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Was tun mit der Schutzverantwortung?

Gastbeitrag von Julian Junk und Leon Steinbacher

Die Schutzverantwortung oder „Responsibility to protect“ (oder ganz kurz: R2P) ist mittlerweile nicht mehr nur ein akademisches Modethema. Zerbrachen sich zunächst UN Kommissionen und Staatenlenker über die Verantwortung von Staaten, sowohl ihre eigene Bevölkerung als auch die Bevölkerungen fremder Staaten vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, und mithin über das schwierige Verhältnis zwischen staatlicher Souveränität und internationaler humanitärer Intervention den Kopf, so übernahm kurz danach die Wissenschaft die Debatte: ist die R2P schon eine Norm im völkerrechtlichen Sinne? Ist sie, normativ, ein trojanisches Pferd für militärische Interventionen?

Liberale Optimisten betonen das Potential der R2P zur dauerhaften Beendung von massiven Menschenrechtsverletzungen. Demgegenüber konzipieren kritische Stimmen die R2P oftmals als neoimperialistisches Instrument zur Durchsetzung westlicher Interessen. Seit der breiten internationalen Anerkennung der R2P im Abschlussdokument der UN World Summit 2005 werden diese Fragen in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen und Konferenzen – und bei aktuellen politischen Ereignissen wie in Darfur, in Libyen oder in Syrien auch in der breiten Öffentlichkeit – diskutiert. Aus dem Blick gerät dabei, dass es innerhalb der UN, innerhalb einiger Regionalorganisationen und innerhalb einiger nationaler Parlamente und Regierungen, eine rege Debatte darüber gibt, wie man die R2P „operationalisieren“ oder „mainstreamen“, d.h. wie sie in alle Bereiche der internationalen Politik und Verwaltung in konkrete Handlungsanweisungen überführt werden kann.

Diese Diskussionen wurden bislang in unterschiedlichen akademischen wie praktisch-politischen und praktisch-administrativen Zirkeln geführt. Eine internationale Autoren-Konferenz, die zum Thema „Norms and Practice of Humanitarian Interventions – Operationalizing the Responsibility to Protect“ vom 14. Bis 16. Juni an der Universität Konstanz stattfand (in einer Kooperation zwischen dem dortigen und dem Frankfurter Exzellenzcluster sowie dem Frankfurter Forschungsprojekt „Sicherheitskultur im Wandel“), setzte sich zum Ziel, diese unterschiedlichen Diskussionsstränge in einem Dialog von Wissenschaftlern und Praktikern (bspw. aus der UN-Verwaltung, aus UN-Friedenmissionen oder aus der nationalstaatlichen Diplomatie) zusammenzuführen. Die Mischung aus akademischer und praktischer Expertise erwies sich wie schon bei der Jahreskonferenz des Forschungsprojekts „Sicherheitskultur im Wandel“ als äußerst ertragreich. So standen die konkrete Umsetzungspraxis der R2P innerhalb von UN Friedensmissionen und die Bindungswirkung der R2P für nationale Außen- und Sicherheitspolitik  ebenso im Fokus wie nicht-westliche Perspektiven auf die Schutzverantwortung im Generellen und wie eine Weiterentwicklung  von bislang teleologischen Verständnissen von Normentwicklungen auf internationaler Ebene.

In den Impulsvorträgen des ersten und des letzten Panels ging es zwar eher um theoretische Fragen zur R2P, jedoch wurde in den Diskussionen auch Wert auf die praktischen Herausforderungen, die sich daraus bspw. für UN-Beamte in einer Friedensmission wie im Südsudan ergeben, gelegt . In der Eingangsdiskussion im Rahmen des Themas „Legality, Morality and Institutionalization“ wurde auf diesen drei Ebenen der Status der R2P als Norm diskutiert. Wichtigste Thesen hierbei: Die R2P sei bereits fest verankerter und damit wirkmächtiger Teil des Völkergewohnheitsrechts (allen Unkenrufen des Scheiterns der R2P zum Trotz). Ferner könnte das „Mainstreaming“ der R2P innerhalb der UN Institutionen die Risiken des Flexibilitätsverlustes in der Auslegung der Norm und der Beliebigkeit der Norm gegenüber anderen Mainstreamingprozessen bergen. Im letzten Panel „The Non-Linearity of Norm Emergence and Norm Failure“ wurden Vorschläge zur Theoretisierung und der Normgenese im Fall der R2P gemacht und diskutiert. Dabei wurde intensiv der Frage nachgegangen, ob ein moralisch gerechtfertigter Bruch des Völkerrechts nicht als Teil der Normevolution auch für die R2P erforderlich sein kann oder doch eher zur Erosion völkerrechtlicher Standards beiträgt.

In den Panel II bis IV stand die Umsetzungspraxis der R2P stärker im Mittelpunkt. Die Diskussion des zweiten Panels „Operationalizing the R2P in the Field“ drehte sich um die Frage nach einer Koppelung oder Trennung des Prinzips des Schutzes der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten („Protection of Civilians“ oder PoC) und der R2P in den betroffenen Regionen vor Ort. Interessanterweise scheint die PoC innerhalb des UN Systems als wesentlich operationalisierbarer eingestuft zu werden. Im dritten Panel “The Global Politics of the Responsibility to Protect” ging es um Wirkungen von Mechanismen außerhalb der klassischen militärischen Optionen: um Sanktionsregime und um Mediendynamiken. Panel IV “Foreign Policy and Dilemmata of Operationalizing the R2P” bot einen ertragreichen Einblick in die Perspektiven Chinas und Brasiliens auf die R2P und eine detaillierte Fallstudie über und Kritik an der deutschen Enthaltung im Fall der Resolution 1973. Allgemein kam in diesen Panels immer wieder zur Sprache, dass die R2P eben deutlich mehr ist als tatsächliches oder angedrohtes militärisches Eingreifen – nachhaltige Prävention und Wiederaufbau sind genauso wichtig und werden in unterschiedlichen Öffentlichkeiten in der Welt verschiedentlich betont.

Die Tagung zeigte, dass sich neben allen wichtigen Debatten um die Moralität und die völkerrechtliche Stellung der R2P tatsächlich etwas bei der praktischen Umsetzung der Schutzverantwortung in nationalen Politiken, in der UN Administration in New York und in der Umsetzung vor Ort in Post-Konflikt-Gegenden tut – ein Prozess der von der medialen, wissenschaftlichen wie politischen Öffentlichkeit noch viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Die Beiträge der Tagung werden diese Querschnittsfragen nun in der Überarbeitung aufgreifen und in einem begutachteten Band bei Routledge Publishers auf Englisch veröffentlichen. Einige Beiträge werden schon in Kürze in einem von Christopher Daase und Julian Junk herausgegebenen Sonderheft der Friedens-Warte auf Deutsch erscheinen.

 

Dieser Artikel wurde am 16. Juli bereits beim sicherheitspolitik-blog veröffentlicht.

sipoblog

Die internationale Gemeinschaft und die syrische Revolution

von Haid Haid

Haid Haid ist syrischer Sozialwissenschaftler und hat Damaskus im Januar 2012 verlassen. Er arbeitet als Programm-Manager beim Middle East Office der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut.

(aus dem Englischen von Christoph Schlimpert)

Die syrische Revolution dauert bereits mehr als 15 Monate an, die durchschnittliche Anzahl der pro Tag getöteten syrischer Zivilisten und Kombattanten (sowohl auf Seiten der Gegner als auch der Befürworter des Regimes) steigt stetig. Dennoch sind viele nach wie vor nicht in der Lage sich zu einigen, wie auf die Krise reagiert werden soll. Die internationale Gemeinschaft bleibt machtlos darin, dem Abschlachten ein Ende zu setzten. Die Komplexität der Lage in Syrien trägt dazu bei, dass die internationale Gemeinschaft sich bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen und der Hilfe zum Schutze der syrischen Bevölkerung zurückhält.
Um die Positionen der internationalen Gemeinschaft angemessen zu verstehen, ist  eine kurze Bestandsaufnahme der Maßnahmen erforderlich, welche diese gegen das syrische Regime ergriffen hat. Diese Maßnahmen und Sanktionen sollten aus der Perspektive des regionalen geopolitischen Machtgleichgewichts betrachtet werden, um klar zu versehen, warum  die internationale Gemeinschaft so zögerlich ist.

1. Regionale Interventionen in der Syrischen Revolution

Die kategorische Weigerung des Assad-Regimes Macht abzugeben, zusammen mit seiner Unfähigkeit, ohne äußere Hilfe sein eigenes Überleben zu sichern, führte zu seinem Drängen auf eine „freundliche“ Intervention der russisch-chinesisch-iranischen Achse. Im Gegenzug fand sich die US-europäische Achse,  mit der Türkei und einigen arabischen Staaten zusammen. Jedoch fehlt ist diese weitaus weniger koordiniert als die pro-Assad Achse.

Ungeachtet wiederholter Versuche der arabischen, regionalen und internationalen Gemeinschaften, Initiativen darzulegen, welche dem Regime helfen würden die Krise zu überwinden, wurde schnell klar, dass Assad nicht die Absicht hatte, eine Lösung zuzulassen, welche von außerhalb Syriens käme. Syrien wurde zu einem Schlachtfeld, einem Ort, an welchem internationale und regionale Rechnungen beglichen werden. Dies steigerte wiederum die Komplexität der politischen Situation des Landes: nicht mehr nur eine Auseinandersetzung zwischen einem repressiven Regime und einer revolutionären Bevölkerung, nahm der Konflikt eine darüber hinausgehende regionale und internationale Dimension an.
Der Mehrheit der Syrer wurde unterdessen klar, dass eine Entscheidung im Kampf um Syrien (ein Kampf, der bis dato auf das Gebiet innerhalb der syrischen Grenzen beschränkt war) einen internationalen und regionalen Konsens erforderte. Die Unterstützung der Revolution war nicht mehr nur einfach eine Angelegenheit, in der es darum ging, ein Volk im Kampf um ihre Grundrechte zu unterstützen, sondern auch ein Vorwand, um in eine umfassendere Auseinandersetzung um Einfluss in der Region eingreifen zu können.
Manche westlichen und arabischen Staaten sehen die Vorgänge in Syrien als Gelegenheit, Syriens Verbündete, Russland und Iran, zu marginalisieren. Mit anderen Worten handelt es sich um einen Stellvertreterkrieg gegen den Iran, Saudi Arabiens regionalen Gegner. Russland und China zeigten sich unterdessen höhst erfolgreich darin, die Bemühungen der USA und ihrer europäischen und arabischen Partner um eine UN-Sicherheitsratsresolution zu vereiteln, welche diesen einen weiteren Stand im Nahen Osten verschaffen und die westliche Militärpräsenz im mediterranen Raum verstärken würde. Irans uneingeschränkte Unterstützung für das syrische Regime, beispielhaft erläutert durch die Aussage des iranischen Staatsoberhauptes, Ayatollah Khamenei, dass sein Land seinen regionalen Verbündeten um jeden Preisverteidigen würde, kann am besten verstanden werden, wenn man die Konsequenzen eines Sturzes von Assad prüft: Es würde bedeuten, dass Iran einen seiner wichtigsten strategischer Verbündeten in der Region verlieren würde.

Viele Syrer glauben, dass, während das Überleben der Revolution in den Händen der Syrer selbst liegt, der Sturz Assads vom regionalen und internationalen Konsens abhängt. Es ist die Aufgabe der Syrer, die Flamme der Revolution durch friedliche Demonstrationen am Leben zu halten, bis eine Übereinkunft erreicht werden kann.

2. Arabische und internationale Sanktionen

Aufgrund dessen, dass das syrischen Regimes an der exzessiven Gewaltanwendung gegenüber seiner Bevölkerung festhält und im Lichte des Unwillens der internationalen Gemeinschaft, eine militärische zu intervenieren, verhängten die USA, die EU und die Arabische Liga weitreichende Sanktionen. Diese beinhalteten Reisebeschränkungen für die Assad-Familie und syrische Offizielle, das Einfrieren ihrer Bankkonten und –vermögen, ein Embargo gegenüber dem Kauf syrischen Öls und die Schwächung der syrischen Cyber-Fähigkeiten. Die EU hat vor kurzem eine Liste von 14 Produkten aufgestellt, welche nicht an Syrien verkauft werden dürften. Diese schließt Luxusgüter ein und Informationstechnologie, welche für die interne Repression geeignet ist. Ebenso wurde das Land teilweise diplomatisch isoliert..

Es soll erwähnt sein, dass diese Sanktionen nicht die volle Unterstützung der syrischen Opposition fanden. Diejenigen, welche an der Notwendigkeit von Sanktionen und ihrer Effektivität zweifeln, behaupten, diese schadeten der Revolution selbst. Das Regime kann sich um sich selbst kümmern. Es hat eine langjährige Erfahrung mit Schmugglernetzwerken, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sowohl der Libanon als auch der Irak gegen die arabischen Sanktionen gestimmt hatten, während Jordanien sich enthielt. Auf internationaler Ebene fahren Russland, China und der Iran damit fort, dem Regime materielle, technologische und militärische Unterstützung zukommen zu lassen. (1)

Für Befürworter von Sanktionen bleibt währenddessen zu hoffen, dass die Maßnahmen doch in der Lage sein werden, das Regime in den Schwitzkasten zu nehmen, was dazu führen würde, dass es seine anti-revolutionären Operationen nicht mehr finanzieren könnte, während syrische Geschäftsleute dazu gedrängt würden, ihre Unterstützung für das Regime aufzugeben.

Obwohl es aufgrund der Informationssperre des Regimes nahezu keine Wirtschaftdaten gibt, gibt es einige Hinweise, die uns einen Eindruck davon geben, wie schwierig die Lage und wie tief die Krise in Syrien ist. Am offensichtlichsten und wohl am bedeutendsten sind die Zahlen des Internationalen Währungsfonds. Sie zeigen, dass das Syrische Pfund seit Ausbruch der Revolution auf 45% des Wertes bei Ausbruch der Revolution gefallen ist. (2) Große Summen wurden von privaten Bankkonten abgezogen und die Kosten der Güter des täglichen Bedarfs haben nie dagewesene Höhen erreicht. Es ist klar, dass sich Syrien mittlerweile gravierenden ökonomischen Problemen ausgesetzt sieht.

Dennoch sollten wir im Kopf behalten, dass viele Syrer wirtschaftliche Sanktionen an sich als unwirksam darin betrachten, das Regime zu Zugeständnissen zu zwingen oder gar seinen Sturz herbeizuführen. Um eine Lösung der Krise zu erreichen, müssen diese Sanktionen mit ernsthaftem internationalem Druck einhergehen.

3. Die Responsibility to Protect

Die gegenwärtige Krise in Syrien ist ein perfektes Fallbeispiel dafür, wie das Prinzip der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect; R2P) für die Rechtfertigung internationaler Intervention gebraucht werden könnte.(3)
Das syrische Regime, welches fortlaufend Gewaltakte gegen seine schutzlose und isolierte Zivilbevölkerung ausführt, hat seine Pflicht zum Schutze seiner Bürger grundliegend ignoriert.  Zwischen dem Ausbruch der Revolution im März 2011 und dem 12. Mai 2012 haben syrische Sicherheitskräfte mindestens 12.782 Personen getötet und weitere 24.319 festgenommen (Zahlen des Centre for the Documentation of Human Rights Violations in Syria (4). Regierungstruppen beschossen dicht bevölkerte Wohngebiete mit Artilleriefeuer, setzten Scharfschützen und Kampfhubschrauber gegenüber Zivilisten ein und folterten verwundete Demonstranten in Krankenhäusern.

Diese Übergriffe sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit, definiert durch das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Das syrische Regime hat darin versagt, seine Pflicht zum Schutze seiner Zivilbevölkerung wahrzunehmen, weshalb diese Verantwortung nun an die internationale Gemeinschaft übergeht.(5)

Die internationale Gemeinschaft zögert jedoch aus folgenden Gründen nach wie vor, ihre Verantwortung zu akzeptieren:

  1. Sorge über die post-revolutionäre Regierungsform. Dies schließt die Angst vor potentieller innerer und regionaler Instabilität mit ein, sowie dass die neue Regierung von Islamisten dominiert sein könnte, wie es in anderen post-revolutionären arabischen Staaten geschehen ist. Dies wird durch die internen Auseinandersetzungen innerhalb der syrischen Opposition verschärft, welche sie davon abhalten, einen „Fahrplan“ auszuarbeiten, welcher die internationale Gemeinschaft und jene Syrer beruhigen würde, die aus Furcht vor einer unsicheren Zukunft der Revolution nicht ihre Unterstützung ausgesprochen haben.
  2. Erfahrungen mit militärischen Interventionen in anderen Ländern in der Vergangenheit: Die anhaltende Instabilität in Libyen und die Unfähigkeit des libyschen Staates, seine Autorität durchzusetzen und die Bevölkerung zu entwaffnen. Das libysche Modell dient als wirkungsvolle Abschreckung gegenüber jeder Form einer direkten militärischen Intervention, besonders für viele in Europa.
  3. Zweifel an der Effektivität einer indirekten militärischen Intervention (6), angesichts des Umstands, dass die Opposition über keine zentralisierte militärische Streitkraft verfügt. Es gibt ebenfalls Sorgen über die Konsequenzen einer Bewaffnung extremistischer islamistischer Gruppen, die jüngst in Syrien aufgetaucht sind.
  4. Eine Präferenz für eine Transition gegenüber einem Umsturz durch einen Entscheidungsschlag: Ein gradueller Prozess würde anderen Staaten Zeit geben, um ihre Interessen in der Region anzupassen und zu beschützen.
  5. Israelische Interessen und Israels Einfluss auf die amerikanischen Interessen. Aus israelischer Perspektive ist die Priorität nicht, Menschen zu schützen, sondern vielmehr, die Auswirkungen eines Regimewechsels auf die israelische Sicherheit zu minimieren.
  6. Innenpolitische Bedenken: Der amerikanische Unwille, bei den Forderungen nach einem Ende der Gewalt die Führung zu übernehmen, liegt in großen Teilen in den anstehenden Präsidentschaftswahlen begründet. Obama strebt nach einer zweiten Amtszeit und kann keine Komplikationen durch eine Ausdehnung amerikanischen Engagements auf Syrien gebrauchen.
  7. Wirtschaftliche Gründe: Die Wirtschaftskrise in der EU und den USA und ihr Einfluss auf die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, die Rechnung für eine militärische Intervention in Syrien zu zahlen.
  8. Alleiniger Fokus auf eine militärische Intervention: Der Fokus der syrischen Opposition und der internationalen Gemeinschaft auf eine militärische Intervention, welche in der gegenwärtigen Situation nicht wünschenswert ist, hält sie davon ab, andere Formen der Einflussnahme auszuloten.

Auch wenn dies alles richtig ist, entschuldigt es nicht den Widerwillen der internationalen Gemeinschaft, ihre Verantwortung gegenüber dem syrischen Volk wahrzunehmen. Die internationale Gemeinschaft ist mehr als fähig, ihre Vorbehalte zu überwinden, wenn sie eine echte Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit oder Interessen empfindet. In Libyen beispielsweise traf die internationale Gemeinschaft die Entscheidung, militärisch zu intervenieren, vergleichsweise schnell, ungeachtet der Einwände von Russland und China. Jedoch scheint sie unfähig zu sein, eine UN-Sicherheitsratsresolution zu verabschieden. Dies liegt daran, dass diese eine direkte Bedrohung der Interessen bestimmter Staaten darstellt, während sie für andere eine Gelegenheit bieten würde.

4. Die syrische Revolution

Die internationale Gemeinschaft neigt dazu, ihr Versagen zu rechtfertigen, indem sie auf darauf verweist, dass die Opposition nicht geeint ist, es an einer machbaren politischen Alternative zum Assad-Regime fehlt und sich auf das russische und chinesische Veto im UN-Sicherheitsrat beruft. Die Debatte über die Syrienkrise wird stets durch solche Details überlagert, obwohl sie eigentlich auf das ausgerichtet sein sollte, was die syrische Bevölkerung erlebt, welche tagtäglich dem Tod ins Auge blickt, weil sie grundlegende Freiheitsrechte, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung einfordert.

Obwohl das das Wesentliche in dieser Angelegenheit sein sollte, ignorieren internationale Akteure dies meist. Sie konzentrieren sich lieber auf ihre Ängste, was zumeist den Vergleich von Syrien mit anderen arabischen Staaten wie Libyen und Irak einschließt. Sie äußern sich besorgt über die Wahrscheinlichkeit eines Bürgerkriegs und üben sich in Kassandrarufen und Analysen, welche zumeist auf ignorieren, was sich bereits jetzt in Syrien ereignet. Diese Ängste werden weiter gesteigert durch die zunehmende Tendenz westlicher und arabischer Medien, die Revolution als sektiererisch und salafistisch zu porträtieren.

Dennoch resultieren diese politischen Komplexitäten und besorgniserregenden Vorhersagen über die Zukunft des Landes größtenteils aus zunehmenden repressiven Aktionen und exzessiven Gewaltanwendung des Regimes sowie zum anderen aus dem Unwillens der internationalen Gemeinschaft, die Revolution und ihre legitimen Forderungen zu unterstützen. Selbstverständlich hat auch die traditionelle syrische Opposition ebenfalls einige Verantwortung zu tragen, denn zeigt sich sich der Lage nicht gewachsen . Es wäre an ihrer Stelle notwendig, sich zu vereinen, um den internationalen Bemühungen dem syrischen Volk zu helfen einen klaren Anknüpfpunkt zu bieten. Sie ist darin gescheitert, einen überzeugenden Diskurs oder eine klare Marschoroute für eine post-Assad Machtverteilung herzustellen.

Die anhaltende Gewalt des Regimes gegen die eigene Bevölkerung und die Schwäche und Reformunfähigkeit der traditionellen Opposition führten dazu, dass sich viele Syrer isoliert und von der arabischen und internationalen Gemeinschaft ihrem Schicksal überlassen fühlen.(7)
Dies führt zwangsläufig dazu, dass manche Syrier sich dafür entscheiden, Waffen gegen das Regime zu richten. Dennoch glauben die Syrer nach wie vor, dass Waffen alleine nicht Assads Sturz bringen werden und führen ihre gewaltfreien Demonstrationen fort.

Die Islamisierung der Revolution kann man indes am besten als eine Phase begreifen. Die große Mehrheit der Syrer sind sunnitische Muslime, deren Religiosität konventionell, traditionell und apolitisch ist. Mit anderen Worten: moderat, aufgeschlossen und tolerant gegenüber ethnischer, religiöser und konfessioneller Diversität. Konfessionelle Vielfältigkeit war bereits seit Jahrhunderten ein Teil Syriens und blieb auch von politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Wandel unberührt. Im Gegensatz zu seinen eigenen Bekundungen, ist Assad nicht der Schutzherr der Minderheiten; viel eher ist dies das syrische Volk selbst.

Die dschihadistisch-salafistische Bewegung, welche im Zuge der US-Besatzung des Iraks ans Licht getreten ist, ist größtenteils selbst ein Produkt des Assad Regimes. Die Sicherheitskräfte haben diese Gruppierungen durchdrungen und benutzen sie, um Druck auf die US-Besatzung, oder, nach dem syrischen Rückzug aus dem Libanon, im palästinischen Flüchtlingslager Nahr al-Bared auszuüben. Es ist bezeichnend, dass vor Ayman al-Zawaheris Unterstützungserklärung für die syrische Revolution keine dschihadistische Organisation, einschließlich Al-Qaida, verkündet hatte, dass sie Operationen gegen das syrische Regime durchführen würde, noch dieses verurteilt hätte.

Ungeachtet des Wachstums von Gruppierungen wie al-Ansar und al-Nour (8), besteht die echte Gefahr nicht darin, dass der Salafismus sich in einem post-revolutionären Syrien durchsetzt (es ist wahrscheinlicher, dass die dschihadistische Bewegung nach dem Fall des Regimes, das sie aufgezogen und versorgt hat in der Unbedeutendheit verschwindet). Viel gefährlicher in dieser Hinsicht ist, dass die Revolution scheitern könnte, bzw. dass sich die gegenwärtige Situation ohne Aussicht auf ein Ende der Gewalt fortsetzt. Der Grund hierfür ist, dass diese extremistischen Gruppen mit der Zeit an Stärke gewinnen. Zeit erlaubt ihnen, sich auszubreiten und die Gesellschaft zu durchdringen. Um die friedliche Natur der Revolution zu bewahren und die Zukunft des Landes und der Region zu sichern, muss die Krise so schnell wie möglich gelöst werden.

Die Unentschlossenheit der westlichen Mächte aufgrund ihrer Angst, dass salafistische und islamistische Dschihadisten in Syrien an Boden gewinnen, hat sie davon abgehalten, die Revolution tiefergehend zu unterstützen. Jedoch ist es ironischerweise genau diese Unentschlossenheit, die die idealen Bedingungen für einen dschihadistisch geprägten Aufstand hervorbringt. Dschihadisten füllen die Lücke, welche durch den Mangel an internationaler Aktion gegenüber der anhaltenden brutalen Gewalt des Regimes entstanden ist.

5. Fazit

Jede Betrachtung der syrischen Revolution muss sich zuallererst darauf richten, was in Syrien tatsächlich passiert: ein Volk verlangt die grundlegenden Rechte auf Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung gegenüber einem Regime, welches entschlossen ist, sich an die Macht zu klammern, koste es was es wolle; ein Volk welches vor einem Regime geschützt werden muss, das jegliche Verantwortung fallen gelassen hat und entschlossen ist, seine Bevölkerung mit allen ihm zur Verfügung stehenden barbarischen Mitteln zu unterdrücken.

Pflicht und Moral gebieten, dass die arabische und die internationale Gemeinschaft unverzüglich und effektiv unter dem Prinzip der Schutzverantwortung eingreifen, um die Gewalt zu stoppen. Ebenso haben sie ein reales Interesse an einer schnellen Lösung der Krise. Die exzessive Gewaltanwendung während gleichzeitig eine umsetzbare politischen Lösung fehlt, und das Gefühl der Menschen, dass sie beim Kampf gegen eine staatsgestützte Mordmaschine auf sich allein gestellt sind, kreiert die perfekte Umgebung für die Ausbreitung einer gewalttätigen Gegenbewegung, deren Auswirkungen auch außerhalb der Grenzen Syriens zu spüren sein werden. Die Situation im Libanon ist hierfür eine ernüchternde Mahnung.

Es ist folglich angemessen darauf hinzuweisen, dass das Versagen der internationalen und regionalen Mächte dem syrischen Volk bedeutsame Unterstützung zukommen zu lassen, vom Widerwillen herrührt, irgendeine Form militärischer Intervention, direkt oder indirekt, auf die Beine zu stellen. Die internationale Gemeinschaft versteht nicht, dass eine militärische Intervention nicht die einzige Lösung ist und versäumt deshalb andere Wege, wie eine z.B., den s Fall an den Internationalen Strafgerichtshof zu überweisen, zu erkunden.

Unten angeführt sind einige alternative Optionen die den internationalen Akteuren zur Verfügung stehen:

  1. Druck auf das Regime und seine Alliierten ausüben, damit dieses den Kofi-Annan-Plan vollständig implementiert.
  2. Das syrische Regime hat sich bislang aufgrund seiner regionalen Alliierten in halten können. Die internationale Gemeinschaft kann dabei helfen, die Krise zu lösen, in dem es regionale Bündnisse mit dem Regime kappt und Druck auf Russland, China und Iran ausübt, die Lieferung von militärischer, materieller und technologischer Hilfe einzustellen, welche es Assad ermöglicht, seinen Krieg gegen die Bevölkerung durchzuführen.
  3. Druck auf Nachbarstaaten (Irak, Libanon und Jordanien) ausüben, damit diese sich den Sanktionen anschließen, um so deren Effektivität zu steigern und die Lebensdauer des Regimes zu verkürzen.
  4. Internationale und arabische Akteure dazu zu ermutigen, zusammenzuarbeiten, um die vollständige politische Isolation des Regimes sicherzustellen.
  5. Daran zu arbeiten, die Anzahl der internationalen Beobachter und Peacekeeper zu erhöhen, um der Gewalt ein Ende zu bereiten und das Recht der Syrer zu schützen, sich an friedlichen Demonstrationen zum Sturze des Regimes zu beteiligen. (9)
  6. Druck auf die traditionelle politische Opposition und ihre regionalen Unterstützer ausüben, endlich zusammenzuarbeiten und eine klare Vision für ein post-Assad Syrien zu entwerfen. Diese muss einen Plan mit praktischen Schritten enthalten, um Syriens Wandel hin zu einem existenzfähigen zivilen und demokratischen Staat, der die Rechte und Freiheiten all seiner Bürger schützt zu garantieren. Dies wird denjenigen Sicherheit geben, die Zweifel an den Zielen der Revolution hegen und die über die Lebensperspektiven nach Assad beunruhigt sind.
  7. Alle legitimen Mittel anwenden die zur Verfügung stehen, um den Syrern zu helfen, das Regime selbst zu stürzen.
  8. Die syrischen Flüchtlinge im Ausland unterstützen und sicherstellen, dass ihnen ein würdiges Leben und die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse zuteilwird. Diese Flüchtlinge vor Zwangsrückführung zu schützen, was in der derzeitigen Lage ihr Leben in Gefahr bringen könnte.
  9. Der Opposition helfen eine militärische Organisation aufzubauen, um so den Einfluss extremistischer Gruppen zu reduzieren, für welche das gegenwärtige Syrien eine ideale Umgebung darstellt. Die internationale Gemeinschaft sollte die „Freie Syrische Armee“ anerkennen und sie darin unterstützen, sich politisch und intellektuell zu organisieren, die Prinzipien der Selbstverteidigung und Bürgerverteidigung, für welche diese ursprünglich geschaffen wurde, zu klären und sie so hoffentlich in ein Bollwerk gegen die zunehmend einflussreichen salafistischen Kampfgruppen transformieren.
  10. Den Aufbau syrischer, arabischer und internationaler “Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“ mit der Aufgabe, Beweise für die Verurteilung für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sammeln. Die Täter müssen das Gefühl bekommen, dass sie die Konsequenzen für ihre Handlungen tragen werden müssen: nichts anderes wird sie davon überzeugen, davon abzulassen.
  11. Staaten, welche zu den Unterstützern von Sanktionen gegen das Regime zählen, müssen einen klaren Fahrplan entwerfen, wie nach dem Fall des Regimes diese Strafmaßnahmen wieder aufgehoben und die syrische Wirtschaft zu ihrer vollen Stärke zurückkehren kann. Dies würde den syrischen Geschäftsleuten, welche gegenwärtig das Regime stützen, versichern, dass die syrische Wirtschaft nicht den Weg der Volkswirtschaften in Irak und Libanon gehen wird, und dass das Ende des Regimes auch in ihrem Interesse ist.

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(1) “The Financial Times: Iran helps Syria to overcome oil sanctions.” BBC Arabic Website, 18. Mai 2012

(2) Ibrahim Seif, “Syrian economy on the brink.” 22. Mai, 2012. Carnegie Endowment for International Peace

(3) Die Schutzverantwortung ist ein Prinzip, welches die UN-Generalversammlung 2005 im Kontext der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien, Ruanda, Kongo, Somalia, Kosovo und andernorts, angenommen hat.  Es verknüpft die Souveränität eines Staates mit dessen Verantwortung zum Schutze der eigenen Bevölkerung.

(4) Center for documentation of violations in Syria

(5) Falls ein Staat eindeutig darin versagt, seine Bürger zu schützen, geht die Verantwortung auf die internationale Gemeinschaft über, zeitnah und entschlossen mit friedlichen oder militärischen Mitteln nach Kapitel 6, 7 und 8 der Charta der Vereinten Nationen zu reagieren. Dies beinhaltet Sanktionen, die Überweisung an den Internationalen Strafgerichtshof und eine militärische Intervention.

(6) D.h. militärische und technische Unterstützung der bewaffneten Opposition.

(7) Der Slogan “Ya Allah, ma ilna ghayrak, ya Allah” (Oh Gott, wir haben niemanden außer Dir, oh Gott) der im Sommer 2011, wenige Monate nach Beginn der Revolution auftauchte, deutet auf das zunehmende Gefühl vieler Syrier von einer tiefen Isolation und fehlender Unterstützung hin.

(8) Beides sind Gruppierungen bewaffneter islamistischen Dschihadisten, welche von sich behaupten, in Syrien zu operieren.

(9) Wie zum Beispiel streiken zu können, ohne dass die Sicherheitstruppen oder die shabiha in Geschäfte einbrechen und diese plündern.

Winfried Nachtwei

Schwerste Menschenrechtsverbrechen verhüten

Schwerste Menschenrechtsverbrechen verhüten – Die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) zwischen Notwendigkeit, Tücken und Umsetzung – Herausforderung für deutsche Sicherheits – und Friedenspolitik [1]

von Winfried Nachtwei, MdB a.D., Münster: Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention beim AA (Co-Vorsitzender), im Vorstand der Dt. Gesellschaft für die Vereinten Nationen und des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, Juni 2012

Winfried Nachtwei

Winfried Nachtwei

Mit den Gewaltexzessen von Libyen und Syrien hat die internationale Verantwortung zum Schutz vor schwersten Menschenrechtsverbrechen (Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) eine neue Aktualität und Dringlichkeit bekommen.

Grundsätzlich gilt: Wo Staaten in ihrer Schutzverantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung versagen, geht die Schutzverantwortung auf die Internationale Gemeinschaft über. Diese ist angesichts drohender oder akuter schwerster Menschenrechtsverbrechen zum Handeln verpflichtet. Die Art der Maßnahmen ist abhängig von der Geschlossenheit der Internationalen Gemeinschaft (vor allem im Rahmen der UN) und davon, was aussichtsreich, leistbar und verantwortbar ist. Nicht verantwortbar sind Maßnahmen, die absehbar das Übel noch vergrößern würden. Dementsprechend beinhaltet die internationale Schutzverpflichtung auch das Recht auf eine Militärintervention, wenn es der UN-Sicherheitsrat beschließt, aber keineswegs eine Verpflichtung dazu. Weiterlesen

Welchen Beitrag kann Deutschland für die Schutzverantwortung leisten?

Am 10. Mai 2012 organisierte Genocide Alert e.V. in Zusammenarbeit mit der International Coalition for the Responsibility to Protect (ICRtoP) eine Podiumsdiskussion im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin zum Thema „Responsibility to Protect: Welchen Beitrag kann (und will) Deutschland für die Schutzverantwortung leisten?“. Bei der gut besuchten Veranstaltung, die Politik, Bürokratie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammenbrachte, wurden zentrale Fragen zur bisherigen Unterstützung und Umsetzung des Konzepts der Schutzverantwortung durch Deutschland sowie die konkrete Anwendung der RtoP in Libyen und Syrien debattiert.

 

Institutionelle Verankerung der Schutzverantwortung im Auswärtigen Amt

Der Moderator der Veranstaltung, Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch Deutschland, stieg direkt in die Diskussion ein und fragte, wie die Schutzverantwortung im Auswärtigen Amt institutionell verankert sei. Hermann Nicolai, Referatsleiter in der VN Abteilung im Auswärtigen Amt erklärte, dass sein Referat derzeit für die Schutzverantwortung zuständig sei, da es sich unter anderem mit konzeptionellen Fragen der Vereinten Nationen beschäftigte. Da sich seit 2005 bezüglich der Schutzverantwortung einiges geändert hätte überlege das Auswärtige Amt aber zurzeit – angestoßen von der Schaffung des „Atrocities Prevention Board“ in den USA und der Ernennung von „RtoP Focal Points“ in vielen anderen Ländern – die Verantwortlichkeit für die Schutzverantwortung in eine operativere Position zu verlegen. Wolfgang Seibel, Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Konstanz, beschrieb die Entwicklung der Beschäftigung des Auswärtigen Amtes mit der Schutzverantwortung als „steile Lernkurve“. Nach der heftigen Kritik der Entscheidung der Bundesregierung, sich in der zweiten Libyenresolution 1973 im letzten Jahr zu enthalten, habe man ab Sommer 2011 selbst in der Rhetorik des Außenministers den Begriff der Schutzverantwortung vernehmen können.

 

Die deutsche Position zur „Responsibility while Protecting“

Bezüglich des drei Säulenkonzeptes der Schutzverantwortung äußerte Wolfgang Seibel die Vermutung, dass die deutsche Vertretung bei den VN im Gegensatz zu der VN-Abteilung im AA in Berlin den Ansatz vertrete, das Modell nicht als ein konsekutives zu verstehen, sondern als integrales, in dem alle Säulen gleichzeitig geprüft werden. Dies sei im Gegensatz zu dem Vorschlag von Brasilien zur „Responsibility while Protecting“ zu sehen, welcher die konsekutive Anwendung der drei Säulen vertritt. Hermann Nicolai betonte, dass es im Bezug auf die Bewertung des brasilianischen Konzeptes keine Unterschiede zwischen der deutschen VN-Vertretung und der VN-Abteilung in Berlin gäbe. Der Vorschlag der Brasilianer würde im AA mit „großer Skepsis“ betrachtet, da man natürlich alle drei Säulen gleichzeitig prüfen müsse. Die Bundeskanzlerin hätte mit der brasilianischen Präsidentin höchstpersönlich darüber gesprochen und die deutschen Bedenken geäußert. Es gäbe aber auch positive Aspekte des Konzeptes: Deutschland habe die Hoffnung, dass durch den brasilianischen Vorschlag weitere RtoP-skeptische Länder für eine Unterstützung der Schutzverantwortung gewonnen werden können. Die Bundesrepublik unterstütze außerdem die Idee eines „monitoring mechanism“ für die Überwachung von autorisierten RtoP-Missionen, die auch in dem brasilianischen Vorschlag enthalten sei.

 

Konkrete Unterstützung der RtoP durch Deutschland

Zur konkreten Unterstützung der Schutzverantwortung durch Deutschland erwähnte Hermann Nicolai die finanzielle Unterstützung durch die Bundesrepublik für das Büro des Sondergesandten des UN Generalsekretärs für die Schutzverantwortung, Ed Luck, sowie den Einsatz Deutschlands in der „Friends of RtoP“ Gruppe in New York. Des Weiteren engagiere sich Deutschland politisch dafür, das Konzept weiter zu entwickeln, zum Beispiel im Dialog mit Brasilien und Südafrika. Das Auswärtige Amt hätte daher im Juni 2012 in Pretoria einen Workshop organisiert, um mit den Brasilianern, Südafrikanern und internationalen Experten über die RtoP zu diskutieren. Die Schutzverantwortung würde außerdem von der gesamten Europäischen Union unterstützt. So stünde im neuen Prioritätenpapier für die EU-Politik in der VN, dass der weitere Ausbau und die Operationalisierung der Schutzverantwortung zu den Prioritäten gehören. Thorsten Benner, stellvertretender Direktor des Global Public Policy Institute in Berlin, lobte das Zugehen auf die BRICS Staaten durch die deutsche Außenpolitik, da Normentwicklung nur im Dialog mit den aufstrebenden Mächten funktionieren könne. Er kritisierte aber auch, dass vom AA im Bezug auf die Schutzverantwortung keine Themenführerschaft ausginge und man lediglich reagiere und sich internationalen Entwicklungen anpasse. Man solle die Schutzverantwortung nicht allein als eine völkerrechtliche Frage sehen, die man über die nächsten Jahrzehnte ausarbeiten müsse, sondern diese als eine politisch-moralische Verpflichtung verstehen, die Deutschland im Jahre 2005 eingegangen sei.

 

Ein „Atrocities Prevention Board“ in Deutschland?

Auf die Frage, ob und in welcher Form man in Deutschland eine ähnliche Koordinierungseinheit wie das „Atrocities Prevention Board“ in den USA schaffen sollte, antwortete Marina Schuster, Bundestagsabgeordnete und Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion für Menschenrechte, dass sie sich einer solchen Idee zwar nicht entgegen stellen würde. Anstatt nationale Konzepte auszubauen, würde sie jedoch  eine größere multilaterale Anstrengung bevorzugen. Hermann Nicolai befand die gegenwärtigen Strukturen als ausreichend. Die Arbeitsgruppe zum Ressortkreis zivile Krisenprävention beschäftigte sich mit ähnlichen Fragen wie das „Atrocities Prevention Board“. Der Ressortkreis und dessen Beirat zusammengenommen wären in ihrer Zusammensetzung nicht viel anders als das amerikanische Modell. Die Schutzverantwortung sei zwar im Ressortkreis noch nicht diskutiert worden, wäre aber dort bald Thema. Robert Schütte, Vorsitzender von Genocide Alert, warnte, dass man vorsichtig sein sollte, dass die RtoP nicht unter ziviler Krisenprävention subsumiert würde, da sie das darüber liegende Konzept sei und die Krisenprävention lediglich ein Teil davon sein sollte.

 

Die Libyenintervention und die deutsche Enthaltung

Im Bezug auf die NATO Intervention in Libyen im letzten Jahr erinnerte Robert Schütte daran, dass man sich bei aller Kritik in Deutschland bewusst machen sollte, was passiert wäre, wenn die NATO nicht eingegriffen hätte. Er sei sich sicher, dass in diesem Fall die Frage gestellt worden wäre, wie „nach Ruanda, nach Srebrenica, nach den langen Diskussionen zur Schutzverantwortung, unter den Augen der Welt, angekündigt, ein großes Massaker in Benghazi hat stattfinden können“. Thorsten Benner befand, dass man es sich zu einfach mache, wenn man die NATO-Mission, so wie sie gelaufen sei, für gut heißen würde. Er argumentierte, die NATO hätte nach dem verhinderten Massaker in Benghazi erst einmal den Sieg erklären sollen, um anschließend alle Optionen neu zu bewerten. Auch wenn die Kritik und Argumente gegen die RtoP, insbesondere von Russland und China, oft scheinheilig wären, hätte man es diesen Kritikern durch die Implementierung der Libyenmission zu leicht gemacht. Im Bezug auf die deutsche Enthaltung bei der Resolution 1973, die die NATO-Intervention autorisierte, kritisierte Wolfgang Seibel die Entscheidung der deutschen Bundesregierung, in einem solchen „glasklaren RtoP-Fall“ die internationale Gemeinschaft nicht zu unterstützen. Marina Schuster stellte fest, dass keine Partei im deutschen Bundestag eine Beteiligung an einer Mission in Libyen befürwortet oder gefordert hätte und sie die Position vieler – man hätte mit „Ja“ stimmen, sich aber dann trotzdem nicht beteiligen sollen – kritisch sehe.

 

Deutsche Verantwortung im RtoP-Fall Syrien

Hinsichtlich der Lage in Syrien und der Blockadehaltung Russlands und Chinas im Sicherheitsrat beschrieb Marina Schuster ein „Gefühl der Ohnmacht“. Man habe die im parlamentarischen Bereich zur Verfügung stehenden Mittel genutzt und zum Beispiel mit dem russischen Botschafter Gespräche geführt. Wolfgang Seibel bemerkte, dass es in Syrien nicht um eine militärische Intervention ginge, da sich Syrien in einer äußerst komplexen geopolitischen Lage befände und eine Intervention nicht die gleichen Erfolgschancen wie in Libyen hätte. Seiner Meinung nach sollte Deutschland mehr tun um die Länder, die im  Sicherheitsrat weitere Maßnahmen blockierten, insbesondere Russland und China, mehr unter Druck zu setzen.  Deutschland solle trotz eventuell dem entgegen stehenden Wirtschaftsinteressen eine „klare Sprache“ sprechen. Herrmann Nicolai entgegnete dem, dass es nicht zielführend sei, dies öffentlich zu tun und man durch Diplomatie inzwischen zumindest die Mission von Kofi Annan möglich gemacht habe. Robert Schütte warnte, dass man sich auch auf nationalstaatlicher Ebene Gedanken machen müsse, welche Handlungsoptionen es gäbe, wenn diese Mission  scheitere.

 

Notwendige Maßnahmen zur Umsetzung der Schutzverantwortung

Die Podiumsteilnehmer nannten eine Reihe von notwendigen Maßnahmen, die die internationale Gemeinschaft und Deutschland ergreifen sollten, um eine bessere Umsetzung der Schutzverantwortung zu erreichen. Thorsten Benner sprach sich für eine Stärkung der Überwachungskapazitäten der Vereinten Nationen aus, damit diese die Verletzung der Schutzverantwortung von Seiten der Staaten überwachen können.

Marina Schuster berichtete, dass sie in der parlamentarische Versammlung des Europarates einen Bericht vorgelegt habe, der eine Folgekonferenz der „International Commission on Intervention and State Sovereignty“ (ICISS) vorschlage, um strittige Fragen zur RtoP im Völkerrecht zu klären. Der Bericht sei von der parlamentarischen Versammlung beschlossen und an den VN-Generalsekretär Ban Ki-moon gesendet worden. Deutschland müsse sich dafür einsetzen, dass das Konzept nicht diskreditiert oder missbraucht würde. Robert Schütte, betonte, dass es notwendig sei „Schutz von Zivilisten“ als Konzept  genau zu definieren. Obwohl die Vereinten Nationen seit 1999 dies als Aufgabe in Mandaten von VN-Missionen verankern, sei immer noch nicht genau ausbuchstabiert, was dies genau bedeute. Auch Wolfgang Seibel erinnerte, dass die RtoP tagtäglich in Peacekeeping-Missionen eine Rolle spiele. Man müsse dafür sorgen, dass diese ausreichend ausgestattet sind, um ihre Mandate erfüllen zu können.

 

Politischer Wille für die Schutzverantwortung in Deutschland?

Ein zentraler Punkt für die Unterstützung der Schutzverantwortung durch Deutschland, der von vielen der Podiumsteilnehmer angesprochen wurde, war die Frage des politischen Willens in Deutschland. Thorsten Benner bemerkte, dass die Bundeskanzlerin, die sich vielen außenpolitischen Themen angenommen habe, die Schutzverantwortung nicht öffentlich unterstützt. Dies lege daran, dass man in Deutschland mit diesem Thema als Politiker nichts gewinnen könne. Er lobte die Arbeit von Genocide Alert als „eine der wenigen NGOs in Deutschland“, die bei dem Thema Druck ausübten und betonte den Bedarf an mehr Überzeugungsarbeit in Politik und Gesellschaft. Wolfgang Seibel stellte den Unterschied der politischen Unterstützung der Libyenintervention in Frankreich und Großbritannien gegenüber Deutschland hervor. In den ersten beiden Ländern habe es eine breite Befürwortung des Einsatzes, auch durch die jeweilige Opposition und in der Bevölkerung, gegeben. Die dortigen Regierungen hätten es sich im Gegensatz zu der deutschen schlecht leisten können, nicht zu intervenieren. Auf eine Frage aus dem Publikum, ob die Schutzverantwortung nicht nur eine vorgeschobene Deckung für militärische Interventionen sei, entgegnete er, dass die nur in Fällen schlimmster Massenverbrechen greife. Dies seinen Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Man müsse sich dann konkret mit der Frage der moralischen Verantwortung auseinandersetzen, wenn man in Fällen wie Srebrenica und Ruanda, aber auch Benghazi nicht eingreife, sondern zuschaue. Robert Schütte hob auch abschließend den Widerspruch hervor, dass die deutsche Bevölkerung in einer Umfrage zur Libyenintervention zwar mit einer Zweidrittelmehrheit eine Intervention befürwortete, eine deutsche Beteiligung an dieser aber mit der gleichen Mehrheit ablehnte. Er sprach sich dafür aus, in Deutschland auch eine „Freundesgruppe“ der Schutzverantwortung zu schaffen, um dem Thema in Politik und Gesellschaft mehr Prominenz zu geben. Die von Genocide Alert organisierte Veranstaltung wäre ein Versuch, zu diesem Prozess beizutragen.

 

Sarah Brockmeier

Klicken Sie hier für die PDF Version des Berichtes. Hier zum Programmheft der Veranstaltung. Eine Videoaufnahme der Veranstaltung wird bald auf dieser Seite veröffentlicht.

Podiumsdiskussion: „‚Responsibility to Protect‘: Welchen Beitrag kann (und will) Deutschland für die Schutzverantwortung leisten?“

Genocide Alert e.V. freut sich, zu einer spannenden Podiumsdiskussion zum Thema ‚Deutschland und die Schutzverantwortung‘ einzuladen. Die Podiumsdiskussion wird veranstaltet von Genocide Alert in Zusammenarbeit mit  der „International Coalition for the Responsibility to Protect“ (ICRtoP). 

Das Konzept der Schutzverantwortung basiert auf der Überzeugung, dass der Schutz des Menschen die oberste Aufgabe jeglichen staatlichen Handelns darstellt. Sollte ein Staat nicht fähig oder willens sein, seine Bürger vor Massenverbrechen zu schützen, geht diese Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung auf die Staatengemeinschaft über. Vor dem Hintergrund der Konflikte in Libyen und Syrien wollen wir mit politischen Entscheidungsträgern und Experten diskutieren, wie die Schutzverantwortung durch Deutschland in Zukunft konkret umgesetzt werden kann und sollte.

Die Veranstaltung findet statt am: Donnerstag, 10.05.2012, 19.00 Uhr, im Robert-Havemann-SaaHaus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin.

Die Veranstaltung „Responsibility to Protect‘: Welchen Beitrag kann (und will) Deutschland für die Schutzverantwortung leisten?“ wurde auf Video aufgenommen und kann über den YouTube-Kanal von Genocide Alert abgerufen werden.


Programm:

19.00 Begrüßung

Genocide Alert & Schutzverantwortung, Sven Scheid, Genocide Alert

19.10 Diskussion:

  • Wurde Deutschland seiner internationalen Verantwortung bei der Umsetzung der Schutzverantwortung bisher gerecht?
  • Welchen Beitrag kann (und will) Deutschland zukünftig für die Schutzverantwortung leisten?

Podiumsteilnehmer:

Marina Schuster (FDP), MdB

Christoph Strässer (SPD), MdB (angefragt)

Prof. Dr. Wolfgang Seibel, Universität Konstanz

Hermann Nicolai, Auswärtiges Amt

Thorsten Benner, Global Public Policy Institute

Robert Schütte, Genocide Alert

Moderation: Wenzel Michalski, Direktor Human Rights Watch Deutschland

20.30   Fragen aus dem Publikum

21.00   Empfang

Um eine Anmeldung wird gebeten unter sekretariat@genocide-alert.de.

Für Fragen zur Veranstaltung, wenden Sie sich bitte an  Sven Scheid, Genocide Alert e.V., sven.scheid@genocide-alert.de.

Mehr Informationen zur Schutzverantwortung und Genocide Alert finden Sie unter  www.schutzverantwortung.de und www.genocide-alert.de. 

Hier zur PDF Version der Einladung.

Factsheet: Die dritte Säule der Schutzverantwortung

Factsheet: Die dritte Säule der Schutzverantwortung: Die rechtzeitige und entschlossene Reaktion auf Massenverbrechen von Gregor Hofmann,  30.04.2012 Im Sommer 2012 debattiert die Generalversammlung der Vereinten Nationen die “dritte Säule” der Schutzverantwortung oder “Responsibility to Protect.” In diesem Factsheet übersetzt und ergänzt Genocide Alert die Publikation “Clarifying the Third Pillar of the Responsibility to Protect” der International Coalition for the Responsibility […]

Heidemarie Wieczorek-Zeul mdB und Bundesministerin a.D. (Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)

Interview mit Heidemarie Wieczorek-Zeul zur Schutzverantwortung

„Wir dürfen niemals vergessen, weshalb das Konzept der Schutzverantwortung von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde.“

20.03.2012

Nach der Enthaltung der Bundesregierung bei der Sicherheitsresolution zur Libyen-Intervention im letzten Jahr, kritisierte Heidemarie Wieczorek-Zeul die Bundesregierung scharf und erinnerte im Bundestag eindringlich an das Prinzip der  Schutzverantwortung. Im Interview mit Genocide Alert geht die SPD Abgeordnete und Bundesministerin a.D. für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit der Bundesregierung hart ins Gericht und erklärt warum sie die Schutzverantwortung für so wichtig hält und welche Schritte die Bundesregierung im Fall Syrien unternehmen sollte. Weiterlesen

So viel wie nötig, so wenig wie möglich? – Das Spannungsfeld zwischen Schutzverantwortung und Regimewechsel

von Lena Kiesewetter, 15. März 2012

Irgendwann während des Libyen-Einsatzes der NATO wurden die Begründungen für den Einsatz unklar, verschwamm die Grenze zwischen einem Einsatz, der die Menschen in Benghazi vor einem Massaker retten sollte und einem solchen, der Gaddafi vom Thron stoßen sollte. Kritik wurde laut, dass es hier mehr um einen Regimewechsel ging als um einen Einsatz im Rahmen der Schutzverantwortung. Aber wo ist die Grenze zwischen dem einen und dem anderen, wenn die Machthaber nicht nur beim Schutz der Bevölkerung versagen, sondern sie sogar selbst angreifen? Kann ein Regimewechsel im Rahmen der Schutzverantwortung überhaupt kategorisch ausgeschlossen werden? Weiterlesen

Die Schutzverantwortung, die Libyen-Intervention und die Folgen für Syrien

Die Massenverbrechen in Libyen im Frühjahr 2011 schockierten die Weltöffentlichkeit. In der Folge autorisierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erstmals ein militärisches Eingreifen in einen inneren Konflikt unter dem Banner der Responsibility to Protect (im Deutschen auch Schutzverantwortung). Durch Resolution 1973 wurden die Mitgliedstaaten am 17. März autorisiert „alle notwendigen Maßnahmen“ zum Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen zu ergreifen und eine Flugverbotszone einzurichten. Dies wird von vielen als erste erfolgreiche Anwendung der dritten Säule der Responsibility to Protect gesehen.

Diese dritte Säule beinhaltet den Übergangs der Verantwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung an die Internationale Gemeinschaft, sollte ein Staat unwillig oder unfähig sein diese vor Massenverbrechen zu schützen. Dabei ist ein militärisches Eingreifen nur eine Option in einem Kontinuum an Reaktionsmöglichkeiten: Diese können von Mediation zwischen den Konfliktparteien über politischen und diplomatischen Druck bis hin zu Sanktionen oder eben, sollten alle anderen Mittel ausgeschöpft sein, dem Einsatz militärischer Gewalt reichen.

Doch die maßgeblich durch die NATO-Staaten Großbritannien und Frankreich durchgeführte Libyen-Intervention sei, so Kritiker, nicht auf das erteilte Mandat beschränkt gewesen: Erklärtes Ziel des Einsatzes war schließlich die Absetzung des libyschen Diktators Gaddafi. Am Beispiel Syrien wird im Folgenden erörtert, welche Auswirkungen der Eingriff in Libyen auf die internationale Reaktion in anderen Situationen, in denen Massenverbrechen begangen werden, hat.

Die Libyen-Intervention

russian in scNachdem zunäc hst Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten ab dem 19 März Angriffe auf militärische Ziele in Libyen geflogen und bereits nach wenigen Tagen die Lufthoheit über Libyen übernommen hatten, ging der Einsatz Ende März in die Verantwortung der NATO über. Unterstützt wurde sie dabei von Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Nachdem die Kontrolle über den Luftraum erreicht war, setzten Großbritannien und Frankreich ihre Angriffe auf militärische Ziele in Libyen fort, um die oppositionellen libyschen Rebellen im Kampf gegen die Truppen des Herrschers  Muammar al-Gaddafi zu unterstützen. Die Intervenierenden zielten dabei auf einen Regimewechsel ab, was mit dem Sturz Gaddafis und der Eroberung der libyschen Hauptstadt Tripolis im August 2011 schließlich erreicht wurde.

 Im Falle Libyens war entscheidend, das die nicht-westliche ständigen Sicherheitsratsmitglieder Russland und China, aber auch die nicht-ständigen Mitglieder Brasilien und Indien die Resolution 1973 nicht blockierten und so ein Eingreifen ermöglichten. Der Sicherheitsrat legitimierte mit dieser Resolution, die unter Bezug auf Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen erteilt worden war, die Anwendung von Zwangsmaßnahmen bis hin zum Einsatz von Gewalt, um den Schutz von Zivilisten sicherzustellen. Das mit der darauf folgenden Intervention verbundene Ziel eines Regimewechsels traf bei vielen Staaten aber auf Ablehnung.

Internationale Reaktionen auf den NATO-Einsatz in Libyen

Die expansive Auslegung des Mandats durch die NATO-Staaten und ihre Verbündeten wurde nicht nur von China und Russland kritisiert sondern auch von anderen Staaten Sicherheitsrat, wie Brasilien, Indien und Südafrika. Auch die Afrikanische Union kritisierte Ende Mai 2011 die einseitige Interpretation der Resolution 1973. Der südafrikanische Präsident Jacob Zuma beklagte, dass die Resolution für einen Regimewechsel missbraucht worden sei. Dies hatte auch direkte Auswirkungen auf den andauernden Entscheidungsprozess des Sicherheitsrates in Bezug auf Syrien. Einige Kommentatoren verweisen daher darauf, dass die Konzentration der NATO auf einen Regimewechsel in Libyen das eigentliche Ziel der Schutzverantwortung, den Schutz von Zivilisten, untergrub und damit zum Sargnagel der Schutzverantwortung werden könnte. Alte Vorurteile, dass die Responsibility to Protect ein Vorwand des Westens zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten sei, wurden wieder aufgewärmt.

Dies spiegelt sich auch in den Reaktionen im Sicherheitsrat auf Bemühungen der westlichen Mitglieder das syrische Assad-Regime für seine Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen wider: Am 4. Oktober 2011 scheiterte ein westlicher Resolutionsentwurf zu Syrien im Sicherheitsrat am Veto Russlands und China. Beide Staaten verweisen darauf, dass eine friedliche Lösung gesucht werden müsse. Russland bezog sich dabei auch direkt auf die NATO-Intervention in Libyen und beklagte, dass die Forderung nach einem zügigen Waffenstillstand durch das Eingreifen der NATO zu einem ausgewachsenen Bürgerkrieg geführt habe und dass das westliche Vorgehen auf keinen Fall wiederholt werden dürfe.

Natürlich muss dies auch vor dem Hintergrund der russischen und chinesischen Interessen und geopolitischen Überlegungen gesehen werden. Hinzu kommt, dass Syrien gesellschaftlich ein komplexeres Land ist als Libyen, da hier nicht nur unterschiedliche ethnische Gruppen sondern auch verschiedene, größere religiöse Gruppierungen zusammen leben, von denen eine Minderheit – die Alawiten – seit langer Zeit das politische Leben dominiert. Viele Beobachter befürchten bei einer Destabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung die Gefahr eines Ausbruchs ethnischer und religiöser Konflikte. Da Syrien regional eine bedeutendere Rolle einnimmt als Libyen, könnte ein chaotischer Regimewechsel oder ein Bürgerkrieg nach Meinung vieler Kommentatoren und Diplomaten im nahöstlichen Pulverfass katastrophale Konsequenzen haben – ein weiterer Grund dafür, dass bislang die hohe Zahl der Toten immer noch nicht zu einer robusteren Reaktion oder einem Eingreifen geführt hat.

Das Ende der Schutzverantwortung? Nein!

Die Kritik am Handeln der NATO in Libyen und die langsame Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die Geschehnisse in Syrien bedeutet aber kein Ende für die Responsibility to Protect als internationale Norm. Vielmehr zeigt dies, dass die Norm der Schutzverantwortung sich in einem schwierigen Umfeld entgegengesetzter geopolitischer Interessen bewähren muss. Trotz der Kritik am Handeln der NATO, hat der Einsatz die libysche Bevölkerung vor der mörderischen Gewalt des Diktators Gaddafi geschützt. Man darf nicht vergessen, dass dieser die Rebellen als „Ratten“ bezeichnet und angekündigt hatte, seine Truppen würden von Haus zu Haus gehen, um die Aufständischen ohne Gnade zu jagen – eine Terminologie, die auch in Ruanda vor dem Völkermord 1994 zum Einsatz gekommen war. Zudem muss berücksichtigt werden, dass die NATO in Einklang mit den Werten der Vereinten Nationen in einer multilateralen Operation gehandelt habe, so Ramesh Thakur, einer der geistigen Väter der Schutzverantwortung und Mitglied der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), die das Responsibility to Protect-Konzept 2001 entwickelt hatte.
Thakur hat Recht damit, dass der Fall Libyen keineswegs das Ende für die Schutzverantwortung sein wird. Dem Eingreifen sind sorgsame Verhandlungen im Sicherheitsrat vorausgegangen. Es handelte sich nicht um eine unilaterale Interessendurchsetzung der USA wie 2003 im Fall Irak, als humanitäre Motive einen alternative Rechtfertigung für den Krieg lieferten, nachdem die Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen als Legitimierungsgrundlage weggefallen waren. Wichtig sei nun aber auch, so Thakur, dass die ebenfalls mit der Schutzverantwortung verknüpfte Verantwortung der Internationalen Gemeinschaft zur Unterstützung des Wideraufbaus des kriegsversehrten Landes eingelöst werde. Eine Forderung die jedem Beobachter einleuchtend erscheinen dürfte und die angesichts der aktuellen Entwicklungen in Libyen, den in einigen Gebieten aufflammenden Kämpfen und den Vorwürfen Milizen würden Menschenrechtsverletzungen begehen umso wichtiger ist.

Die Schutzverantwortung bietet mehr Möglichkeiten als nur militärische Gewalt

Mit Blick auf den Fall Syrien und dessen strategische Bedeutung im Nahen Osten wird aber ebenso deutlich, dass die Schutzverantwortung eben nicht nur auf rein militärische Mittel reduziert werden kann. Die notwendigen Kriterien für ein militärisches Eingreifen – vernünftige Erfolgsaussichten und eine legitime Autorität zur Entscheidung über den Einsatz von Gewalt – scheinen in Syrien bislang nicht erfüllt zu sein. Obwohl die Zahl der Toten und die kontinuierliche Gewalt gegen die Zivilbevölkerung als legitimer Grund für ein Eingreifen hinreichend sind und der Emir von Katar in einem Interview eine arabische Intervention in Syrien zum Schutz der Zivilbevölkerung gefordert hatte.

In einer solchen Situation – in der ein Staat beim Schutz der Zivilbevölkerung versagt bzw. selbst Massenverbrechen begeht – müssen darum regionale Organisationen, wie die Arabische Liga eine zentrale Rolle spielen. Dadurch kann auch eine höhere Glaubwürdigkeit der handelnden Akteure sichergestellt werden und die Schutzverantwortung vom Generalverdacht, lediglich ein Deckmantel zur Durchsetzung westlicher Interessen zu sein, befreit werden. Zu diesem Schluss kommt auch Gareth Evans, ehemaliger australischer Außenpolitiker und damaliger Vorsitzender der ICISS. Diese Haltung wurde zudem auch von vielen Staaten im diesjährigen informellen Dialog zur Responsibility to Protect der Generalversammlung der Vereinten Nationen vertreten: Viele Staaten sahen die militärische Intervention in Libyen kritisch, begrüßten aber die konstruktive Rolle regionaler Organisationen bei der Lösung des Konflikts und betonten, dass friedliche ökonomische, politische oder humanitäre Mittel bei der Verhinderung von Massenverbrechen eine zentralere Rolle zukommen müssten. Wenn aber die Initiativen regionaler Organisationen scheitern, wie derzeit die Bemühungen der Arabischen Liga in Syrien, dann muss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen seiner Verantwortung gerecht werden und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln den Schutz der Zivilisten sicherstellen.

von Gregor Hofmann

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Ein trauriger Irrtum – Die Linkspartei und die Schutzverantwortung

Wenn es darum geht, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern ist die Linkspartei stets ganz vorne mit dabei – und das ist gut so. Durch unbequeme Fragen eröffnen sie das Störfeuer gegen eine Realpolitik, in welcher Wirtschaftsinteressen Vorfahrt gegenüber Menschenrechten haben. Leider kommt jedoch der Partei ihr ebenso großer Eifer in Sachen „Anti-Militarismus“ und ihr Generalverdacht des „westlichen Imperialismus“ gerade dann in die Quere, wenn es darum geht, die allerschlimmsten Formen der Menschenrechtsverletzungen – Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit- zu verhindern.
Dieser Irrtum ist nicht nur traurig aufgrund der Missverständnisse, welchen dieser falsch verstandene Pazifismus aufsitzt, sondern ist in seiner Konsequenz auch tödlich für die Menschen, für welche die Linkspartei zu sprechen meint. In ihrer fundamentalen Ablehnung von UN-Mission ignoriert die Linkspartei, dass die Blauhelme von UNAMID in Darfur oder MONUCSO im Ost-Kongo trotz ihrer Unzulänglichkeiten oft die Einzigen sind, welche für einen wenigstens minimalen Schutz der Bevölkerung sorgen, in dem sie vor Überfällen auf Dörfer abschrecken und beispielsweise Zivilisten beim Sammeln von Feuerholz begleiten.
Deutlich wird dieser Irrtum auch in ihrer Haltung zur Schutzverantwortung. Die jüngsten innerparteilichen Diskussionen zeigen zwar, dass es hier zumindest Hoffnung auf eine differenziertere Positionierung gibt. Letztendlich sind jedoch diejenigen Stimmen nach wie vor lauter, welchen das reine Dogma schwerer wiegt als ein Massengrab.
In dem Papier „Reformen zur Stärkung der UNO sind notwendig und machbar -Vorschläge für eine linke Positionierung zur Weltorganisation“ vom August 2011 wagten dessen Autoren André Brie, Ernst Krabatsch, Stefan Liebich, Paul Schäfer und Gerry Woop einen Schritt der zeigt, dass es auch in der Linkspartei Außenpolitiker gibt, die sich einem Umdenken nicht gänzlich verschließen.
Ein Abschnitt aus dem Menschenrechtskapitel lässt aufhorchen: „Die UNO haben Ende der 1990er Jahre einige zentrale Weichenstellungen zur Stärkung der Menschenrechte vorgenommen, zu denen die Annahme des Statuts des IStrGH in Den Haag (Römisches Statut vom 17. Juli 1998) und das […] Konzept der Schutzverantwortung (‚responsibility to protect‘) gehören. Dieses Konzept ist ein Kernstück des Übereinkommens zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords.“ Die Schutzverantwortung eine „zentrale Weichenstellung zur Stärkung der Menschenrechte„? Das wäre in der Tat eine längst überfällige Einsicht der Linkspartei, welche bislang darin doch ausschließlich ein Werkzeug des Neokolonialismus sieht.
Erfreulich ist ebenfalls, dass in dem Papier auch die erste und dritte Komponente – die Verantwortung zur Prävention und zum Wiederaufbau – als Teil der RtoP zur Kenntnis genommen werden – was in der Auseinandersetzung mit der Schutzverantwortung allzu oft, und nicht nur von Seiten der Linkspartei, vergessen wird.
Ist nun also auch in der Linkspartei der Weg zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Schutzverantwortung frei? Werden sich am Ende gar diejenigen durchsetzen, welche bereit sind, im Angesicht eines Völkermordes auch mal ein Dogma hintenanzustellen? Vorerst wohl nicht. Denn die Dogmatiker melden sich gleich umso lauter zu Wort. Und zwar so laut und grell, dass man nur noch mit dem Kopf schütteln kann. Die bloße Erwähnung der RtoP reich dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Linken, Jan van Aken, in dem differenzierten Papier seiner Parteigenossen vor allem eins zu sehen: „eine Kampfschrift für militärische UN-Interventionen“, letztendlich gar eine „Militäreinsatz-Propaganda“.

Sein Argument gegenüber der Sanktionierung militärischer Zwangsmaßnahmen durch den UN-Sicherheitsrat lautet: „die Kriterien sind butterweich, unklar definiert und können sehr weit ausgelegt werden.“ Und weiter: „Was z. B. als „massenhafte systematische Menschenrechtsverletzung“ gilt, darüber entscheiden vor allem Machtinteressen und massive Medienkampagnen. Rein formal sind auch die Sanktionen gegen Hartz-IV-Betroffene, die das Existenzminimum wegkürzen, ‚massenhafte systematische Menschenrechtsverletzungen‘.“ Van Aken hat recht, massenhafte systematische Menschenrechtsverletzungen gibt es leider zu genüge. Deren Grausamkeit mit Hartz-IV gleichzusetzen, kann man nur als eine geschmacklose Verunglimpfung der Opfer verurteilen. Und dennoch: Überall dort militärisch zu Intervenieren, wo Menschenrechte verletzt werden ist keine sinnvolle Option. In diesem Punkt ist Van Aken zuzustimmen.

Nur: Diese Argumentation verfehlt an dieser Stelle vollständig und zeugt von einen fundamentalen Missverständnis des Konzepts der Schutzverantwortung. In ihr geht es nicht um Menschenrechtsverletzungen per se. Lediglich Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen unter die Schutzverantwortung. Van Aken sollte wissen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit etwas anderes sind, als Menschenrechtsverletzungen. So schwierig es im Einzelfall auch sein mag, zu entscheiden, wann das Ausmaß erreicht ist, welches ein Eingreifen notwendig macht – butterweich sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit wohl kaum – und bei Hartz-IV sollte es für eine Intervention nach diesen Kriterien sicherlich nicht reichen. Schlimmer noch: Wieder einmal wird der Kernpunkt des Konzeptes der RtoP verkannt: Es geht darin nicht nur darum, Wege zu finden, um derartige Massenverbrechen vorzubeugen und in akuten Situationen zu unterbinden. Es ging in der Entwicklung der Schutzverantwortung von Anfang an vor allem darum, in der Debatte um die Willkür eines „Rechts zur humanitären Intervention“ eine Alternative zu bieten, welche sich einem möglichen Missbrauch verschließt.

Man muss sich fragen, ob dieses Missverständnis lediglich auf Unwissenheit beruht, was verwundern würde, oder ob eine bewusste Täuschung über das Konzept der Schutzverantwortung gewollt ist – es ist immerhin auch ganz praktisch, sich in dem Selbstverständnis als der „einzigen echten Friedenspartei“ gegenüber den „Kriegstreibern“ von SPD und Grünen im linken Lager abgrenzen und dies wahltaktisch Ausschlachten zu können. Bleibt die Frage, ob man lieber über Leichen gehen würde, als für die Verhinderung eines Völkermordes einen Populismus aufzugeben? Es ist zu hoffen, dass die Genossen um André Brie den Mut haben, sich den Kriegstreibervorwürfen aus der eigenen Partei zu stellen und mit unbequemen Fragen in Sachen Menschenrecht vielleicht auch einmal innerhalb der Linkspartei ein Störfeuer zu entfachen.

Christoph Schlimpert