und Bihac), welche von serbischen Truppen belagert wurden. Allerdings zeigte sich schnell, dass ein effektiver Schutz der sicheren Zonen und eine Abschreckung von Angriffen wegen der geringen Truppenstärke der Blauhelme unmöglich waren. Die ursprünglich im Juni 1993 von Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali geforderten 34.000 UNO-Soldaten für die Sicherung der Schutzzonen wurden vom Sicherheitsrat nicht bewilligt. Lediglich 7600 Soldatinnen und Soldaten wurden zusätzlich entsandt, um die fünf Großstädte und ihre Umfeld zu sichern. Die Verwundbarkeit der UN-Truppen wurde deutlich, als im Mai 1995 eine große Zahl von Blauhelmen durch serbische Truppen als Geiseln genommen wurden.

Das Massaker in den Tagen nach dem 11. Juli 1995

Srebrenica und andere Städte lagen damals wie Inseln im serbisch kontrollierten Gebiet. Die Stadt wurde jahrelang belagert. Vermittlungsversuche der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der sogenannten Bosnien-Kontaktgruppe (bestehend aus den Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien, Russland und Deutschland)mit dem Ziel den Bosnienkrieg zu beenden, blieben erfolglos. Die Zugehörigkeit von Srebrenica und anderer Schutzzonen zum bosniakischen Gebiet wurde von der serbischen Seite nicht anerkannt. Radovan Karadžić, Präsident der bosnisch-serbischen Republika Srpska, hatte im März 1995 die Order erteilt, gezielt durch Militäroperationen Unsicherheit in der Schutzzone Srebrenica und in anderen Schutzzonen herbeizuführen. Den Eingeschlossenen solle die Hoffnung in Srebrenica zu überleben genommen werden.

Als die Truppen der bosnischen Serben schließlich im Sommer 1995 begannen die sicheren Zonen zu stürmen, hatte UNPROFOR weder das notwendige Mandat, noch die Fähigkeiten dies zu verhindern: Unerfahrene Soldaten mit unzureichender Ausrüstung und ohne Hilfe von außen standen den entschlossenen serbischen Truppen gegenüber und waren hilflos. Für die serbische Seite war die Eroberung der Schutzzonen erklärtes Ziel. Appelle aus Srebrenica einen Hilfs-Korridor zu öffnen waren erfolglos. Hunger und Entkräftung breiteten sich aus, es gab erste Tote im Juli. Ab März 1995 beobachteten UN Blauhelme Angriffsvorbereitungen der bosnisch-serbischen Armee.

In den Tagen ab dem 11. Juli wurde schließlich die Schutzzone um die bosnische Stadt Srebrenica von serbischen Truppen unter General Mladic erobert. Als diese nach Srebrenica vordrangen, unternahmen die niederländischen Blauhelmsoldaten wenig zum Schutz der Zivilisten. Sie versuchten Flüchtlingsbusse zu eskortierten, wurden daran aber von Serben gehindert. Kommandeur Thomas Karremans forderte mehrfach NATO-Luftunterstützung an, doch diese blieb weitgehend aus. Bei UN und NATO wurde befürchtet, dass ein Angriff auf die serbischen Truppen zur Ermordung von als Geisel genommenen Blauhelmsoldaten führen würde. Hinzu kam die Furcht, dass ein zu entschiedenes Vorgehen gegen die Serben eine mögliche Konfliktlösung für ganz Jugoslawien erschweren könnte. Angesichts der ihnen gegenüberstehenden Übermacht der Serben unternahmen die gerade einmal knapp 400 niederländischen Soldaten vor Ort nichts, um die Schutzzone zu verteidigen. Zu zynischer Berühmtheit gelangte das Foto des niederländischen Kommandeurs Thomas Karremans der Ratko Mladic mit einem Schnaps zuprostete.

Innerhalb weniger Tage wurden dann über 8000 Bosniaken, meist Jungen und Männer, zunächst bosnisch-serbischen und serbischen Truppen selektiert, ermordet und in Massengräbern verscharrt.

Frühe Warnzeichen wurden ignoriert

Das Abwägen zwischen dem Schutz von Zivilisten, dem Schutz von Blauhelmen und einer breiteren Konfliktlösungsagenda erwies sich als grausamer Fehler. Wie sich später zeigte, hätte durchaus früher erkannt werden können, was in Srebrenica uns andernorts drohte: Schon im Oktober 1991 drohte Radovan Karadžić, der spätere Präsident der Republik Srpska, den muslimischen Bosniaken in einer Parlamentsdebatte über die Unabhängigkeitserklärung Bosniens: “Glaubt nicht, dass ihr mit diesem Schritt Bosnien und Herzegowina nicht in die Hölle führt und die Muslime in die Auslöschung. Die Muslime werden sich nicht verteidigen können, wenn es zum Krieg kommt“.

Zuvor war es bereits in den von Serben kontrollierten Territorien zu ethnischen Säuberungen gekommen. Ziel war die Schaffung eines ethnisch wie kulturell homogenen Gebiets für die christlich-serbische Bevölkerung. Im Bosnienkrieg ließen sich nahezu alle Maßnahmen zur ethnischen Säuberung ganzer Landstriche beobachten: systematische Veranlassung zur Flucht (mittels Ausgrenzung, Drohung, Demütigung, Terror), Zerstörung von Existenzgrundlagen und kulturellen Einrichtungen der Bosniaken, bis hin zu Umsiedlungen, Deportationen, Massenvergewaltigungen und schließlich Massenmord, einschließlich Elitozid und Völkermord.

Anzeichen für solche Verbrechen waren schon vor dem Massaker im Juli 1995 beobachtet worden. Schließlich hatte der Sicherheitsrat bereits im Mai 1993 den Internationalen Gerichtshof für Jugoslawien eingerichtet, um solche Verbrechen zu verfolgen. Trotzdem wurde kaum für den Schutz der Bevölkerung gesorgt. Der Mord an 8000 Muslimen nach der serbischen Eroberung der ostbosnischen UN-Schutzzone Srebrenica war folglich nur der Höhepunkt der vielen Gräueltaten und Kriegsverbrechen in diesen Kriegen.

Die Auswirkungen des Massakers

Als das Ausmaß der Gräueltaten in der zweiten Julihälfte 1995 bekannt wurde, reagierte die internationale Gemeinschaft schockiert. Nach Angriffen auf weitere Schutzzonen reagierte der Sicherheitsrat und änderte seine Strategie: Ab Ende August 1995 griff die NATO die serbischen Truppen aus der Luft an, unterstützt durch französische und britische Truppen am Boden. Die serbischen Truppen wurden schließlich zur Aufnahme von Friedensverhandlungen ab November 1995 gezwungen. Am 14. Dezember 1995 wurde schließlich in Paris das Dayton-Abkommen unterzeichnet, dass den Bosnienkrieg beendete.

Die Geschehnisse von Srebrenica wirkten sich nachhaltig aus: Auf der Ebene der Friedensmissionen der Vereinten Nationen setzen Reformen ein. An der UNPROFOR-Mission war deutlich geworden, dass Missionen mit einem unangemessenen und vagen Mandat sowie unzureichenden materiellen und personellen Ressourcen im Ernstfall hilflos waren. Die Vereinten Nationen untersuchten ihr Scheitern in Srebrenica in einem Bericht (The Fall of Srebrenica) der 1999 erschien. Desweiteren flossen die Erfahrungen aus dem Scheitern in Srebrenica in den im Jahr 2000 erschienen Brahimi-Reformbericht zu Friedensmissionen ein. Seitdem sind UN Friedensmissionen meist robuster aufgestellt und mit einem Mandat für den Schutz von Zivilisten ausgestattet. Inzwischen gehört der Schutz von Zivilisten für viele UN-Missionen sogar zum Kern ihres Aufgabenbereichs. Auch in die Entwicklung der 2005 verabschiedeten internationalen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) flossen die Lehren aus dem Scheitern der internationalen Gemeinschaft in Srebrenica und Ruanda ein.

Auch in den Niederlanden wurde das Scheitern der eigenen Soldaten in Srebrenica eingehend untersucht und 1996 eine Untersuchungskommission eingesetzt, die 2002 ihren Bericht veröffentlichte. Das Massaker ging als Trauma in die politische Geschichte des Landes ein. Dies setzt sich bis heute fort: Hinterbliebene aus Srebrenica hatten sich im Verein „Mütter von Srebrenica“ zusammengeschlossen und gegen die UN und die Niederlande wegen unterlassener Hilfeleistung geklagt. Zwar hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die UN aufgrund einer Immunitätsregelung im Völkerrecht nicht zur Verantwortung gezogen werden könne. In den Jahren 2011 und 2014 haben aber dann niederländische Gerichte eine Mitverantwortung der niederländischen Blauhelme am Massaker von Srebrenica festgestellt und einigen Hinterbliebenen Schadensersatz zugesprochen.

Der internationale Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien hat schließlich mit der Aufarbeitung des Massakers von Srebrenica maßgeblich zu einer Weiterentwicklung des Völkerrechts beigetragen. Bisher wurden zehn Prozesse zu Srebrenica geführt und sie dauern bis heute an. Zwei der Hauptverantwortlichen, der ehemalige Präsident der bosnischen Serben Radovan Karadzic und der damalige General Radko Mladic stehen noch in Den Haag vor Gericht. Auch die serbische Justiz geht inzwischen gegen ehemalige Kriegsverbrecher vor. Doch das individuelle Leid der Massaker wirkt bis heute nach.

 

Von Gregor Hofmann, stellvertretender Vorsitzender von Genocide Alert


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Klaus Kinkel rekapituliert die Ereignisse in Srebrenica im Juli 1995; Quelle: eigenes Foto

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Karte und Flagge von Burundi, Putschgeneral Godefroid Niyombare (links), Präsident Pierre Nkurunziza (rechts); Quellen: public domain, Wikimedia

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Vier Jahre Krise in Syrien

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Genocide Alert Jahresbericht 2014

Genocide Alert freut sich, seinen Jahresbericht 2014 zu präsentieren.

Das Jahr 2014 war sehr erfolgreich für Genocide Alert. Im Jahresbericht 2014 können Sie sich nun neben einen kurzen Rückblick auf 2013 über unsere Projekte im vergangenen Jahr informieren.
Es erwartet Sie ein Bericht über die Ruanda-Veranstaltungsreihe (ein Großprojekt mit externer Förderung), dass wir in 2014 anlässlich des zwanzigsten Jahrestages des Völkermordes in Ruanda umsetzen konnten.

Zudem können Sie sich über die Veröffentlichungen von Genocide Alert informieren. So stießen besonders die Genocide Alert Policy Briefs in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft auf großes Interesse. Auch unsere Interviewreihen – zum Jahrestag des Völkermords in Ruanda, sowie zu den aktuellen Entwicklungen in Syrien –  sind sehr positiv aufgenommen worden.

Außerdem wurde Genocide Alert nie zuvor um eine Beteiligung an so vielen Veranstaltungen rund um die Themen Sicherheit, Konflikte und Völkermord angefragt, wie zuletzt. Auch hier erwartet Sie ein Überblick der Veranstaltungen, auf denen die Expertise von Genocide Alert vertreten waren.

Schlussendlich können sich Interessierte über die Beteiligungsmöglichkeiten bei Genocide Alert informieren und einen Blick auf die geplanten Vorhaben in 2015 werfen. Wir freuen uns über Ihr Interesse.

 

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Die Vertreibung der Jesiden – ein Völkermord?

Das Vorgehen des „Islamischen Staates“ gegenüber den Jesiden weist deutlich auf eine Vernichtungsabsicht hin. Soweit IS – Kämpfer nach Deutschland zurückkehren, werden die Gerichte sich damit auseinandersetzen müssen, wie die Handlungen juristisch einzuordnen sind. Das vorliegende Policy Brief erläutert die Vorgänge im Nordirak und deren Relevanz für das deutsche Strafrecht.

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Was bedeutet die Aufnahme von Vorermittlungen? Replik auf die israelische Kampagne gegen den IStGH

Zum 1. April 2015 nimmt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Vorermittlungen zu Massenverbrechen in Palästina auf. Dies löste vor allem in Israel, den USA und Kanada eine Welle der Kritik aus, die sich besonders gegen die einseitige Vorgehensweise der Palästinenser richtet, die als Verstoß gegen die Osloer Verträge wahrgenommen wird. Entgegen eines Ratschlages ihres Außenministeriums entschied sich die israelische Regierung, nicht nur die Einstellung der Vorermittlungen, sondern gar die Abschaffung des Internationalen Strafgerichtshofes selbst zu fordern. So bezeichnete der israelische Außenminister Avigdaor Liberman den IStGH im Endeffekt als terrorismusfördernd, israelfeindlich und unbrauchbar. Eine Überreaktion, die Gefahr läuft internationale Strafgerichtsbarkeit zu diskreditieren und es Israel erschwert, auf die Kriegsverbrechen der Hamas aufmerksam zu machen. Von den Vorermittlungen, die in Palästina kein Novum darstellen, sind keine schnellen Ergebnisse zu erwarten. Sie werden Jahre dauern und außerdem die Möglichkeit bieten, die Hamas für ihre Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen.

Die Aufnahme von Vorermittlungen

Vorweg: Die am 16. Januar 2015 von Fatou Bensouda als Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes verkündeten Vorermittlungen zu der Situation in Palästina sind genau das: Vorermittlungen. Ihre Aufnahme bedeutet weder, dass an Massenverbrechen Beteiligte angeklagt werden, noch, dass überhaupt für den Gerichtshof relevante Verbrechen begangen wurden. Vorermittlungen dienen der Prüfung, ob die Kriterien des Römischen Status (Artikel 53) für eine weitere Ermittlung gegeben sind. Diese Vorprüfung erfolgt durch eine Kammer im Gerichtshof, die später nicht das Verfahren durchführen wird. Sie dient auch der Feststellung, ob hinreichend Beweise vorliegen könnten. Das heißt, es muss zumindest die Möglichkeit einer Rechtsverletzung hinreichend dargelegt werden. Für die Richter der entsprechenden Kammer besteht bei Zweifel an dieser Voraussetzung außerdem die Option, diesen in einem Minderheitsvotum darzulegen. Richter Hans-Peter Kaul nutzte diese Möglichkeit dreimal bei den Vorermittlungen des IStGHs zu den Straftaten in Kenia nach den Wahlen 2007/2008.

Bensouda verwies in ihrem Statement nachdrücklich auf diese Standardprozedur für Vorprüfungen, die im Policy Paper on Preliminary Examinations des IStGHs festgehalten ist. Die Vorermittlungen beruhen auf dem Gerichtshof präsentierten Fakten und Informationen und erfolgen unter den Prinzipien der Unabhängigkeit, der Unparteilichkeit und der Objektivität. Die zu prüfenden Kriterien umfassen sämtliche Zulässigkeitsvoraussetzungen einer noch nicht erhobenen Klage: Hierin liegt unter anderem die Zuständigkeit des Gerichtes selbst, sowie ein ausreichendes Rechtsschutzinteresse an den Ermittlungen. Konkret werden sich die Vorermittlungen insbesondere auf die Frage der sachlichen Zuständigkeit und den Grundsatz der Komplementarität fokussieren.

Die (erneute) Selbstüberweisung der Palästinenser

Die Vorermittlungen resultieren aus einer Selbstüberweisung der Palästinenser an den IStGH, die der palästinensische Präsident Mahmud Abbas im Fall eines Scheiterns einer UN-Resolution Ende 2014 ankündigte. Diese hätte Israel unter anderem innerhalb von drei Jahren zum Abzug aus den Palästinensergebieten verpflichtet. Die Palästinenser erkannten damit die zeitliche Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für mögliche Verbrechen auf dem von ihnen kontrolliertem Gebiet ab dem 13. Juni 2014 an.

Ein Schritt, der im Übrigen kein Novum darstellt. Bereits am 22. Januar 2009 reichte die Palästinensische Autonomiebehörde eine Selbstüberweisung beim IStGH ein, in der sie dem Gerichtshof eine zeitliche Zuständigkeit ab dem 1. Juli 2002 zusprachen. Auch damals nahm der IStGH Vorermittlungen auf, die erst im April 2012 zu einem Abschluss kamen: Der IStGH lehnte die Ermittlungen mangels formaler Zuständigkeit ab.

Die damalige Palästinensische Autonomiebehörde wurde zwar von 130 Staaten in bilateralen Beziehungen als Staat anerkannt und besaß in der UN einen Beobachterstatus, nicht aber den [Status] eines „non member observer states“. Nach Artikel 12 des Römischen Status können jedoch nur staatliche Akteure die Strafgerichtsbarkeit des Gerichtshofes anerkennen und entsprechend nach Artikel 125 eine Selbstüberweisung beim UN-Generalsekretär einreichen. Bei kontroverser Staatlichkeit sei es gemäß der Erklärung des IStGHs Praxis, dass der Generalsekretär sich an Entschlüssen der UN-Generalversammlung orientiere. Da es explizit nicht im Zuständigkeitsbereich des IStGHs liege, eine solche Einstufung selbst vorzunehmen, konstatierte der IStGH angesichts des reinen Beobachterstatus der Autonomiebehörde eine fehlende Staatlichkeit, stellte aber künftige Ermittlungen im Falle einer Anerkennung durch die Generalversammlung in Aussicht.

Am 29. November 2012 erkannte die UN-Generalversammlung die Palästinensische Autonomiebehörde als „non member observer state“ an und ermöglichte die jetzige Selbstüberweisung und den Beitritt. Entsprechend verkündete Ban Ki-moon Anfang Januar im Anschluss an die Unterzeichnung den Beitritt der Palästinenser zum Römischen Statut zum 1. April 2015. Folglich kann seitdem von der formalen Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs ausgegangen werden.

Israelis und Palästinenser sind gleichermaßen betroffen

Durch die Selbstüberweisung und den Beitritt Palästinas hat der IStGH nunmehr die Befugnis, gegen israelische Akteure zu ermitteln, insofern diese relevante Verbrechen auf palästinensischem Boden verübt haben. Dazu zählen alle natürlichen Personen (Artikel 1), die mindestens 18 Jahre alt sind (Artikel 26). Auch diplomatische Immunität schützt nicht (Artikel 27). Darüber hinaus kann eine Vertragspartei den Gerichtshof zwar ersuchen, sich einer bestimmten Situation in einem begrenzten Zeitraum anzunehmen; einseitige Ermittlungen gegen eine bestimmte Konfliktpartei schließt dies aber explizit aus. Das bedeutet, dass sämtliche relevanten Verbrechen mit territorialen oder personellen Bezug zu Palästina zum Gegenstand der Vorprüfung werden, explizit also auch solche von palästinensischen Akteuren.

Materielle Zuständigkeit: Wurden Massenverbrechen begangen?

Auch wenn Israel die formale Zuständigkeit und die Staatlichkeit Palästinas weiterhin in öffentlichen Erklärungen dementieren wird, wird es für den IStGH bei den Vorermittlungen im Kern um die materielle Zuständigkeit gehen. Die materielle Zuständigkeit des IStGHs umfasst die im Römischen Statut aufgenommenen völkerrechtlichen Kernverbrechen (Artikel 5), Genozid (Artikel 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Artikel 7), Kriegsverbrechen (Artikel 8) und das Verbrechen des Angriffskriegs (Artikel 5). Der Gerichtshof wird also prüfen müssen, ob ausreichend schwere Hinweise auf diese Verbrechen im Rahmen der formalen, personellen und zeitlichen Zuständigkeit vorliegen.

Sowohl Human Rights Watch als auch Amnesty International weisen in aller Deutlichkeit auf die im Zuge des Gazakrieges und der Besatzungspolitik begangenen Menschenrechtsverletzungen hin. Dass zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorliegen, gerade auch in Form von Unterdrückung, Raketenangriffen und Attentaten palästinensischer Akteure wie der Hamas, steht außer Frage. Ob diese in ihrer Schwere aber relevant für weitere Ermittlungen des IStGHs sein werden, ist schwieriger zu beurteilen.

Einen Anhaltspunkt liefert die Entscheidung des IStGHs bezüglich der am 31. Mai 2010 von israelischen Truppen gewaltsam gestoppten „Gaza Freedom Flotilla“, die unter der Flagge der Union der Komoren in See stach. Am 14. Mai 2013 überwiesen die Komoren als Mitgliedsstaat den Fall an den IStGH, der am gleichen Tag mit den Vorermittlungen begann. Diese endeten am 06.11.2014 damit, dass die materielle Zuständigkeit nicht gegeben sei, obwohl mutmaßlich Kriegsverbrechen begangen wurden. In ihrem Statement erklärte Fatou Bensouda, die Chefanklägerin des IStGHs:

„(…) after carefully assessing all relevant considerations, I have concluded that the potential case(s) likely arising from an investigation into this incident would not be of „sufficient gravity“ to justify further action by the ICC. The gravity requirement is an explicit legal criteria set by the Rome Statute.

Without in any way minimizing the impact of the alleged crimes on the victims and their families, I have to be guided by the Rome Statute, in accordance with which, the ICC shall prioritize war crimes committed on a large scale or pursuant to a plan or policy.”

Bezüglich des jüngsten Gazakrieges wäre es für die Aufnahme von Ermittlungen gemäß des Römischen Status also nötig anzunehmen, dass 1.) Kriegsverbrechen als Teil eines Planes oder einer Politik oder 2.) in großem Umfang verübt wurden. Es reicht somit nicht aus, festzustellen, dass die israelische Armee, die Hamas oder die Gruppe „Islamischer Dschihad“ Kriegsverbrechen begangen haben. Bei der Hamas und dem Islamischen Dschihad könnte eine für den Internationalen Strafgerichtshof relevante Systematik anhand entsprechender Erklärungen zudem eher erkannt werden, wobei dann wiederum die Frage des Umfanges abzuwägen wäre.

Für Israel könnte sich die Siedlungspolitik als der kritischere Punkt erweisen. Gemäß des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten darf eine Besetzungsmacht nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln. Da zumindest hier von einer entsprechenden Systematik ausgegangen werden kann, könnte sich die von der israelischen Regierung jenseits der Grünen Linie betriebene Siedlungspolitik für den IStGH zu relevanten Kriegsverbrechen summieren. Israel verweist hier auf die in den Verträgen von Oslo getroffenen Abkommen mit den Palästinensern, in denen der Status der Siedlungen auf spätere Verhandlungen verschoben wurden. Eine Erklärung, die zumindest in einem nicht-bindenden Rechtsgutachtachten des Internationalen Gerichtshofs zurückgewiesen wurde, der allerdings keine Strafgerichtsbarkeit bezüglich Kriegsverbrechen besitzt. Es bleibt somit abzuwarten, ob sich der Internationale Strafgerichtshof dieser Beurteilung anschließt.

Zulässigkeit der Klage: Grundsatz der Komplementarität

Unabhängig von mutmaßlich begangenen Massenverbrechen will der IStGH zudem nationale Strafgerichtsbarkeit der Staaten nicht ersetzen und ist ebenfalls kein letztinstanzliches Rechtsmittelgericht, überprüft also keine Verfahren der nationalen Strafgerichtsbarkeit. Gemäß des Grundsatzes der Komplementarität (Artikel 17) kann der IStGH nur strafverfolgend tätig werden, wenn Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind, eine entsprechend schwere Straftat ernsthaft zu verfolgen. Auch während der Vorermittlungen des IStGHs haben Staaten so die Chance, selbstständig tätig zu werden und einem Verfahren des IStGHs zu entgehen.

So bemühte sich etwa Großbritannien um derartige Nachweise, als der IStGH entgegen starken Protestes der britischen Regierung Vorermittlungen in mutmaßliche Kriegsverbrechen britischer Soldaten im Irak aufnahm. Weist Israel nach, dass die vermeidlichen Verantwortlichen für die relevanten Fälle bereits vor eigenen Gerichten zur Verantwortung gezogen werden, bestünde für den IStGH keine Grundlage für eigene Ermittlungen. Und tatsächlich bemüht sich Israel durchaus um die Einhaltung des internationalen Menschenrechtes und investiert Ressourcen in Ermittlungen zu möglichen Verstößen – ganz im Gegensatz zur Hamas oder dem Islamischen Dschihad.

Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird

Die Vorermittlungen des IStGHs in die Situation in Palästina werden Jahre dauern. Die weitaus weniger komplexen Vorermittlungen des IStGHs im Zuge der ersten Selbstüberweisung und der Gaza-Flottilia dauerten jeweils etwa eineinhalb Jahre. Der IStGH wird sowohl von israelischen und palästinensischen Akteure mutmaßlich begangene Kriegsverbrechen untersuchen und entsprechend seiner Praxis beiden Seiten ausreichend Zeit verschaffen, selbstständig tätig zu werden. Ob es schließlich zu Ermittlungen gegen Palästinenser und/oder Israelis kommen wird, ist bis zum Abschluss der Vorermittlungen weiterhin offen. Ganz abgesehen davon, dass es selbst bei laufenden Verfahren für den IStGH bei mangelnder Kooperation schwierig ist, eine Verurteilung herbeizuführen. So sah sich der IStGH zuletzt im Dezember 2014 gezwungen, das laufende Verfahren gegen den kenianischen Präsidenten Kenyatta aufgrund mangelnder Kooperation der kenianischen Regierung und einer mangelnden Grundlage an Beweisen einzustellen.

Der israelischen Regierung ist all dies bewusst, dennoch entschied sie sich, zu einem Boykott des Internationalen Strafgerichtshof aufzufordern, während die Hamas die Ermittlungen paradoxerweise öffentlich unterstützt – möglicherweise aufgrund ihrer ohnehin geringen Auslieferungswahrscheinlichkeit. Eine Bitte zum Boykott richtete die israelische Regierung offenbar auch an die Bundesregierung. Diese Fehlentscheidung resultierte wesentlich aus der Annahme israelischer Politiker, ihr Staat stünde aus anti-israelischen Erwägungen heraus ungerechtfertigt im Fokus des Gerichtshofs. Der israelische Außenminister Liberman argumentiert etwa: „Dasselbe Gericht, dass es nach mehr als 200.000 Toten nicht für angebracht hielt, in Syrien, Libyen oder anderen Orten einzuschreiten, findet es nun erstrebenswert, die moralischste Armee der Welt zu ‚untersuchen‘“.