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UN-Debatte zur Responsibility to Protect und Stellungnahme der ICR2P

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York diskutierte am 26. und 30. Juni über die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect – R2P) und die Verhütung von Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dabei wurde der neuste Bericht des UN-Generalsekretärs zur Umsetzung der R2P diskutiert. Die zivilgesellschaftliche Internationalen Koalition für die Schutzverantwortung (International Coalition for the Responsibility to Protect – ICR2P) äußerte sich mit einer schriftlichen Stellungnahme.

Alarmierendes Ausmaß an Massenverbrechen weltweit

Die diesjährige UN-Debatte fand vor dem Hintergrund eines alarmierenden Ausmaßes an Gewalt, Verfolgung und Konflikten weltweit statt. Während der russische Angriffskrieg auf die Ukraine in immer neue Grausamkeiten eskaliert, brachen neue Konflikte in Ländern wie dem Sudan aus, wo bereits in der Vergangenheit immer wieder schwere Gräueltaten verübt worden waren.

Es war das sechste Mal, dass sich die Generalversammlung als Teil der offiziellen Agenda mit dem auch mit R2P abgekürzten Konzept der Schutzverantwortung befasste. Mit dem Beschluss zur Schutzverantwortung hatte sich die Staatengemeinschaft im Jahr 2005 dazu bekannt, dass jeder Staat seine Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen hat. Die Staatengemeinschaft solle sie dabei unterstützen und bei Bedarf durch den UN-Sicherheitsrat aktiv werden, um Menschen vor Gräueltaten zu schützen.

UN-Sonderberater zur R2P George Okoth-Obbo: Millionen Menschenleben hängen davon ab, das Prinzip der R2P mit echter Bedeutung zu füllen

In der Debatte Ende Juni 2023 betonte George Okoth-Obbo, Sonderberater des UN-Generalsekretärs für die Schutzverantwortung, dass Millionen von Menschenleben davon abhingen, dem Prinzip der R2P eine wirkliche Bedeutung zu verleihen und Wege zu seiner wirksamen Umsetzung zu finden.

Sonderberater Okoth-Obbo stellte den neusten Bericht des Generalsekretärs über die Umsetzung der Schutzverantwortung vor („Development and the responsibility to protect: recognizing and addressing embedded risks and drivers of atrocity crimes” UN-Dokument Nr. A/77/910-S/2023/409). Er betonte, dass die Debatte besonders brisant sei, da nach wie vor unzählige Zivilisten in Konfliktsituationen gefangen und Opfer von Völkermord und Kriegsverbrechen seien. Die Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung sei daher heute noch genauso wichtig wie damals, als die Staatengemeinschaft auf dem Weltgipfel 2005 „Nie wieder“ skandiert hatte.

Der Bericht unterstreicht, dass Entwicklung die Voraussetzungen für nachhaltigen Frieden schaffen kann. In weniger entwickelten Ländern könnten jedoch Armut, gesellschaftliche Ungleichheiten, Menschenrechtsverletzungen und Konflikte den Nährboden für Massenverbrechen bereiten. Okoth-Obbo erinnerte daran, dass die jährliche Debatte zur R2P eine Mahnung sei, nicht vom Engagement zur Umsetzung der Schutzverantwortung abzuweichen. Er hob hervor: „Das Leben von Millionen von Menschen hängt davon ab, dass diese Verantwortung wahrgenommen wird“.

In der anschließenden Debatte erörterten die Redner die Frage, ob es sich bei der Schutzverantwortung um ein Prinzip oder einen Begriff handelt. Viele betonten, dass es sich um eine inhärente Verpflichtung souveräner Staaten nach dem Völkerrecht handele, während andere darauf hinwiesen, dass es keinen Konsens über ihre Definition und ihren Geltungsbereich gebe. Somit zeigten sich in der Debatte die alten Konfliktlinien in Bezug auf die Responsibility to Protect.

Der Vertreter Frankreichs, der in der Debatte für eine gemeinsame Initiative mit Mexiko sprach, betonte, dass die Verhinderung von Massenverbrechen eine der obersten Prioritäten der Vereinten Nationen bleiben müsse. Sie forderte die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates auf, sich zu verpflichten, im Falle von Massengrausamkeiten kein Veto einzulegen, und betonte, dass es „keine höhere Verantwortung als die des Schutzes unserer Bevölkerungen“ gebe.

Eine Reihe von Delegierten wiesen auch die Behauptung skeptischer Staaten zurück, die Schutzverantwortung sei nach wie vor eher ein undefinierter Begriff, der häufig dazu benutzt werde, sich in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten einzumischen. Vielmehr sei es wichtig durch konkrete Beispiele Hinweise für eine effektive Umsetzung und Implementierung der Schutzverantwortung in konkrete Politik und Programme zu geben.

In der Sitzung meldeten sich 54 UN-Mitgliedstaaten, eine Beobachtermission und die Europäische Union (EU) zu Wort und sprachen dabei im Namen von 102 Ländern und zwei Beobachtermissionen. Eine umfangreiche Zusammenfassung der Debatte ist auch auf der Website des Global Centre for the R2P zu finden. Da es sich um eine offizielle Debatte handelte, konnten sich zivilgesellschaftliche Organisationen nicht direkt in der Generalversammlung äußern.

Stellungnahme der Internationalen Koalition für die Schutzverantwortung zur UN-Debatte zur R2P am 26. Juni 2023

Die Internationalen Koalition für die Schutzverantwortung, zu der auch Genocide Alert gehört, hat folgende Stellungnahme zur Debatte der UN-Generalversammlung zur R2P am 26. Juni 2023 und zum diesjährigen Bericht des Generalsekretärs veröffentlicht (Die englische Original-Version der Stellungnahme kann hier als pdf abgerufen werden).

Die Internationale Koalition für die Schutzverantwortung (ICR2P) begrüßt die diese Woche stattfindende Plenarsitzung der UN-Generalversammlung zum Thema „Die Schutzverantwortung (R2P) und die Verhinderung von Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. ICR2P ist eine engagierte Gemeinschaft von 65 zivilgesellschaftlichen und nichtstaatlichen Organisationen aus der ganzen Welt, die sich für die Förderung der Menschenrechte, die Verhinderung von Gräueltaten und die wirksame und konsequente Umsetzung der R2P einsetzen.

ICR2P begrüßt den diesjährigen Schwerpunkt „Entwicklung und Schutzverantwortung“ im Bericht des UN-Generalsekretärs zur R2P. Wiederkehrende Gewalt, Konflikte und Gräueltaten in der ganzen Welt haben ihre Wurzeln oft in langjähriger institutionalisierter Diskriminierung, wirtschaftlicher Ungleichheit und Ungerechtigkeit, ungleichem Zugang zu Bildung, sozialer Ausgrenzung sowie Verletzungen und Missbrauch von Menschenrechten, einschließlich wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, und können durch die Auswirkungen des Klimawandels, den Verlust der biologischen Vielfalt und andere Umweltbelastungen noch verschärft werden. Diese Faktoren sind nicht nur selbst eine Quelle von Konflikten, sondern können auch die Fähigkeit einer Gesellschaft, Gräueltaten zu verhindern, erheblich beeinträchtigen. In der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung wird anerkannt, dass eine nachhaltige Entwicklung von der Förderung friedlicher, gerechter und inklusiver Gesellschaften abhängt, die frei von Angst und allen Formen von Gewalt sind. Die Förderung des Wirtschaftswachstums, die Verringerung der Armut und die Verbesserung der sozialen Bedingungen sind wiederum entscheidende Grundlagen für widerstandsfähige Gesellschaften, die das Risiko von Massenverbrechen vermindern und gefährdete Bevölkerungsgruppen schützen können. In dieser Hinsicht kann die Verwirklichung der Agenda 2030 als ein Eckpfeiler der Prävention von Gräueltaten betrachtet werden.

Wie im Bericht des Generalsekretärs erwähnt, zeigen die komplexen Zusammenhänge zwischen Entwicklung, Gräueltaten und R2P, wie wichtig ganzheitliche Präventionsmaßnahmen sind. Grausame Massenverbrechen sind keine zufälligen oder isolierten Vorfälle. Um die Bevölkerung vor Gräueltaten zu schützen, muss die internationale Gemeinschaft die zugrunde liegenden Faktoren verstehen, die menschliches Leid fortwährend herbeiführen, und in eine sinnvolle, wirksame und ganzheitliche Prävention investieren. Dies sollte auf einer umfassenden Frühwarnung beruhen, die eine akkurate Identifizierung aller Risikofaktoren beinhaltet, einschließlich derer, die mit Entwicklungsindikatoren zusammenhängen. Einige der wirksamsten Maßnahmen zur Verhütung von Gräueltaten sind nämlich diejenigen, die darauf abzielen, sozioökonomische Ungleichheiten, schlechte Regierungsführung, schwache Institutionen sowie Misswirtschaft und Missbrauch natürlicher Ressourcen zu verringern. Einzelne Mitgliedstaaten, regionale Gremien und das UN-System müssen solche Maßnahmen wirksamer ergreifen, um gefährdete Bevölkerungsgruppen besser zu schützen und kostspielige Nachsorgemaßnahmen nach Gräueltaten zu vermeiden.

Die internationale Gemeinschaft verfügt bereits über eine breite Palette von Instrumenten, um eine ganzheitliche Prävention von Gräueltaten zu gewährleisten. Was wir jetzt brauchen, ist ein umfassender und einheitlicher Ansatz für eine wirksame Umsetzung. Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen müssen sich unbedingt darum bemühen, Silos innerhalb des Systems aufzubrechen, indem sie die drei Säulen der Vereinten Nationen – Entwicklung, Menschenrechte sowie Frieden und Sicherheit – in einer Weise umsetzen, die die Wirksamkeit der Maßnahmen innerhalb jeder Säule ergänzt und verstärkt. Die Mitgliedstaaten sollten darauf hinarbeiten, die bereichsübergreifende Prävention von Gräueltaten im UN-System zu stärken, auch durch die Verknüpfung sektorübergreifender Agenden wie dem „Call to Action for Human Rights“ und „Our Common Agenda“. Dazu gehört auch die Stärkung der Art und Weise, wie Entwicklungszusammenarbeit, technische Unterstützung und Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau genutzt werden, um die Ursachen zu bekämpfen und andere Faktoren, die das Risiko von Gräueltaten erhöhen, abzuschwächen. Insbesondere die Peacebuilding Commission kann eine wichtige Rolle bei der Unterstützung von Staaten beim Übergang von Konflikten und Gräueltaten zu nachhaltigem Frieden spielen, indem sie sich mit den zugrunde liegenden Entwicklungsindikatoren befasst. Die Mitgliedstaaten sollten Möglichkeiten für ein stärkeres Engagement der Kommission für Friedenskonsolidierung prüfen, wenn es darum geht, Staaten zu unterstützen und den UN-Sicherheitsrat bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Schutzverantwortung zu beraten.

Wirksame Bemühungen zur Verhütung von Gräueltaten hängen auch von der Einbeziehung der Zivilgesellschaft ab. Die Zivilgesellschaft und die betroffenen Bevölkerungsgruppen, einschließlich jener, die Gräueltaten überlebt haben, verfügen über ein tiefgreifendes Verständnis und Fachwissen, das die UN-Mitgliedsstaaten in die Entwicklung und alle Bemühungen zur Verhütung von Gräueltaten einbeziehen und in den Mittelpunkt stellen sollten. Zivilgesellschaftliche Akteure und betroffene Gemeinschaften sind oft die ersten, die die Indikatoren und Frühwarnzeichen von Gräueltaten beobachten und dokumentieren – sie sind auch am stärksten von den wirtschaftlichen und sozialen Verwüstungen betroffen, die durch Gräueltaten angerichtet werden. Daher sollten die Akteure der Zivilgesellschaft und die betroffenen Gemeinschaften bei den Bemühungen um Frieden und Entwicklung nach Konflikten an vorderster Front stehen. Sie sind am besten in der Lage, die für ein langfristiges, nachhaltiges Wachstum erforderlichen Strategien zu beurteilen, einschließlich der am besten geeigneten Entwicklungsmaßnahmen, die eine strukturelle Prävention erleichtern können. Die Regierungen sowie internationale und regionale Organisationen müssen ihre Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den betroffenen Bevölkerungsgruppen in jeder Phase des Entscheidungsprozesses vertiefen, insbesondere bei der Festlegung von Entwicklungsprioritäten sowie bei der technischen Hilfe und dem Kapazitätsaufbau. Auf diese Weise kann die internationale Gemeinschaft angemessenere und wirksamere Präventivmaßnahmen ergreifen, die auf den Rechten der Menschen beruhen und sich an den Bedürfnissen der Gemeinschaften orientieren.

Die ICR2P würdigt die Staaten, die damit begonnen haben, kohärente regierungsweite Strategien und Ansätze zur Verhütung von Gräueltaten zu entwickeln, die die Geschlechter einbeziehen. Die ICR2P fordert alle Staaten auf, den Aufbau ähnlicher nationaler und regionaler Strukturen zur Verhinderung von Gräueltaten in Betracht zu ziehen, um Frühwarnung und Maßnahmen als zentrale Prioritäten zu institutionalisieren. Die Staaten sollten auch sicherstellen, dass Entwicklungshilfeprogramme allen Gemeinschaften gleichermaßen zugutekommen, Spannungen abbauen und die lokale Bevölkerung, einschließlich Frauen, indigener Völker, Angehöriger von Minderheiten und anderer Randgruppen, stärken. Die Mitgliedstaaten sollten die Mittel für einschlägige Programme zur Förderung des sozialen Zusammenhalts, zur Verhinderung identitätsbezogener Gewalt und zum Abbau von Spannungen zwischen den Gruppen sowohl in ihren inneren als auch in ihren äußeren Angelegenheiten aufstocken, ohne jedoch Mittel aus anderen Bereichen der Unterstützung und Hilfe für bedürftige Bevölkerungsgruppen abzuziehen.

Die ICR2P ruft alle UN-Mitgliedsstaaten auf, die diesjährige Plenarsitzung der Generalversammlung zum Thema R2P als Gelegenheit zu nutzen, nicht nur individuelle und kollektive Verpflichtungen zur Verhinderung von Gräueltaten und zur Schutzverantwortung zu erneuern, sondern diese Verpflichtungen auch in zeitnahe und wirksame Maßnahmen zu übersetzen. Als die Schutzverantwortung 2005 auf dem Weltgipfel beschlossen wurde, waren sich die Staaten einig, dass politische Erwägungen keine Entschuldigung für Untätigkeit angesichts der abscheulichsten Verbrechen sein können. Doch heute sind wir mit einem noch nie dagewesenen Ausmaß an Gewalt, Gräueltaten und Vertreibung konfrontiert. Die ICR2P steht als Partner für einzelne Staaten, regionale Gremien und die internationale Gemeinschaft bereit, um sicherzustellen, dass unsere dauerhafte Schutzverantwortung konsequent und ausnahmslos aufrechterhalten wird. Dies wird uns helfen, Schrecken der Vergangenheit zu vermeiden und den Kreislauf der Massenverbrechen zu durchbrechen.


» Weitere Informationen zur Responsibility to Protect sind zu finden auf unserem Informationsportal www.schutzverantwortung.de

Wissenschaft des Völkermordes: Gender Studies und Genozid

Genozide und andere Massenverbrechen geschehen nie in einem gesellschaftlichen Vakuum, sondern werden durch gesellschaftliche Vorstellungen beeinflusst. Daher ist es wichtig, Gendernormen und -stereotype mitzudenken, wenn es um Konflikte und (Massen-)Gewalt geht. Das Ziel einer gender-sensiblen Perspektive ist es dabei nicht (nur), die Rolle von Frauen in Konflikten zu analysieren. Vielmehr geht es Forscher:innen in diesem Themenfeld darum, den analytischen Mehrwert einer „Gender lens“ hervorzuheben und zu zeigen, wie sehr Gendernormen Menschen aller Gender beeinflussen.

Wie viel Fortschritt wagt der Koalitionsvertrag bei der Prävention von Massenverbrechen?

Der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition enthält Pläne zur Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes sowie zur weltweiten strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen. Er vernachlässigt aber die Prävention von Massenverbrechen. Das Bekenntnis zur internationalen Schutzverantwortung wird aufgeweicht.  

von Luca Bürgener und Moritz Drescher

Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ enthält vielversprechende Bekenntnisse zu einer wertebasierten, ressortübergreifenden und europäischen Außenpolitik. Bei der Verhinderung von Massenverbrechen ist der Fortschrittsgedanke jedoch kaum erkennbar.  Der auffälligste Unterschied zur Vorgängerregierung ist die Verpflichtung für den „Einsatz für Frieden, Freiheit, Menschenrechte, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Nachhaltigkeit“ im Zuge einer glaubwürdigen europäischen und deutschen Außenpolitik. Dieses Bekenntnis zu den Menschenrechten als fundamentales Ziel der Außenpolitik ist begrüßenswert.  

Wille zu ressortübergreifendem Handeln über Parteigrenzen hinweg 

Das Bekenntnis zur Stärkung des Amtes des bzw. der Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe ist zu begrüßen. Darüber hinaus sollen nationale Menschenrechtsinstitutionen und Förder- und Schutzprogramme für Menschenrechtsverteidiger*innen finanziell und personell aufgestockt werden. Die Wahrung der Menschenrechte wird als das wichtigste „Schutzschild der Würde des Einzelnen“ benannt. Die deutsche Außenpolitik soll „aus einem Guss agierend und ressortübergreifend gemeinsame Strategien erarbeiten, um die Kohärenz unseres internationalen Handels zu erhöhen“. Somit erfüllt der Koalitionsvertrag in dieser Hinsicht wichtige langjährige Forderungen von Genocide Alert nach mehr Koordination. Ein ressortübergreifender Bestandsbericht zur Prävention von Massenverbrechen, der hierzu die Grundlage schafft, sollte nun folgen.  

Starke Defizite bezüglich der Prävention von Massenverbrechen 

Über die bisherigen Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ hinaus plant die neue Regierung, die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Ministerien zu verbessern und Planziele zu definieren, „um verlässlich […] Mittel für zivile Krisenprävention bereitstellen zu können“.  

Die weltweite Menschenrechtslage wird nicht umfassend bewertet. Die Bürgerkriege in Syrien und im Jemen und die Situation im Irak und Afghanistan werden benannt, allerdings werden die Menschenrechtslage sowie die Problematik der Massenverbrechen weder betont noch allgemein adressiert. Ebenso wenig werden Massenverbrechen als eigenständiger Typ politischer Gewalt anerkannt. Ein Bekenntnis zu einem spezifischen Ausbau von Kapazitäten zur Ausarbeitung eines Konzepts zur Prävention von Massenverbrechen bleibt aus. 

Völkerrecht und Normdurchsetzung durch die neue Bundesregierung  

Zwar kann die institutionelle und inhaltliche Bekräftigung völkerrechtlicher Verträge zur Verfolgung schwerster Verbrechen als Fortschritt angesehen werden. Allerdings sind die Möglichkeiten der genannten Verträge und Institutionen bekanntermaßen deutlich limitiert.  Die zusätzlich grundlegenden Konzepte für eine effektive Prävention von Massenverbrechen, der Schutzverantwortung und der menschlichen Sicherheit, werden ebenfalls nicht genannt. Die Bundesregierung könnte auf das Ziel einer hierhingehenden Normendurchsetzung hinwirken. Obwohl der Koalitionsvertrag gegenüber dem der Vorgängerregierung klarer die deutsche Verantwortung benennt, bleibt es im Einzelnen aber bei vagen Absichtserklärungen.  

Verfolgung von Massenverbrechen 

„Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen muss weltweit beendet werden.“ Mit diesem Satz bekennt sich die neue Regierungskoalition zur internationalen Strafgerichtsbarkeit und der internationalen Kooperation zur Verfolgung und Verurteilung von Personen, die schwerste Verbrechen begehen. Die Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofs, die Forderung nach einer Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts, die Unterstützung von “Fact-Finding Missions“ und Monitoring-Programmen bezüglich Massenverbrechen und die Weiterentwicklung des nationalen Völkerstrafrechts sind wichtige und begrüßenswerte Vorhaben in der juristischen Aufarbeitung von Massenverbrechen. Inwiefern hier eine Zusammenarbeit mit engen Partnern wie den USA, Frankreich oder Großbritannien angestrebt werden soll, wird nicht vertieft.  

Deutschland bekennt sich klar zu einer wertegeleiteten Außenpolitik, plant aber anscheinend nicht, auch internationale Partner an diesem Anspruch zu messen. Auch müssten stattfindende Massenverbrechen in Äthiopien, Myanmar, Syrien und China deutlich thematisiert werden, um ihre Beendigung und die Prävention weiterer Massenverbrechen zu erreichen. Im Koalitionsvertrag geschieht das nicht. 

Bei den Beziehungen zu nicht-westlichen Staaten wird der Koalitionsvertrag in Bezug auf Massenverbrechen deutlicher, ohne dass die Formulierungen allerdings über unkonkrete Absichtserklärung hinausgingen. Die Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Belarus, der Türkei, Russland und China und deren Verknüpfung mit wirtschaftlichen Sanktionen ist konsequent und richtig. Ebenso betont der Koalitionsvertrag die Bedeutung der Prävention, Dokumentation und Verfolgung von Kriegsverbrechen in den Krisenregionen des Nahen Ostens und Nordafrikas. Die neue Koalition sollte die Massenverbrechen, die die chinesische Regierung an der Minderheit der Uigur*innen begeht, klar verurteilen. Eine Außenpolitik aus einem Guss ist nur dann wirkungsvoll, wenn sie die Einhaltung des Völkerrechts gegenüber allen Staaten bedingungslos einfordert. 

Was ist Deutschlands “humanitäre Schutzverantwortung”? 

Der neue Koalitionsvertrag versäumt es, die Verhinderung von Massenverbrechen affirmativ zu benennen. Die Schutzverantwortung wird lediglich in der Präambel des Koalitionsvertrags erwähnt. Dort heißt es: „Wir bekennen uns zu unserer humanitären Schutzverantwortung“. Wie der Begriff „humanitäre Schutzverantwortung“ zu verstehen ist, führt der Koalitionsvertrag nicht weiter aus, naheliegend ist jedoch eine Eingrenzung der “Responsibility to Protect” (R2P) auf humanitäre Unterstützung.  

Bezüglich der drei Säulen der Schutzverantwortung könnte man vermuten, dass die Regierungsparteien mit dieser Absichtserklärung die erste und zweite Säule der R2P in den Vordergrund rücken möchten: die Verantwortung jedes einzelnen Staates, seine Bevölkerung vor Massenverbrechen zu schützen sowie die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, Staaten beim Schutz ihrer Bürger*innen und bei der Beendigung gewalttätiger Konflikte zu unterstützen. Zur zweiten Säule gehören auch die Einbindung unterschiedlicher Interessensgruppen, die Vermittlung humanitärer Normen und die Implementierung präventiver Maßnahmen, um Massenverbrechen rechtzeitig zu erkennen und reagieren zu können. Zweifelsohne muss der zweiten Säule und ihren präventiven, deeskalierenden Elementen große Bedeutung beigemessen werden. Folgerichtig wäre eine explizite Bekräftigung der zweiten Säule im Koalitionsvertrag.  

Die Bereitschaft zu Maßnahmen jenseits der Prävention wird durch die Figur der “humanitären Schutzverantwortung” in Frage gestellt.  Es ist kein Wille erkennbar, auch der dritten Säule der R2P vollumfänglich gerecht zu werden. Diese erfordert, dass die internationale Gemeinschaft nach dem Versagen aller präventiver Bemühungen die Verantwortung hat, einzugreifen, um Massenverbrechen zu beenden. Dieses Eingreifen sollte im ersten Schritt immer auf diplomatischer und nicht-militärischer Ebene erfolgen. Wenn diese Maßnahmen nicht wirken, muss aber eine militärische Intervention grundsätzlich in Betracht gezogen werden können. Inwieweit sich diese Eingrenzung der R2P mit der angestrebten, souveränen und glaubwürdigen EU-Außenpolitik verbinden lässt, bleibt abzuwarten. 

Fazit 

Der neue Koalitionsvertrag der Regierung aus SPD, Grünen und FDP weist gegenüber dem vorhergehenden Koalitionsvertrag eine positive Entwicklung hinsichtlich des weltweiten Menschenrechtsschutz auf.  An für uns entscheidenden Stellen ist er allerdings vage und erwähnt wichtige Themen wie Monitoring, Prävention und Beendigung von Massenverbrechen kaum.  Sowohl gegenüber Verbündeten als auch gegenüber nicht-westlichen Staaten lässt er eine unentschiedene Haltung in dieser Hinsicht erwarten. Es ist zu hoffen, dass die neue Bundesregierung in der Praxis die Vorschläge aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft in ihre Außen- und Menschenrechtspolitik integriert, Konzepte für die Prävention von Massenverbrechen erstellt und eine ressortübergreifende Menschenrechtsstrategie erarbeitet. 

Politische Karte der Ukraine mit Flagge hinterlegt | Quelle: publicdomainvectors.org

Stellungnahme von Genocide Alert zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine

Der Krieg ist zurückgekehrt nach Europa. Nach den bewaffneten Auseinandersetzungen und Massenverbrechen auf dem Balkan in den 1990er Jahren führt die Russische Föderation seit wenigen Tagen einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dieser verstößt fundamental gegen das Völkerrecht und die ihm zugrundeliegenden Werte der Souveränität und territorialen Integrität sowie das Gewaltverbot der UN-Charta. Genocide Alert verurteilt diesen Angriff auf das Schärfste und warnt vor Massenverbrechen im Kontext dieses Krieges. Der Straftatbestand eines angeblichen Völkermordes im Donbas ist nicht erfüllt – der des Verbrechens der Aggression dagegen schon. Dass diese Aggression von der russischen Führung, nicht von der russischen Bevölkerung ausgeht, darf dabei nicht aus dem Blick verloren werden. 

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine verkörpert all das, was die internationale Gemeinschaft mit dem Briand-Kellogg-Pakt (1928), dem Internationalen Militärtribunal von Nürnberg (1945), der UN-Charta (1949) und nicht zuletzt auch dem Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof (2002) zu beenden versucht hat. Es steht zu befürchten, dass es im Kontext dieses Krieges zu Massenverbrechen kommen wird. Anlass hierzu gibt die Rhetorik des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der behauptet, Russinnen und Russen in der Ukraine vor einem behaupteten Völkermord durch eine angeblich aus “Drogensüchtigen” und “Nazis” bestehende Regierung “schützen” zu wollen. Dieser unverhohlene ethnische Nationalismus, gepaart mit der Leugnung der souveränen Staatlichkeit der Ukraine, bereitet gezielt den Grund für eine militärische Gewaltanwendung jenseits jeglicher Verhältnismäßigkeitskategorien. Die Erfahrungen mit der Skrupellosigkeit der russischen Streitkräfte in Tschetschenien und Syrien sorgen für tiefe Besorgnis bei Genocide Alert. Diese Sorge gilt vor allem der Zivilbevölkerung. Die Pflicht, im bewaffneten Konflikt zwischen zivilen und militärischen Zielen zu unterscheiden, ist ein Grundpfeiler des humanitären Völkerrechts. Die unzugängliche Faktenlage lässt eine abschließende Beurteilung zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu, doch eine reale Gefahr von exzessiven Kriegsverbrechen besteht, wie bereits jetzt russische Raketenangriffe auf Wohnhäuser oder der Einsatz von unterschiedslos tötender Streumunition zeigen. 

Genocide Alert verurteilt den russischen Verweis auf einen angeblich stattfindenden Völkermord im Donbas als Rechtfertigung des Angriffskrieges. Auch wenn es in der Vergangenheit einzelne Berichte über Fälle von Diskriminierungen gegenüber Russischsprachigen in der Ukraine gab, entbehrt die Behauptung eines Genozides jeder faktischen Grundlage. Sie repräsentiert vielmehr eine zynische Perversion zentraler Argumente im Einsatz gegen Massenverbrechen. Ohne explizit auf die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P) Bezug zu nehmen, bemächtigt sich die russische Führung doch ihrer Logik, die alle Staaten dazu verpflichtet, Bevölkerungen vor Massenverbrechen zu schützen. Diese Logik pervertiert die russische Föderation, indem sie die Schutzverantwortung in das Korsett des ethnischen Nationalismus zwängt und zur Rechtfertigung des “Schutzes” von ethnischen Russinnen und Russen im Ausland missbraucht. Die Schutzverantwortung gerät zu einer Art militärischem Schutzrecht mit Herrschaftsanspruch, das trotz fehlender Bedrohung und Schutzbedürftigkeit ausgeübt wird. Der Schein von Moralität, den diese Argumentation dem Angriffskrieg verleihen soll, ist nicht mehr als das, ein Schein – und das muss klar benannt werden. 

Genocide Alert weist außerdem darauf hin, dass die Ukraine ein multiethnischer Staat ist, in dem nicht nur eine ukrainische Mehrheitsbevölkerung und eine große russische Minderheit leben, sondern auch zahlreiche weitere ethnische und nationale Minderheiten wie die polnische, rumänische, ungarische oder die belarussische. Genocide Alert fordert deswegen alle Beteiligten auf, die Rechte dieser Minderheiten zu achten und die Ukraine als multiethnischen Staat zu bewahren.  

Mit der Behauptung, die Ukraine werde von “Nazis” geführt, versucht die russische Führung, sich in die Tradition der Kämpferinnen und Kämpfer gegen den Nationalsozialismus zu stellen und aus einer scheinbaren Nähe zum Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland Legitimität und Mobilisierung für ihren Angriffskrieg zu gewinnen. Besonders aus einer deutschen Perspektive muss dieser Missbrauch des antifaschistischen Erbes der Völker der Sowjetunion scharf zurückgewiesen und als solcher benannt werden. 

Der Angriff auf die Ukraine ist ein Krieg der russischen Führung. Zahllose Russinnen und Russen haben sich gegen diesen Krieg ausgesprochen, im Ausland wie auch bei mutigen Protesten in Russland selbst, unter Gefährdung ihrer persönlichen Freiheit und körperlichen Unversehrtheit. Genocide Alert fordert alle Beteiligten dazu auf, sich diese Unterscheidung bewusst zu machen und ihr im Laufe dieses Konfliktes bewusst zu bleiben. Unsere Solidarität gilt den Menschen vor Ort, die nun unter der Gewalt leiden und allen Menschen in Russland und Ukraine, die sich für Frieden, Völkerverständigung und gegen diesen nicht zu rechtfertigenden Akt der Gewalt einsetzen. 

Die Prävention von Massenverbrechen gehört in den Koalitionsvertrag

Eine neue Regierungskoalition in Berlin bietet die Chance, bisheriges außenpolitisches Handeln zu überdenken. Allzu oft hat Deutschland angesichts von Massenverbrechen nur langsam reagiert, statt diese frühzeitig zu verhindern bzw. kritische Situationen mit einem hohen Risiko für das Auftreten von Massenverbrechen aktiv zu entschärfen. Im Ergebnis der Sondierungsgespräche von SPD, Grünen und FDP heben sie hervor, dass sich Deutschland seiner globalen Verantwortung stellt und dass sie die Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik wertebasiert aufstellen wollen. Wir nehmen diese Ankündigung beim Wort und wenden uns mit konkreten Vorschlägen an die zukünftige Koalition. 

Prävention von Massenverbrechen ist deutsche Staatsraison 

Vor 72 Jahren wurde die UN-Völkermordkonvention beschlossen. Dennoch kommt es bis heute immer wieder zu Völkermorden und anderen Massenverbrechen. Der Versuch des sogenannten Islamischen Staates, die Jesid*innen im Irak auszulöschen, die Ermordung und Vertreibung der Rohingya durch das Militär in Myanmar und die Unterdrückung und Ausbeutung der muslimischen Minderheit der Uighur*innen in China sind nur die jüngsten Beispiele für solch systematische identitätsbasierte Gewalt. In vielen Konflikten kam es in den letzten Jahren zu schweren Kriegsverbrechen, wie aktuell etwa in Äthiopien. Autoritäre Regime und extremistische Ideologien weltweit schrecken in ihrer Repression Andersdenkender nicht zurück vor schweren Menschenrechtsverletzungen oder gar Verbrechen gegen die Menschlichkeit.  

Das Verhindern von Massenverbrechen, d.h. von Völkermorden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und systematischen Kriegsverbrechen, bleibt eine moralische und historische Verantwortung Deutschlands. Auch im Hinblick auf die katastrophalen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Auswirkungen ist die Prävention solcher Verbrechen im Interesse der Bundesrepublik. Dies hat die Bundesregierung im Juni 2017 mit den Leitlinien zur Krisenprävention bekräftigt: “das Verhindern von Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen und das Eintreten für bedrohte Minderheiten sowie für die Opfer von Unterdrückung und Verfolgung gehören zur deutschen Staatsraison.” 

Integration der Prävention von Massenverbrechen in eine nationale Sicherheitsstrategie 

Es gilt nun, dies auch praktisch umzusetzen. Im Sondierungsergebnis kündigen SPD, Grüne und FDP an, eine nationale Sicherheitsstrategie vorzulegen. Diese muss die Prävention von Massenverbrechen klar miteinschließen. Denn um solche Gräueltaten effektiver zu verhindern, ist eine außenpolitische Schwerpunktsetzung, klare Positionierung und langfristige Konzeptentwicklung notwendig. Bislang findet sich in der deutschen Außenpolitik ein blinder Fleck bei der frühzeitigen Erkennung und der gezielten Prävention von Massenverbrechen.  

Die Bundesrepublik muss ihr Bekenntnis zur internationalen Schutzverantwortung, zur Völkerstrafgerichtsbarkeit sowie zur Arbeit des internationalen Strafgerichtshofs bekräftigen. Dies sollte im Koalitionsvertrag mit Hinweis auf folgende konkrete Schritte untermauert werden: 

  • Die nächste Bundesregierung sollte prüfen, über welche Kapazitäten die Bundesrepublik für die Prävention von Massenverbrechen verfügt, vor welchen Herausforderungen sie steht und wie das Risiko für solche Verbrechen künftig früher erkannt und schneller gehandelt werden kann. Genocide Alert hat hierzu wiederholt Vorschläge unterbreitet und bereits 2012 zusammen mit Human Rights Watch Germany und der Gesellschaft für bedrohte Völker vorgeschlagen, einen Bestandsbericht zur Prävention von Massenverbrechen zu erarbeiten. 
  • Auf dieser Grundlage muss die neue Bundesregierung eine systematische Strategie zur Prävention von Massenverbrechen entwickeln und auch umsetzen. Diese muss ressortübergreifend ausgerichtet sein und muss neben AA und dem BMZ auch das BMVg, BMWi, BMI, BMF und BMJV sowie das Kanzleramt einbeziehen. Innerhalb der bestehenden Strukturen muss eine sogenannte Atrocity Prevention Lens integriert werden. 
  • Es gilt anzuerkennen, dass (zivile) Krisenprävention und Prävention von Massenverbrechen mit einander zusammen hängen. Letztere sind jedoch als eigenständige Formen politischer Gewalt zu begreifen, die in ihren unterschiedlichen Ausprägungen spezifisch analysiert und adressiert werden müssen. Um frühzeitiger präventiv aktiv werden zu können, müssen sich die Ressorts intensiver austauschen über Informationen zu Risikoindikatoren für Massenverbrechen, die etwa der Frühwarn-Analyserahmen des UN-Büros für Völkermordprävention und R2P benennt.  
  • Es muss auch analysiert werden, an welchen Stellen Fachexpertise zur Prävention von Massenverbrechen fehlt. Diese sollte gezielt durch Fortbildungen und Neueinstellungen ausgebaut werden.  

Der Bundestag-Unterausschuss “Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln” hat sich dieser Themen bislang einmal angenommen, am 14. Januar 2019, in einem öffentlichen Fachgespräch zur Prävention von Massenverbrechen angenommen. Damals diskutierten die Abgeordneten mit dem UN-Untergeneralsekretär Adama Dieng, damals Sonderberater des UN-Generalsekretärs für die Prävention von Völkermord, sowie dem Geschäftsführer von Genocide Alert, Jens Stappenbeck. In der neuen Legislaturperiode gilt es daran anzuknüpfen. 

Prävention von Massenverbrechen als feste Größe deutscher Außenpolitik verankern 

Das frühzeitige Verhindern von Massenverbrechen ist kein politisches Randthema. Massenverbrechen führen jedes Jahr zu massivem Leid und immensen Fluchtbewegungen. Wir hoffen auf den Einsatz der neuen Regierungskoalition dafür, dass die Prävention dieser schwersten Menschenrechtsverletzungen nicht nur konzeptionell als Teil der deutschen Staatsräson verstanden, sondern auch praktisch in der Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit umgesetzt wird.  

Die Koalitionsverhandlungen bieten die Möglichkeit, hier wichtige Weichenstellungen vorzunehmen. Wir fordern alle Verhandelnden mit Nachdruck auf: Nutzen Sie diese Chance.  


Eine detailliertere Diskussion unserer Vorschläge ist hier zu finden:  

Massenverbrechen im Tigray-Konflikt: Überblick und internationale Reaktionen

von Miriam Schirmer und Lukas Schüttlöffel

In der Region Tigray im Nordwesten Äthiopiens wird seit November 2020 ein Guerillakrieg geführt. Mittlerweile bestehen schwerwiegende Indizien für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und erhebliche Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht durch alle Konfliktparteien. Insbesondere Handlungen der äthiopischen und eritreischen Regierungstruppen deuten in Umfang und Intensität auf schwere ethnisch motivierte Massenverbrechen an der tigrinischen Bevölkerung hin; hierunter Massaker, sexualisierte Gewalt, Aushungern und Vernichtung kulturellen Erbes. Infolgedessen kommt es zu massiven Fluchtbewegungen innerhalb der Konfliktregion und über die Grenze in den Sudan. Weite Teile der internationalen Gemeinschaft haben jegliche Gewaltanwendung der Akteure verurteilt und sich besorgt geäußert – so auch Deutschland, etwa in einem gemeinsamen Statement der G7-Staaten. Konkrete Maßnahmen zur Konfliktbewältigung und Prävention von Massenverbrechen hat die Bundesregierung bisher nicht ergriffen.

Hintergrund des Konflikts in Tigray

Nach anhaltenden Massenprotesten gegen die Partei „Volksbefreiungsfront von Tigray“ (Tigray’s People Liberation Front, TPLF), die in den vergangen drei Jahrzehnten überwiegend die Regierungspolitik in Äthiopien bestimmt hatte, wurde 2018 Abiy Ahmed Ali Ministerpräsident Äthiopiens. Infolgedessen trat die TPLF zunehmend in den Hintergrund und Abiy liberalisierte die bisher teils repressive politische Ordnung des Ethnoföderalstaates. Für entsprechende Reformen, internationale Kooperationsbildung und insbesondere Vermittlungen im Rahmen des Grenzkonfliktes mit dem nördlich an den Bundesstaat der Tigray angrenzenden Eritrea wurde er 2019 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Als Abiy Ende 2019 die Regierungskoalition in der sogenannten „Wohlstandspartei” zusammenführte, schloss sich die TPLF nicht an. Im Spätsommer 2020 verschob die Regierung aufgrund von Covid-19 die Parlamentswahlen. Die TPLF, Regierungspartei der Verwaltungsregion Tigray, bezeichnete die Verschiebung der Wahlen als verfassungswidrig, führte die geplanten Regionalwahlen in Tigray eigenständig durch und erklärte das Mandat der Regierung Abiy für auslaufend. Dieses Vorgehen bezeichnete wiederum die Regierung Abiy für verfassungswidrig und setzte die ausstehenden Wahlen für den 5. und 12. Juni 2021 an.

Da sie fürchteten, dass eine Offensive äthiopischer Regierungstruppen bevorstehe, übernahmen am 3. November 2020 tigrinische Rebell*innen gewaltsam die Kontrolle über wichtige Militärstützpunkte in Tigray und ermordeten oder inhaftierten regierungstreue Militärangehörige. Als Reaktion ordnete die Regierung Abiy am darauffolgenden Tag eine militärische Intervention an, verhängte einen sechsmonatigen Notstand über die Region und setzte eine Übergangsregierung ein. Internet- und Telefonkommunikation sind seither ausgesetzt.

Binnen eines Monats eroberten Regierungstruppen Tigrays Hauptstadt Mek‘ele, woraufhin Abiy die militärische Operation für beendet erklärte. Der flüchtige Anführer der TPLF, Debretsion Gebremichael, äußerte die Bereitschaft der Truppen zum Widerstand und warf den Regierungskräften Kriegsverbrechen vor. Anfang April verkündete Abiy, dass sich die Auseinandersetzungen mit der Tigray Defense Force zu einem längerfristigen Guerillakrieg entwickelt hätten. Die Tigray Defense Force besteht aus zur TPLF loyalen regionalen Sicherheitskräften Tigrays und assoziierten Milizen. Ihnen gegenüber gehören zu den wesentlichen militärischen Akteuren im Konflikt um die Region Tigray nicht nur äthiopische und eritreische Regierungstruppen. Auch paramilitärische Gruppen und reguläre Sicherheitskräfte aus Amhara beanspruchen Gebiete im westlichen Tigray. Mitte April 2021 verhängte die äthiopische Regierung wegen eskalierender Gewalt in mehreren Städten einen Notstand über die Region Amhara.

Der International Crisis Group zufolge halten die tigrinischen Truppen zentrale und südöstliche rurale Gebiete Tigrays und erfahren überwiegend Unterstützung von der verbliebenen Bevölkerung. Amharische Gruppierungen und eritreische Truppen seien vor allem in Gebieten über ihre eigenen Grenzen hinaus aktiv, die äthiopische Regierung kontrolliere vor allem die Städte. Erst am 23. März 2021 räumte Abiy die Präsenz eritreischer Soldat*innen in Tigray ein – nachdem er dies gegenüber dem Generalsekretär der Vereinten Nationen (VN) António Guterres im Dezember 2020 verneint hatte – und distanzierte sich von ihnen. Drei Tage darauf erklärte Eritreas Präsident Isaias Afwerki im Gespräch mit Abiy den Rückzug der Truppen aus der Region. Mark Andrew Lowcock, Leiter des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), berichtete am 15. April gegenüber dem VN-Sicherheitsrat, dass eritreische Soldat*innen weiterhin in Tigray präsent seien. Daraufhin kündigte Eritrea in einer Stellungnahme an den Sicherheitsrat den Rückzug seiner Truppen an.

Berichte über Massenverbrechen häufen sich

Der Zugang in die Region ist Journalist*innen nur begrenzt gestattet. Internationalen Berichterstatter*innen wird die Einreise zum Teil verweigert, vereinzelt kommt es auch zu Verhaftungen an der Grenze. Zudem gibt es Berichte über die Ermordung regierungskritischer Journalist*innen vor Ort. Ein klares Bild über aktuelle Vorgänge in der Region zu erhalten gestaltet sich demnach schwierig. Dazu kommt, dass eritreische Soldat*innen teils Uniformen der äthiopischen Truppen zur Vertuschung ihrer Identität tragen. Nichtsdestotrotz erreichen glaubwürdige Berichte von Massakern, sexualisierter Gewalt, Plünderungen, Zerstörung von Dörfern und Landstrichen, ethnisch motivierter Diskriminierung und Aggression regelmäßig die internationale Gemeinschaft:

So berichteten Human Rights Watch und Amnesty International Ende 2020 über ein Massaker mit hunderten überwiegend amharischen Toten in Mai-Kadra im Nordwesten Tigrays. Die äthiopische Menschenrechtskommission (Ethiopian Human Rights Commission, EHRC) schrieb nach Untersuchungen mindestens 600 der Tötungen lokalen TPLF-sympathisierenden Gruppierungen zu. Zeug*innenaussagen gegenüber Amnesty International und Human Rights Watch ergaben ähnliche Ergebnisse.

Wenngleich allen Konfliktparteien erhebliche Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht angelastet werden, wird international besonderes Augenmerk auf ethnisch motivierte Menschenrechtsverletzungen und mögliche Massenverbrechen durch amharische, äthiopische und eritreische Truppen an der Bevölkerung von Tigray gelegt. Abiy bestätigte die Kenntnis von Berichten möglicher Kriegsverbrechen.

Zum einen ist sexualisierte Gewalt weitverbreitet und wird gezielt als Kriegsmittel gegen tigrinische Frauen eingesetzt. So konnten unter anderem Gruppenvergewaltigungen durch äthiopische und eritreische Soldaten anhand von medizinischen Dokumenten und Aussagen von Ärzt*innen und Überlebenden bestätigt werden. Betroffene Frauen berichten von Aussagen ihrer Vergewaltiger, denen nach ihre Blutlinie bereinigt werden solle.

Ein Bericht des Global Centre for the Responsibility to Protect stellte zudem heraus, dass es sich bei Angriffszielen der eritreischen und äthiopischen Regierung gehäuft um religiöse Stätten und kulturelles Erbe handelt. Stätten, die zum Kulturerbe gehören, fallen im Völkerrecht unter einen besonderen Schutz; ihre systematische und gezielte Zerstörung stellt ein Kriegsverbrechen dar und ist Indikator für kulturellen Völkermord.

Auch medizinische Einrichtungen sind betroffen: Laut Ärzte ohne Grenzen sind nach der systematischen Zerstörung, Plünderung oder Besetzung medizinischer Einrichtungen durch eritreische und äthiopische Truppen nur noch 13% der medizinischen Einrichtungen normal funktionsfähig. Basisdienstleistungen sind für die vom Konflikt Betroffenen kaum noch erreichbar. Nach OCHA-Angaben sind mindestens 4,5 Millionen Menschen – über 65% der tigrinischen Bevölkerung – auf Hilfe zur Nahrungsmittelbeschaffung angewiesen. Die World Peace Foundation kommt zu dem Schluss, dass die Regierungen Äthiopiens und Eritreas die Menschen in Tigray aushungern. Indizienbeweise würden darauf hindeuten, dass dies vorsätzlich, systematisch und weitverbreitet geschehe.

Zudem machten Amnesty International und Human Rights Watch auf Misshandlungen, Massaker und andere Menschenrechtsverletzungen durch eritreische Truppen an der Bevölkerung des zu Eritrea grenznahen Aksum aufmerksam, in deren Rahmen mehrere hundert Menschen getötet wurden. Die beiden internationalen Menschenrechtsorganisationen fordern eine unabhängige Aufklärung der Kriegsverbrechen und möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die VN. Informationen der beiden Menschenrechtsorganisationen zu den Massakern basieren sowohl auf Sattelitenbildern als auch auf Interviews mit Flüchtenden und Betroffenen aus der Region. CNN berichtete zudem über Massaker durch eritreische Soldat*innen in Maryam Dengelat und außergerichtliche Hinrichtungen durch äthiopische Soldat*innen in Mahibere Dego.

Seit Beginn der anhaltenden Kampfhandlungen sind etwa 2,2 Millionen Menschen aus ihren Heimatorten vertrieben worden. Davon waren bis Anfang Februar 2021 bereits mehr als 61.000 Äthiopier*innen in den Sudan geflohen – zum Teil konnten sie in durch die VN errichteten Camps Zuflucht finden. Aus Lagern im Norden Äthiopiens, die zuletzt etwa 96.000 eritreische politische Flüchtende beherbergten, häufen sich Berichte über Tötungen, gezielte Entführungen und erzwungene Rückführungen nach Eritrea durch eritreische Soldat*innen. Zwei dieser vier Camps – Hitsats und Shimelba – sind vollständig zerstört und geplündert.

Internationale Gemeinschaft drängt auf Aufklärung und humanitären Zugang

Vor dem Hintergrund, dass zunehmend auch die angrenzenden Staaten Eritrea und Sudan vom Konflikt betroffen sind, wächst die internationale Sorge vor einer staatenübergreifenden Destabilisierung am Horn von Afrika. UN-Generalsekretär Guterres verkündete bereits Anfang Februar 2021 seine ernste Besorgnis über die humanitäre Lage in Äthiopien. Die UN-Sonderberaterin für die Verhinderung von Völkermord, Alice Weirimu Nderitu, erklärte am 5. Februar 2021, sie sei alarmiert angesichts von Berichten und Vorwürfen ethnisch motivierter schwerer Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Um weitere Gräueltaten an der Bevölkerung zu verhindern, forderte sie die äthiopische Regierung dazu auf, nationale Mechanismen zur Ursachenbekämpfung, zur Stärkung des nationalen Zusammenhalts und zur Versöhnung umzusetzen. Auch die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, forderte im März 2021, es sei dringend notwendig, humanitäre Hilfen in der Region zuzulassen und eine objektive Beurteilung der Lage vor Ort zu erlangen. Erste Analysen ließen auf ernste Verstöße gegen internationales Recht durch alle beteiligten Militärgruppierungen schließen, die möglicherweise auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfassen. Die UN-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten, verurteilte insbesondere die sexualisierte Gewalt in Tigray, die ein Maß an Grausamkeit jenseits allen Verständnisses annehme. Es gäbe glaubhafte Berichte, dass systematisch und ortsübergreifend Gesundheitseinrichtungen und Unterkünfte für Überlebende zum Ziel sexualisierter Gewalt werden.

Nach mehrfachen ergebnislosen Beratungen unter dem Tagesordnungspunkt ‚any other business‘ äußerte sich der VN-Sicherheitsrat erstmals am 22. April. Einwände gegen ein offizielles Statement gegen militärische Gewalt in Tigray waren unter anderem von Indien, Russland und China gekommen. Mitte November 2020 forderte die Afrikanische Union bereits einen Waffenstillstand und Dialog zwischen den Konfliktparteien und sandte eine Delegation zur friedlichen Beilegung des Konflikts. Allerdings lehnte Abiy ihr Mediationsangebot mit Verweis auf Nichtintervention in innere Angelegenheiten ab. Auch der Europäische Rat forderte Anfang März alle Parteien dazu auf, die Gewalt in der Region unverzüglich zu beenden und einen schnellen ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe zu schaffen. Über Aussagen zu möglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei die Europäische Union äußerst besorgt. Gleichzeitig wurde die hohe Bedeutung der strategischen Partnerschaft mit Äthiopien betont. Im Dezember 2020 hatte die Europäische Union bereits Hilfsgelder für Äthiopien aufgrund des anhaltenden Konflikts zurückgehalten.

Mitte März wurde schließlich die Durchführung einer gemeinsamen Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang mit dem Tigray-Konflikt durch die EHRC und das Büro der Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) beschlossen. Die Unabhängigkeit der EHRC ist nicht abschließend geklärt. Ergebnisse der vorerst auf drei Monate angesetzten Mission stehen noch aus.

Einem internen US-Regierungsbericht nach gehen von äthiopischen, amharischen und eritreischen Truppen Bemühungen um eine „ethnische Homogenisierung“ des westlichen Tigray aus. Im März 2021 forderte US-Außenminister Antony Blinken einen Stopp der „ethnischen Säuberungen“. Dahingegen fällt die Reaktion der deutschen Bundesregierung wesentlich verhaltener aus.

Deutschland zeigt sich besorgt

Bereits am 23. November 2020 sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel dem sudanesischen Premierminister Abdalla Hamdok in einem Telefonat finanzielle Hilfe zur Unterstützung der aus Äthiopien in den Sudan geflohenen Menschen zu. Wenige Tage darauf sprach sich Bundesaußenminister Heiko Maas bei einem Treffen mit seinem äthiopischem Pendant Demeke Mekonnen für einen Waffenstillstand und unbeschränkten Zugang für humanitäre Hilfen in die Region aus. Anfang Februar 2021 telefonierte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem äthiopischen Premierminister Abiy. Dabei betonte Merkel die Bedeutung einer friedlichen Lösung des Konflikts in der Region Tigray und der humanitären Versorgung der betroffenen Menschen im Konfliktgebiet.

In der 46. Sitzung des VN-Menschenrechtsrats im Februar 2021 verlas Deutschland ein gemeinsames Statement für 42 VN-Staaten: Sie seien weiterhin sehr um Anschuldigungen schwerer Menschenrechtsverletzungen und die Sicherheit der Zivilbevölkerung besorgt. Humanitären Partner*innen, Journalist*innen, Medien- und Zivilgesellschaftsorganisationen und der OHCHR/EHRC-Untersuchungsmission solle ungehinderter Zugang gewährt werden. Äthiopien sei ein Eckpfeiler für Frieden in der Region.

Gemeinsam mit den Außenminister*innen der G7-Staaten brachte Maas im April seine Besorgnis über die Berichte von Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen humanitäres Völkerrecht zum Ausdruck. Sie verurteilten die Gewaltverbrechen an der Bevölkerung Tigrays und betonten dass diese unabhängig, unvoreingenommen und transparent aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssten.

Auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Deutschen Bundestag vom 17. März 2021 zur Situation in Tigray antwortete die Bundesregierung in puncto Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht, dass „keine über die über die Berichterstattung von Nichtregierungsorganisationen und der äthiopischen Menschenrechtskommission hinausgehenden Erkenntnisse [vorlägen]“. Man setze sich „nachdrücklich für die unabhängige Untersuchung, Aufarbeitung sowie die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen sowie von möglichen Kriegsverbrechen ein“, und stehe in regelmäßigem Austausch mit OHCHR und EHRC.

Konkrete Maßnahmen zur Konfliktbewältigung hat die Bundesregierung bisher nicht ergriffen, auch eine individuelle Positionierung zur Prävention möglicher Massenverbrechen fand nicht statt.

Deutschland muss auf bedingungslosen Schutz der Zivilbevölkerung hinwirken

Insgesamt machen die Berichte aus Tigray deutlich, dass dort in den vergangenen Monaten Massenverbrechen begangen wurden und deren Verübung weiterhin anhält. Aufgrund der schwierigen Informationslage sind die Vorwürfe nur begrenzt überprüfbar – in jedem Fall muss die Bundesregierung gemeinsam mit internationalen Partner*innen weiterhin auf den bedingungslosen Schutz der Zivilbevölkerung hinwirken und uneingeschränkten humanitären Zugang einfordern. Außerdem sind eine umfassende Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung der Vorwürfe im Hinblick auf mutmaßliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen erforderlich – nicht zuletzt, um zukünftigen Massenverbrechen vorzubeugen.

Die aktuelle Situation erscheint somit als Paradebeispiel für die Notwendigkeit von Frühwarnung und rechtzeitigem Handeln, wie es in der internationalen Gemeinschaft und besonders auch in Deutschland immer wieder gefordert wird. Bundesaußenminister Maas hat erst kürzlich im Umsetzungsbericht der Leitlinien “Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern” die Bedeutung von “early warning” und “early action” erneut betont. Die weitere Entwicklung in Äthiopien wird auch zeigen, wie ernst Deutschland diese Selbstverpflichtung nimmt. Ein anhaltendes Engagement mit den Geschehnissen vor Ort ist zwingend erforderlich.

Früher handeln statt später bedauern: Bilanz nach fünfzehn Jahren Schutzverantwortung

Häufig scheren sich Konfliktparteien in bewaffneten Konflikten kaum um die Leben von Zivilistinnen und Zivilisten. Auch in Friedenszeiten kommt es im Rahmen von „Aufstandsbekämpfung“ immer wieder zu schwersten Menschenrechtsverletzungen, wie der Massenexodus der Rohingya aus Myanmar zeigte.

Eigentlich, so die Hoffnung vor einigen Jahren, sollten Massenverbrechen wie der Völkermord in Ruanda 1994 oder die Gräueltaten der Bürgerkriege in den 1990ern und frühen 2000ern der Vergangenheit angehören. Hatten doch beim Reformgipfel der Vereinten Nationen 2005 Staats- und Regierungschefs einstimmig eine sogenannte Schutzverantwortung akzeptiert (engl. Responsibility to Protect oder R2P). Demnach habe jeder Staat die Verantwortung, seine Bevölkerung vor Massenverbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu schützen. Die internationale Gemeinschaft solle die Staaten dabei unterstützen. Scheitere ein Staat darin massiv, stehe die Staatengemeinschaft bereit, durch den UN-Sicherheitsrat zu reagieren.

Der Beschluss wurde seinerzeit als eine der bedeutendsten Entwicklungen der jüngeren Weltpolitik gefeiert. Manche sahen eine völkerrechtliche Revolution heraufziehen: Der Schutz des Individuums werde gegenüber einer staatszentrierten Souveränitätskonzeption gestärkt. 15 Jahre später ist es an der Zeit Bilanz zu ziehen: Ist die Schutzverantwortung wirkungsmächtig geworden?

Bilanz der Schutzverantwortung

In der breiten Öffentlichkeit wurde das Konzept der Schutzverantwortung erst ab 2011 diskutiert, im Kontext der Libyen-Intervention und der Gräueltaten in Syrien. Kurz darauf wurde ihr bereits das frühe Ende bescheinigt. Schließlich hatten die NATO und ihre Verbündeten in Libyen ihr UN- Mandat überdehnt. Anstatt militärische Gewalt nur zum Schutz der Zivilbevölkerung vor der libyschen Regierung anzuwenden, hatten sie im Bürgerkrieg Partei ergriffen und das Gaddafi-Regime gestürzt. Der Vorwurf der unrechtmäßigen Einmischung wurde laut. In Syrien stand die Staatengemeinschaft dann tatenlos daneben, während aus der gewaltsamen Niederschlagung regierungskritischer Demonstrationen ein brutaler Bürgerkrieg erwuchs, in dem das Regime nicht einmal vor dem Einsatz chemischer Waffen zurückschreckte.

Beide Konflikte betten sich ein in einen breiteren Trend: Die Zahl bewaffneter Konflikte weltweit steigt seit zehn Jahren fast kontinuierlich an. 128 Kriege und bewaffnete Konflikte zählt die Konfliktdatenbank der Universität Uppsala 2018. Eine verschwindend geringe Zahl von Kriegen ist heute noch „klassischer“ zwischenstaatlicher Natur. Mehr als drei Viertel sind bewaffnete Konflikte zwischen verschiedenen nichtstaatlichen Gewaltakteuren oder den jeweiligen nationalen Regierungen und bewaffneten Gruppen im Land. Hinzu kommen noch internationalisierte innerstaatliche Konflikte, in denen Konfliktparteien Unterstützung von anderen Staaten erhalten.

Viele der großen Gewaltkonflikte sind durch massive Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten geprägt. Es kommt zu Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen, Massakern an ganzen Dörfern, sexualisierter Gewalt. Beleg hierfür ist auch die steigende Zahl von Menschen, die vor Krieg und Gewalt flüchten. Im Jahr 2018 wurden laut UN-Flüchtlingshilfswerk jeden Tag durchschnittlich 37.000 Menschen gewaltsam vertrieben.

Doch dies sind nicht die einzigen Massenverbrechen. Beispiel Myanmar: Der Internationale Gerichtshof hatte die dortige Regierung im Januar 2020 aufgefordert, die muslimische Minderheit der Rohingya vor einem möglichen Völkermord zu schützen. Polizei und Militär in Myanmar waren unter dem Mantel der Terrorismusbekämpfung ab August 2017 gegen die Rohingya vorgegangen. Es kam zu Tötungen, Vergewaltigungen und Brandschatzungen. Über 700.000 Menschen flohen in Richtung Bangladesch. Eine Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrates wirft den Behörden eine genozidäre Absicht vor, d.h. eine geplante Zerstörung der Rohingya-Gemeinschaft in Myanmar. Der UN-Sicherheitsrat reagierte darauf jedoch nicht.

Die Gründe für dieses Scheitern der Staatengemeinschaft in der Reaktion auf Massenverbrechen sind vielfältig: Die Debatte darüber, wie die Schutzverantwortung umgesetzt werden soll, wird in den Vereinten Nationen nach wie vor sehr kontrovers geführt. Viele Staaten unterstützen zwar rhetorisch die Idee hinter der Schutzverantwortung, stehen aber internationaler Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten weiter kritisch gegenüber und wollen ihre Souveränität geschützt sehen. Die Intervention der NATO in Libyen 2011 dient ihnen als negatives Beispiel. Zudem ist der UN-Sicherheitsrat durch Interessenkonflikte der Großmächte immer wieder blockiert. Die zunehmende Fragmentierung der Konfliktlandschaft erschwert eine effektive internationale Konfliktbearbeitung. Gleichzeitig schwächt der weltweite Aufschwung populistisch-nationalistischer Strömungen den Multilateralismus im Allgemeinen. Die Bereitschaft zu kollektivem, gegebenenfalls gar militärischem, Handeln, um „entfernten Fremden“ zu helfen, sinkt zunehmend.

Dies zeigt sich auch daran wie der UN-Sicherheitsrat die Schutzverantwortung in seiner Arbeit aufgreift. Zwar bezog er sich zwischen 2005 und Ende 2019 über 80 Mal in Resolutionen auf das Konzept, mandatierte dabei aber überwiegend souveränitätsfreundliche, unterstützende Maßnahmen wie Friedenssicherung, Vermittlung oder Hilfe bei Stabilisierung und Staatsaufbau. Libyen bleibt bis dato der einzige Fall, in dem der Sicherheitsrat Mitgliedstaaten ermächtigt hat, ohne die Zustimmung des betroffenen Staates Gewalt anzuwenden, um Zivilisten zu schützen.

Die R2P erweist sich somit nicht als Instrument zum Schutz der Verfolgten, sondern eher als Richtlinie, dass der Sicherheitsrat irgendetwas tun müsse im Angesicht von Massenverbrechen. Dabei beschränkt er sich jedoch zu häufig auf eine reine Diskussion der Angelegenheit. Kritiker attestieren der Schutzverantwortung daher Wirkungslosigkeit.

Trotzdem ist die Bilanz nach 15 Jahren Schutzverantwortung nicht vollständig negativ. Die Schutzverantwortung ist nicht mit militärischen humanitären Interventionen gleichzusetzen. Das UN-Sekretariat, einige Staaten und Nichtregierungsorganisationen bemühen sich angesichts der Umstrittenheit des Themas, die Diskussion zu verschieben: weg von der Reaktion auf Massenverbrechen und dem Einsatz von Zwang, hin zur frühzeitigen Prävention von Massenverbrechen, in Zusammenarbeit mit den Regierungen und Zivilgesellschaften der betroffenen Länder. Damit rücken die Konfliktvorsorge – Prävention – und Konfliktnachsorge – Peacekeeping und Peacebuilding – in den Fokus der Debatte über die Verhinderung von Massenverbrechen.

Peacekeeping und Peacebuilding in der Prävention von Massenverbrechen

UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon und das UN-Büro zur Prävention von Völkermord und zur Schutzverantwortung haben sich bereits in den ersten Jahren nach dem Beschluss von 2005 für ein Mainstreaming der Schutzverantwortung in der UN konzentriert, d.h. eine Berücksichtigung ihrer Ziele in existierenden Programmen, Maßnahmen und Instrumenten vorangetrieben. Die seit 2009 jährlich veröffentlichten Berichte des UN-Generalsekretärs zur Umsetzung der Schutzverantwortung konzentrieren sich überwiegend auf die frühzeitige Prävention von Massenverbrechen. António Guterres setze dies fort. Er drängte die Staaten dazu, die Umsetzung der Schutzverantwortung mit bestehenden institutionalisierten Mechanismen und Institutionen zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte und der Achtung des humanitären Völkerrechts voranzutreiben. Ab 2018 verband er die Schutzverantwortung mit seiner umfassenderen Agenda zur Konfliktprävention. In seinem jüngsten Bericht zur Schutzverantwortung 2019 legte er das Augenmerk auf Lehren aus der Prävention, auf Maßnahmen die ein (Wieder)auftreten von Massenverbrechen verhindern können.

Der Schutz von Zivilisten durch Friedensmissionen ist ein wichtiger Aspekt der Umsetzung der Schutzverantwortung durch die UN. Nahezu alle der seit 1999 neu beschlossenen UN-Friedensmissionen haben die Aufgabe, Zivilisten zu schützen. In Resolutionen zu Darfur, Elfenbeinküste, der Demokratischen Republik Kongo, Südsudan, Mali und der Zentralafrikanischen Republik finden sich direkte Bezüge auf die Schutzverantwortung. Zwar fehlt es UN-Friedensmissionen häufig an Ressourcen, entsprechender Ausbildung der Truppen und einer einheitlichen Auslegung des Mandats durch die truppenstellenden Staaten, was ihre Möglichkeit effektiv auf Massenverbrechen zu reagieren reduziert. Studien zeigen jedoch, dass die bloße Präsenz von Blauhelmen vor Ort Gewalt gegen Zivilisten reduzieren kann.

Darüber hinaus sind viele der von der UN und Experten vorgeschlagenen Maßnahmen zur Umsetzung der Schutzverantwortung und zur Prävention von Massenverbrechen im Grunde Maßnahmen des Peacebuildings, die sich in der Konfliktnachsorge bewährt haben: Staaten sollten effektive, legitime und integrative Regierungsführung fördern und ihre Sicherheitssektoren in einer Weise reformieren, die die grundlegenden Menschenrechte achtet. Zudem sollten sie Rechtsstaatlichkeit garantieren und partizipatorische und rechenschaftspflichtige politische Institutionen sowie den gleichberechtigten Zugang zur Justiz fördern. Auch Mechanismen für die faire und transparente Verwaltung von wirtschaftlichen Ressourcen sowie die Förderung von Dialog zur Konfliktlösung und Versöhnungsprozessen auf lokaler Ebene werden als Instrumente benannt. Peacebuilding ist zentral, um Massenverbrechen zu verhindern. Es sollte jedoch nicht erst nach Konflikten zum Einsatz kommen, sondern immer dort, wo sich Risikofaktoren zeigen.

Denn Forschung zu Risikofaktoren für Massenverbrechen unterstreicht: Schwerste Gräueltaten treten nicht plötzlich auf. Ein gesellschaftliches Klima, in dem solches Handeln denkbar und möglich wird, entwickelt sich langsam. Warnzeichen sind systematische Diskriminierung, Exklusion bestimmter Gruppen, ungleicher Zugang zu Ressourcen und wirtschaftliche Benachteiligungen von Teilen einer Gesellschaft. Spaltet sich die Gesellschaft kann dies auch in Friedenszeiten zu Gewalt führen, wenn Agitatoren die Bevölkerung aufhetzen. Es gilt daher gesellschaftliche Ursachen für Spannungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen anzugehen, um eine Gesellschaft resilienter gegenüber solchen Risiken zu machen. Dazu gehört auch die Aufarbeitung vergangener Gewaltexzesse. Gesellschaften, in denen es zu Völkermorden oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit kam, haben ein größeres Risiko, dass sich solche Verbrechen wiederholen.

Handeln statt bedauern!

Konzeptionell ist die Schutzverantwortung also breit ausgearbeitet. Es existieren inzwischen auch diverse zwischenstaatliche Formate, in denen sich Staatenvertreter und Nichtregierungsorganisationen über Maßnahmen zur Prävention von Massenverbrechen austauschen und Ausbildungsprogramme auflegen. Über 60 Staaten haben inzwischen sogenannte R2P Focal Points ernannt, die die Tätigkeiten ihrer Regierung mit Bezug zur Schutzverantwortung koordinieren sollen.

Nun gilt es dies auch in konkretes Handeln zu übersetzen. UN-Generalsekretär António Guterres kritisierte 2019 zu Recht eine „wachsende Kluft zwischen dem Bekenntnis des Weltgipfels von 2005 zur Schutzverantwortung und der täglichen Erfahrung von gefährdeten Bevölkerungsgruppen“ weltweit.

Dies erfordert eine veränderte Prioritätensetzung in der Außenpolitik und der Entwicklungszusammenarbeit. Werden entsprechende Risiken erkannt, muss viel früher diplomatisch Einfluss auf die Regierungen betroffener Staaten genommen werden, auch wenn darunter andere Interessen leiden könnten. Eine bessere personelle und finanzielle Ausstattung von UN-Friedensmissionen könnte Menschen in unmittelbarer Gefahr schützen und helfen, ein Wiederausbrechen von Gewalt nach Konflikten zu verhindern.

Die Beschäftigung mit Massenverbrechen darf nicht erst einsetzen, wenn Politikerinnen und Politiker ihr tiefes Bedauern zum Ausdruck bringen, sondern ist notwendig bevor es zu Gewalt kommt.

 


Dieser Beitrag wurde in der Zeitschrift Neue Gesellschaft | Frankfurt Hefte (Ausgabe 5/2020) veröffentlicht. Wir danken für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.

Autor: Gregor Hofmann


 

Schutzzone in Nordsyrien? Für Zivilisten hätte es mehr gebraucht

Annegret Kramp-Karrenbauers Vorschlag für eine Schutzzone in Syrien ist umstritten. Aber die Debatte unterstreicht: Die Politik muss sich dringend mit möglichen deutschen Reaktionen auf Massenverbrechen befassen. Im starken Kontrast zur türkischen sogenannten “Sicherheitszone” müssen Schutzzonen immer den Schutz von Zivilisten in den Mittelpunkt stellen. 

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Hoffnungszeichen und Risiken im Sudan nach Monaten des zivilen Aufstandes und dem Sturz Omar al-Bashirs

Der Sudan befindet sich nach der Absetzung von Omar al-Bashir am 11. April 2019 in einem grundlegenden Umbruch. Al-Bashir, der vom International Strafgerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Darfur gesucht wird, war einer der am längsten herrschenden Führer Afrikas. Sein Sturz wurde durch eine anhaltende und vor allem friedliche Kampagne einer vielfältigen und überraschen d gut organisierten Protestbewegung ausgelöst. Ein friedlicher Übergang zu einer inklusiveren, zivil geführten und mittelfristig auch demokratisch legitimierten Führung schien gelingen zu können. Doch im Juni wurde dieser Übergangsprozess zunächst gewaltsam gestoppt – über 100 Menschen wurden von einer Regierungsmiliz getötet, dutzende vergewaltigt, hunderte verletzt. Die Anfang Juli erzielte Einigung zwischen der Militärjunta und der Oppositionsbewegung schafft neue Hoffnung, ist aber auch mit Risiken behaftet. Teile des zersplitterten Sicherheitsapparats scheinen wenig Interesse an wirklichen Veränderungen zu haben und viele Oppositionelle misstrauen den Militärs.

Beitrag von Gregor Hofmann

Die Proteste und der Sturz Omar al-Bashirs

Im Dezember 2018 gingen hunderte Menschen im Zentrum von Atbara auf die Straße. Sie protestierten gegen die Verdreifachung der Brotpreise durch die Regierung und gegen die schlechte wirtschaftliche Lage: Im Land herrscht schon seit langem eine Wirtschaftskrise, die Inflation ist hoch. Die Proteste breiteten sich auf Khartum und andere Städte aus, Demonstrantinnen und Demonstranten forderten Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit.

Im Laufe der Proteste kam es immer wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei, Verhaftungen und die Verhängung martialischer Strafen durch Sondergerichte. Die Demonstrationen gingen jedoch weiter. Im Januar 2019 schlossen sich verschiedene Oppositions-, Protest- und auch Rebellen-Gruppen zur Alliance for Freedom and Change zusammen und veröffentlichten die Declaration of Freedom and Change, in der der Rücktritt Bashirs und des Regimes und eine Demokratisierung des Landes unter einer zivilen Regierung gefordert wurde.

Letztendlich führten die anhaltenden Proteste zum Sturz von Omar al-Bashir: Einige Tage nachdem in Algerien der langjährige Präsident Abdelaziz Bouteflika von Demonstranten zum Abtritt gezwungen wurde, rief die Sudanese Professionals Association, ein Dachverband verschiedener inoffizieller Berufsverbände und Gewerkschaften, zu einem Marsch auf das Militärhauptquartier in Khartum auf. Am 6. April 2019 demonstrierten dann Hundertausende in der Hauptstadt und forderten die Militärangehörigen auf, sich ihnen anzuschließen. An den Protesten waren Vertreter nahezu aller Volksgruppen, jeden Alters, aller Klassen und Geschlechter beteiligt. Daraus entwickelt sich ein ausgedehntes Sit-In: Ein Lager wurde vor dem Militärhauptquartier errichtet. Die Menschen suchten immer kreativere Ausdruckformen für ihren Protest und versorgten sich gegenseitig mit dem Notwendigsten.

Die Polizei versuchte, die Demonstrierenden mit Tränengas und Schüssen aufzuhalten. Teile des Militärs, vor allem niedrigere Ränge, stellten sich jedoch auf Seiten der Protestbewegung und verteidigten sie. Am 11. April schließlich, am sechsten Tag des Protestamps, wurde al-Bashir gestürzt und vom Militär unter Hausarrest gestellt. Staatliche Medien kündigen an, dass alle verhafteten Protestierenden freigelassen werden. Ein Übergangs-Militärrat, der Transitional Military Council, verkündet eine zweijährige Übergangsphase unter Führung des Militärs, nahm auf öffentlichem Druck hin jedoch kurz darauf auch Verhandlungen mit der Protestbewegung auf. Diese wurden allerdings immer wieder unterbrochen.

Mitte Mai 2019 schienen sich der Übergangsmilitärrat und die oppositionelle Alliance for Freedom and Change auf einen Übergangsplan geeinigt zu haben: Nach einer dreijährigen Übergangsphase unter einem mit Militärs und Zivilisten besetzten Rat, sollten freie Wahlen abgehalten werden.

Das Massaker vom 3. Juni

Was danach geschah, ist nicht ganz klar. Nach verschiedenen Berichten waren Teile des Militärrates mit dem vorläufigen Deal unzufrieden, da sie befürchteten, zu viel Macht abtreten zu müssen. Dies galt insbesondere für die sogenannten Rapid Support Forces (RSF) und ihren Anführer, Mohamed Hamdan Dagalo („Hemedti „).

Hemedti ist offiziell der stellvertretende Vorsitzende des Übergangsmilitär-Rates, dem Abdel Fattah al-Burhan, der Inspektor der Streitkräfte, vorsteht. Für viele gilt Hemedti aber de facto als der eigentliche starke Mann. Hemedtis Rapid Support Forces sind eine paramilitärische Einheit, die hauptsächlich gegen Aufständische eingesetzt wird und vor allem aus ehemaligen Mitgliedern der Janjaweed-Miliz besteht, denen bereits während des Darfur-Konflikts schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden. In den letzten Jahren hatte Bashir die RSF stark unterstützt, um andere Elemente des Sicherheitsapparates auszubalancieren. Die RSF gewann auch an Einfluss, da sie die Goldproduktion im Norden der sudanesischen Region Darfur kontrollieren. Außerdem sind sie in die Grenzsicherung eingebunden und haben Kämpfer in den Jemen entsandt, die dort für Saudi Arabien kämpfen.

Spannungen zwischen Sicherheitskräften – insbesondere der RSF – und den Protestierenden waren immer präsent. Am 3. Juni aber verübte die RSF ein Massaker bei der Räumung des seit nunmehr zwei Monaten existierenden Protestcamps vor dem Militärhauptquartier: Über hundert Menschen wurden getötet, mindestens 70 vergewaltigt und Hunderte verletzt. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Auch Zelte, in denen Protestierende schliefen, wurden angezündet. Die Sicherheitskräfte schossen sogar in medizinischen Einrichtungen auf Protestierende. Leichen wurden anschließend im Nil entsorgt, um das Ausmaß zu verdecken. Das Vorgehen erinnerte an das frühere Vorgehen der Janjaweed gegen vermeintliche Rebellendörfer in Darfur.

Ziviler Ungehorsam als Reaktion auf die Gewalt

Das brutale Vorgehen hatte nicht die gewünschte Wirkung: Die Protestbewegung fühlte sich an die Niederschlagung der Proteste in Ägypten nach dem Sturz Mursis im Jahr 2013 erinnert und wollte verhindern, dass dem Sudan ähnliches wiederfährt. So kam es statt zu einem Abflammen der Proteste zu einem mehrtägigen Generalstreik ab dem 9. Juni und einer landesweiten Kampagne zivilen Ungehorsams.

Dieser Druck und anhaltende Proteste zeigten Wirkung: Nach verschiedenen Mediationsversuchen durch Äthiopien und die Afrikanische Union im Laufe des Junis, zeigte sich der Militär-Übergangsrat verhandlungsbereit und begann damit, festgenommene Protestierende freizulassen.

Am Donnerstag, dem 4. Juli 2019, einigten sich das Militär und die Alliance for Freedom and Change schließlich auf eine von der Afrikanischen Union und Äthiopien vermittelte Übergangslösung: Nach eine dreijährigen Übergangszeit sollen Wahlen abgehalten werden. Bis dahin soll ein „Oberster Rat“ das Land führen. Er soll auf jeweils fünf Zivilisten und fünf Militärs sowie einem Vorsitzenden bestehen. Der Vorsitz wechselt zwischen beiden Seiten. Mitte Juli wurde ein erster Teil eines Abkommens unterzeichnet: In den ersten 21 Monaten soll dem Obersten Rat ein Militärvertreter vorstehen, in den folgenden 18 Monaten dann ein Mitglied der Alliance for Freedom and Change. Außerdem soll eine Expertenregierung gebildet werden. Das Militär versprach zudem umfangreiche und unabhängige Untersuchungen der Gewalt gegen Zivilisten – wogegen es sich bislang gesträubt hatte.

Aber viele umstrittene Punkte sind noch nicht geklärt, darunter die Frage, wieviel gesetzgeberischer Einfluss und Exekutivgewalt dem Militär zukommen soll sowie ob Militärangehörigen Immunität von der Strafverfolgung wegen der Ermordung von Demonstranten gewährt werden soll. Rebellengruppen aus Darfur, Blue Nile und Südk-Kordofan sind skeptisch gegenüber dem Übereinkommen, da sie seit Jahren mit dem Militär und insbesondere den RSF in bewaffnetem Konflikt stehen und die sudanesischen Sicherheitskräfte bislang wenig Rücksicht auf die Bevölkerung genommen haben. Auch andere Teile der Oppositionsbewegung beklagen zu viele Zugeständnisse an die Militärs.

Weiterer Übergang mit großen Risiken behaftet

Doch Kommentatoren argwöhnen unter Verweis auf die im Mai erzielte Einigung und das darauf folgende gewaltsame Vorgehen der RSF gegen die Protestierenden Anfang Juni, dass Stabilität und ein sicherer Weg in Richtung Demokratie und einer zivilen Regierung keineswegs  garantiert seien. Da der Führer der RSF, Hemedti, weiterhin als die wahre Machtperson im Militärrat gesehen wird, sind Zweifel angebracht, ob es letztendlich wirklich zu einer Aufklärung der Gewalt und einer demokratischen Transition kommt. Ähnlich wie al-Bashir zuvor, hat Hemedti hat sicher kein Interesse daran, sich einer zivilen Regierung zu unterwerfen, sein Vorgehen zum Gegenstand von Ermittlungen zu machen und seine Miliz in die Armee zu integrieren.

Es besteht weiterhin die Gefahr, dass ein Teil der Sicherheitskräfte, insbesondere Hemedtis RSF, den friedlichen Übergang blockieren. Der Sicherheitssektor im Sudan ist schließlich kein einheitlicher Akteur: Bashir hatte die sudanesische Armee gezielt geschwächt und Sicherheitsaufgaben allmählich an eine dysfunktionale Gruppe von staatlich unterstützten Milizen und Paramilitärs ausgelagert, um einem koordinierten Putsch gegen sich auszuschließen. Es gibt acht konkurrierende Sicherheitsdienste: Das Militär, die Polizei und-Geheimdienstbehörde, sowie sechs Milizen; eine davon sind die Rapid Support Forces.

Experten wie Alex de Waal sehen in Hemedti und den RSF weiterhin die wirklichen Machthaber im Sudan, trotz der Einigung zwischen Militär und Protestbewegung: Die RSF als Hybrid aus ethnischer Miliz, Wirtschaftsunternehmen und transnationaler Söldnertruppe, scheine nun den Staat erobert zu haben. Die RSF kontrolliert seit Ende 2017 die Goldproduktion im Norden Darfurs. Als Bashir im April gestürzt wurde, sei Hemedti einer der reichsten Männer im Sudan gewesen, mit einem engen Netz an Beziehungen. Er habe daher beste Voraussetzungen, um nach der Macht zu greifen.

Laut der International Crisis Group, würden zwar inzwischen viele im sudanesischen Offizierskorps ihr Schicksal eher der Oppositionselite Khartums anvertrauen als Hemedti, den sie als räuberischen Provinzkriegsherrn betrachten und dem es nicht nur an Legitimität, sondern offenbar auch an einer politischen Unterstützerbasis fehlt, um allein zu regieren. Auch hat sich Hemedti nach Einschätzung von Journalisten vor Ort als offizieller Führer der Junta verbrannt, da er spätestens seit dem gewaltsamen Vorgehen gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten Anfang Juni international wohl kaum als akzeptabler Gesprächspartner gelten würde. Trotzdem besteht die Gefahr, dass Hemedti den Weg der Gewalt einschlägt, um seine Pfründe zu schützen.

Das instabile Umfeld der aktuellen Geschehnisse im Sudan

Der Sudan liegt schließlich nicht nur an einem zentralen geostrategischen Ort auf dem afrikanischen Kontinent: Er bildet die zentrale Brücke zwischen dem Horn von Afrika und Nordafrika sowie zwischen Nord- und Subsahara-Afrika. Sudan ist auch ein sehr fragiler Staat, in einer instabilen Region. Im benachbarten, seit 2011 unabhängigen, Südsudan schwelt weiterhin der seit 2013 andauernde Bürgerkrieg. Mit Tschad befindet sich der Sudan in einem Rivalitätsverhältnis. Im Jemen, an der Sudan gegenüberliegenden Seite des Roten Meers, herrscht Krieg, in welchem auch sudanesische Soldaten – insbesondere die Rapid Support Forces – als Söldner für Saudi-Arabien kämpfen. In der zentralafrikanischen Republik existiert allenfalls schwache Staatlichkeit. In Libyen kämpfen verschiedene Parteien um die Vorherrschaft im Land – auch dort sollen Hemedtis RSF aktiv sein.

Karte Sudan (Quelle: Open Street Maps)

Karte Sudan (Quelle: Open Street Maps)

Auch der Sudan ist ein instabiler Staat: Während seiner 30-jährigen Regierungszeit haben Bashir und andere Regierungsbeamte  zunächst im bis zum Jahr 2005 andauernden Bürgerkrieg Kriegsverbrechen und anschließend dann Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bis hin zum Völkermord an Zivilisten in den Regionen Süd-Kordofan, Blue Nile und Darfur begangen. Diese Konflikte sind nach einer Vermittlung durch die Afrikanische Union seit 2016 zwar ein wenig beruhigt, zu einer endgültigen Einstellung der Feindseligkeiten ist es insbesondere in Süd-Kordofan und Blue Nile jedoch nicht gekommen.

Seit 2007 ist in Darfur außerdem die gemeinsame Mission der UN und der Afrikanischen Union UNAMID in Darfur stationiert, um die Lage zu beruhigen. Die Truppen sollen in erster Linie für den Schutz von Zivilisten sorgen, was ihnen aber kaum gelingt. Im Juli 2018 hatte der Sicherheitsrat ursprünglich beschlossen, UNAMID im Juni 2020 zu beenden und das internationale Engagement in eine zivile Stabilisierungsmission umzuwandeln, während sudanesische Sicherheitskräfte die Ordnungsmacht übernehmen sollen. Menschenrechtsorganisationen und auch der stellvertretende UN-Generalsekretär für Menschenrechte, Andrew Gilmour, berichteten jedoch im Juni 2019, dass es auch in Darfur eine Zunahme der Menschenrechtsverletzungen und Angriffe auf Protestierende gegeben habe. Ende Juni 2019 beschloss der UN Sicherheitsrat daher, den Einsatz von Blauhelmen der Vereinten Nationen in der Region Darfur vorerst fortzusetzen und die Truppenstärke nicht weiter zu reduzieren.

Die Bedeutung externer Akteure

Die mächtigsten Unterstützer der derzeitigen Militär-Junta in Sudan finden sich außerhalb des Sudans – in Kairo, Riyadh und Abu Dhabi. Die Saudis und Emiratis heißen insbesondere Hemedti gut, da seine Rapid Support Forces im Jemen-Krieg als Söldner für Saudi-Arabien kämpfen. Nach dem Sturz Bashirs sagten Ägypten, Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) dem Militärübergangsrat drei Milliarden Euro an Hilfe zu, um sich ihren Einfluss zu sichern. Besonders Saudi Arabien und die VAE scheinen zudem nicht allzu unglücklich über den Sturz ihres alten Verbündeten Omar al-Bashir zu sein, da dieser sich in deren Streit mit Katar im vergangenen Jahr nicht entschieden auf ihre Seite stellte. Die Golfstaaten und Ägypten vertrauen darauf, dass die Generäle den Sudan in einem geordneten Übergang  zu einem, ihnen wohlgesonnenen, Regime führen. Für sie gilt es, ein unangenehmes Zwischenspiel wie in Ägypten zu vermeiden. Also Wahlen, die eine ihnen skeptisch gegenüber eingestellte Regierung hervorbringen könnten.

Und das wäre in der Tat nicht ausgeschlossen: Bei den Demonstrationen wurde schon der Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Saudi Arabien gefordert. Auch die Tatsache, dass das Durchgreifen gegen das Protestcamp in Karthum Anfang Juni kurz nach den ersten Staatsbesuchen der sudanesischen Militär-Führer am 23. Mai in Ägypten, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten geschah, nährte den Verdacht der Demonstrierenden, dass diese den sudanesischen Militärs signalisiert hätten, dass sie auch den Weg der Gewalt statt den des Kompromisses mittragen würden.

Laut der International Crisis Group gibt es aber inzwischen Anzeichen dafür, dass Saudi Arabien und die anderen Unterstützer aus dem Golf ihre Position angesichts der internationalen Verurteilung der Angriffe auf unbewaffnete Demonstranten abgeschwächt haben. Am 5. Juni äußerte Saudi-Arabien öffentlich „große Besorgnis“ über den Verlust von Menschenleben im Sudan und forderte eine Wiederaufnahme des Dialogs. Dieser Kritik durch Saudi Arabien scheint auch auf Druck der USA zurückzuführen sein, die drauf drängen, dem Willen der Protestierenden zu folgen und einen Übergang zu einer zivil geführten Regierung einzuleiten. Saudi Arabien scheint aber offensichtlich auch zu versuchen, es sich mit einer möglichen zivilen Regierung nicht vollkommen zu verscherzen.

Zweifelsohne haben diese Staaten den größten Einfluss auf das ansonsten international und auch in Afrika – die Afrikanische Union hat die Mitgliedschaft Sudans in der Regionalorganisation nach dem Massaker Anfang Juni ausgesetzt – weitgehend isolierte Militär in Sudan.

Doch auch die Europäische Union hat einen gewissen Einfluss und auch eine Verantwortung durch ihre Kontakte zu den sudanesischen Sicherheitskräften: Die EU arbeitet mit Sudan im Rahmen des sogenannten Khartum-Prozesses zusammen. Der Khartum-Prozess ist eine Dialogplattform zwischen der EU und den Ländern am Horn von Afrika. Sie existiert seit 2014 und wurde beim EU-Gipfel in Malta 2015 mit dem Migrationsmanagement in der Region beauftragt. Der Khartum-Prozess umfasst eine Vielzahl von Initiativen. Alle sollen die Zahl der Menschen, die das Mittelmeer überqueren, reduzieren. Im Rahmen der Koordinierung dieser Maßnahmen arbeiten europäische Sicherheitsbehörden mit sudanesischen Sicherheitskräften in Khartum zusammen und damit – zumindest indirekt – auch mit den Rapid Support Forces Hemedtis, denn die RSF sind auch in die Grenzsicherung in Sudan eingebunden.

Was kann nun getan werden?

Die Afrikanische Union, die EU und andere Staaten müssen ihren Druck aufrechterhalten, damit die Militärs in Sudan nicht wieder zu ihrem Plan zurückkehren, innerhalb relativ kurzer Zeit Wahlen abzuhalten. Es braucht eine Übergangsphase, um die notwendigen Strukturen für faire Wahlen zu schaffen. Die AU, die USA und die EU sollten den Mitglieder der sudanesischen Sicherheitskräfte, die einem politischen Abkommen im Wege stehen oder gar mit Gewalt drohen, weiterhin deutlich machen, dass sie mit gezielten Sanktionen, Einfrieren von Vermögenswerten und Reiseverboten belegt werden könnten. Dies gilt insbesondere für Hemedti. Im Falle eines Abbruchs des Übergangsprozesses oder neuer Gewalttaten sollte diese Sanktionen schnell umgesetzt werden.

Die EU und die USA sollten weiterhin bekräftigen, dass keine Gespräche mit Khartum über die Normalisierung der Beziehungen möglich sind, solange es keinen stabilen, friedlichen und für die Protestbewegung akzeptablen Übergang gibt, der auf eine zivile Führung hinausläuft. Dies könnte dann die Aufhebung von Sanktionen, seitens der USA die offizielle Aufhebung des Labels „staatlicher Sponsor des Terrorismus“, oder auch einen Schuldenerlass bedeuten. Die Zusammenarbeit mit sudanesischen Behörden im Migrationsmanagement sollte erst dann wieder aufgenommen werden, wenn zuverlässige und überprüfbare Garantien im Bereich Menschenrechtsschutz vorliegen.

Akteure mit Einfluss auf Kairo, Riad und Abu Dhabi, insbesondere die USA, aber auch die EU und Deutschland, sollten die Golfstaaten und Ägypten auffordern, Druck auf die Generäle in Khartum auszuüben. Sie sollten die sudanesische Junta drängen, sich an die geschlossene Übereinkunft zu halten und eine zivil geführte Übergangsregierung zu stützen, die die Stabilität wiederherstellen kann. Gerade Ägypten, ein wichtiger regionaler Akteur und derzeit auch Vorsitzender der AU, sollte jedes Interesse daran haben, ein Chaos wie in Libyen in einem weiteren Nachbarstaat zu vermeiden.

Saudi-Arabien und die VAE sollten außerdem Hemedti und die RSF versuchen zu zügeln und sie auffordern, sich zurückzuziehen, um den Abstieg ins Chaos zu verhindern. Stattdessen sollte denen Raum gegeben werden, die in der Lage sind, einen friedlichen Übergang zu gestalten und ein Abgleiten in einen Bürgerkrieg zu verhindern.

Nach dem nun verschobenen Abzug von UNAMID und den jüngsten Entwicklungen im Land muss der UN-Sicherheitsrat die prekäre Sicherheitslage in Darfur weiterhin genau beobachten. Mit Blick auf die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft gilt dies insbesondere im Hinblick auf die Gefahr weiterer Massaker und schwerster Menschenrechtsverletzungen. Es sollte außerdem deutlich gemacht werden, dass der Sicherheitsrat und die internationale Gemeinschaft vom Übergangsmilitärrat und der nun hoffentlich folgenden Übergangsregierung erwarten, dass die für die Gewalt Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden und Omar al-Bashir und andere Mitglieder des alten Regimes, die vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht werden, endlich nach Den Haag ausgeliefert werden.

 

Autor: Gregor Hofmann, Vorsitzender Genocide Alert

Dieser Text ist eine aktualisierte Fassung eines Vortrags des Autors zur Lage in Sudan bei der Sitzung der Landesarbeitsgemeinschaft Frieden von Bündnis 90/Die Grünen RLP am 6. Juli 2019 in Mainz.

25 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda: Ist solches Versagen heute immer noch möglich?

Der Völkermord in Ruanda jährt sich in diesen Tagen zum 25. Mal. Vor einem Vierteljahrhundert ermordeten radikale Hutu in nur etwa 100 Tagen über 800.000 Tutsi, moderate Hutu und Twa. Dieser im April 1994 begonnene Völkermord war keine spontane Gewalteskalation. Er folgte einer detaillierten Vorbereitung. Ihm gingen jahrelange Warnsignale und zahlreiche Eskalationen und Angriffe voraus. Die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland im Speziellen haben versagt, Risiken richtig zu analysieren, Warnungen zu berücksichtigen und Schritte zur Prävention zu ergreifen. Selbst als das massenhafte Morden begann, stand die Welt lange tatenlos daneben. Trotz ausgiebiger Diskussion des damaligen Versagens bleibt es fraglich, ob die Weltgemeinschaft und Deutschland heute ein “erneutes Ruanda” präventiv verhindern würden.

Beitrag von Robin Hering, Gregor Hofmann und Jens Stappenbeck

Der Ausbruch des Völkermordes

Am Abend des 06. April 1994 wurde die Maschine des ruandischen Präsidenten Habyarimana im Landeanflug auf Kigali abgeschossen. Innerhalb von Minuten nach dem Abschuss griffen radikale Hutus systematisch und gezielt Tutsis und weitere Zivilisten an, die als gemäßigt oder Tutsi-Unterstützer betrachtet wurden. Die Interahamwe Miliz, unterstützt u.a. durch das ruandische Militär, den Propaganda-Radiosender RTLM, aber auch durch einfache Bürger, machte gezielt Jagd. Die Täter gingen koordiniert vor. Sie nutzten vorbereitete Namens- und Adresslisten, zogen von Haus zu Haus und errichteten Straßensperren, an denen die Opfer auf brutale Weise und in aller Öffentlichkeit getötet wurden. Im ganzen Land wurden mit einfachen Waffen und Macheten in nur etwa drei Monaten über 800.000 Menschen ermordet.

Versagen bei der Früherkennung und Prävention des Völkermordes

Trotz des vermeintlichen klaren Auslösers – dem Abschuss der Präsidentenmaschine -, war der Völkermord kein spontanes Ereignis. Aus heutiger Sicht gab es im Vorfeld zahlreiche Hinweise, an denen eine effektive Früherkennung und Prävention hätte ansetzen können. Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen reichten bereits Jahrzehnte zurück. Zum Teil hatten sie bereits ihren Ursprung in der deutsch-belgischen Kolonialherrschaft. In den Jahren vor 1994 war eine zunehmende Polarisierung erkennbar und es gab bereits Pogrome und Massaker. Die detaillierte Vorbereitung des Massenmordes belegen die Erstellung von Tutsi-Namens bzw. Tötungslisten, die Existenz von Ausbildungslagern für radikale Hutu-Milizen oder eine Verdopplung der Machetenimporte nach Ruanda. Auch öffentliche Hassreden und zahlreiche ignorierte Hinweise von lokalen Politikern und Militärs an die UN-Mission vor Ort unterstreichen die genaue Planung. Spätestens ab Herbst 1993 erreichten die Warnungen auch das vor Ort engagierte Deutschland, fanden allerdings kein Gehör.

Die International Gemeinschaft war u.a. durch die in Ruanda stationierte UN-Mission UNAMIR vor Ort. Die Mission sollte ein in 1993 geschlossenes Friedensabkommen zwischen der Hutu-dominierten Regierung und der oppositionellen Tutsi-geprägten Ruandischen Patriotischen Front (RPF) überwachen. Das Mandat der Blauhelme erlaubte jedoch kein militärisches Eingreifen. Im Vorfeld des Völkermords berichtete UNAMIR-Kommandant Roméo Dallaire, basierend auf zahlreichen Meldungen und einem hochrangigen lokalen Informanten, über Vorbereitungen für einen möglichen Völkermord an die UN-Zentrale in New York. Der UN-Sicherheitsrat beschäftigte sich jedoch nicht mit diesen Hinweisen. Der dringende Appell Dallaires, vom Informanten genannte Waffenlager sofort zu untersuchen und die Waffen zu konfiszieren bevor sie von den Hutu-Milizen eingesetzt werden würden, wurde abgelehnt.

Die Rolle Deutschlands

Auch die Bundesregierung ignorierte die Warnsignale. Dabei war die die Bundesrepublik in Ruanda sehr präsent und pflegte diverse Kontakte: Die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ; heute GIZ) war im Land aktiv, Rheinland-Pfalz pflegte eine Länderpartnerschaft und auch deutsche politische Stiftungen waren präsent. Deutschland war so aktiv, dass es in 1993 – dem Jahr vor dem Völkermord – zum größten Geber des Landes für Entwicklungshilfe aufstieg. Seit 1978 beriet die Bundeswehr bei der Ausbildung des ruandischen Militärs und bildete einige spätere génocidaires an der Hamburger Führungsakademie aus. Angesichts dieser langjährigen Beziehungen zwischen Deutschland und Ruanda, hätte die Bundesregierung über das sich anbahnende Grauen informiert sein können.

Deutsche Berater berichteten bereits im Sommer 1993 über die sich abzeichnenden Ereignisse und die Mobilisierung der Interahamwe. Die Berichte verschwanden jedoch in den bürokratischen Abläufen des Verteidigungs- und des Entwicklungsministeriums in Bonn. Die deutsche Botschaft tat den Bericht eines Oberst der Bundeswehr-Beratergruppe über Trainingslager für Hutu-Milizen und drohende Massaker als Panikmache ab und leitete diese nicht an die Berliner Zentrale weiter. Im Vorfeld des Völkermords nutzten ruandische Soldaten den Fuhrpark eines GTZ-Projektes, um Waffen zu verteilen und die Interahamwe-Milizen auszurüsten. Ein GTZ-Mitarbeiter ließ sich versetzen, da er die Situation nicht verantworten könne. Noch im September 1993 vertrat die deutsche Botschaft die Ansicht, die Habyarimana-Regierung arbeite daran, die Menschenrechtslage zu verbessern.

Versagen bei der Reaktion auf den Völkermord

Im Angesicht des Völkermordes hätte der UN-Sicherheitsrat den Forderungen Romeo Daillaires nach mehr Truppen und einem aktiven Mandat folgen können, um die öffentlichen massiven Gewalttaten und Massaker zu unterbinden. Stattdessen reduzierte der UN-Sicherheitsrat nach Ausbruch des Völkermordes die Truppenstärke von UNAMIR von 2.500 auf 270 Mann. Freiwillig blieben 450 Blauhelme in der Hauptstadt Kigali, um wenigstens einige Menschen zu retten. Ein robustes Mandat, mit welchem Sie Waffengewalt zum Schutz von Zivilisten hätten einsetzen können, blieb ihnen allerdings verwehrt.

Während der Völkermord bereits stattfand, wurde in Deutschland und auch in anderen Staaten lange nicht von einem Genozid gesprochen. Medien und Politik beschrieben die Situation als einen Bürgerkrieg, den man von außen nicht beeinflussen könne. Auch ein Staatsminister im Auswärtigen Amt erklärte, “dass Appelle in einer Situation, in der im Busch gekämpft wird, nur sehr schwer vermittelbar sind.” Praktische Hilfe wurde versagt: Eine konkrete Anfrage der Vereinten Nationen nach 100 Sanitätssoldaten und einem Transportflugzeug lehnte die Regierung Kohl mit Verweis auf die Sicherheitslage vor Ort ab. Im Bundestag gab es während der drei Monate des Völkermordes keine eigene Debatte dazu. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl äußerte sich nur ein einziges Mal: Als er begrüßte, dass alle Deutschen erfolgreich aus dem Land evakuiert wurden.

Erst am 17. Mai 1994 beschloss der UN-Sicherheitsrat, UNAMIR wieder auf 5.500 Mann aufzustocken und das Mandat zu erweitern. Er erlaubte jedoch weiterhin keinen Gewalteinsatz zum Schutz von Zivilisten. Die Truppen, die einige afrikanische Staaten zugesagt hatten, besaßen zudem keine ausreichende Ausrüstung. Staaten im Westen wollten selbst kaum Ausrüstung und Soldaten stellen, auch deren Finanzierung sagten sie nicht zu. Die Bundesregierung stellte damals klar, „deutsche Soldaten [würden] auf keinen Fall nach Ruanda geschickt.“ Lediglich deutsche Staatsbürger wurden ausgeflogen. Ende Juni errichtete Frankreich eine sogenannte “humanitäre Sicherheitszone” im Südwesten Ruandas. Zu diesem Zeitpunkt war der Völkermord allerdings bereits durch die Machtübernahme der RPF so gut wie beendet.

Aufarbeitung und Lehren aus dem Völkermord

Rückblickend beschrieben zahlreiche Überlebende, Zeugen und Wissenschaftler das Versagen der Internationalen Gemeinschaft. Doch welche Lehren wurden auf politischer Ebene aus dem damaligen Scheitern gezogen? In der Tat wurden in den vergangenen 25 Jahren zahlreiche Dinge verändert. Aufbauend auf dem sogenannten “Brahimi-Report” ist beispielsweise der Schutz von Zivilisten mittlerweile fundamentaler Bestandteil von UN-Blauhelmmandaten. Während es zur juristischen Aufarbeitung des ruandischen Völkermords noch eines internationalen ad-hoc Gericht bedurfte, nahm 2002 der permanente Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit auf. Auch rückte die Früherkennung von Massenverbrechen wie Völkermorden stärker in den Fokus. Unter anderem als Reaktion auf Ruanda und den ein Jahr später verübten Völkermord in Srebrenica, wurde außerdem das Konzept der Schutzverantwortung (englisch: Responsibility to Protect, R2P) entwickelt. Auf dem UN-Weltgipfel 2005 wurde das Konzept von sämtlichen Staaten angenommen. Damit bekannten sich alle Staaten zur Verantwortung, ihre eigene Bevölkerung vor Massenverbrechen zu schützen. Außerdem vereinbarten sie, sich gegenseitig bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu unterstützen. Für den Fall, dass ein Staat nicht fähig oder willens ist seiner Schutzverantwortung nachzukommen, erklärten sie,  dass die Staatengemeinschaft eine Verantwortung zur Reaktion habe. Besonders der UN-Sicherheitsrat steht dann in der Pflicht und kann hierfür auch Zwangsmaßnahmen beschließen.

Trotz dieser Veränderungen ist es fragwürdig, ob Deutschland und die internationale Gemeinschaft heute ein “erneutes Ruanda” verhindern oder unterbinden würden. In der Praxis fehlt es in konkreten Fällen oftmals am Willen und politischer Einigkeit. Es fehlt aber auch insbesondere in Deutschland an einer Institutionalisierung der Krisenfrüherkennung, die schon in Ruanda hätte effektiver funktionieren können und müssen. Eine konkrete Aufarbeitung des deutschen Versagens bei der Prävention des Völkermordes in Ruanda wurde jüngst erneut im Bundestag vorgeschlagen, aber nie durchgeführt.

Der UN-Sicherheitsrat ist unterdessen in vielen aktuellen Situationen von Massenverbrechen blockiert oder unwillig zu handeln. In Syrien werden seit acht Jahren durch die Regierung und andere Kriegsparteien schwerste Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen begangen. In Myanmar führte das Militär kürzlich ethnische Säuberungen gegen bis zu einer Millionen muslimischer Rohingya durch. Im Südsudan und im Jemen kosten blutige Bürgerkriege Hunderttausenden das Leben. In all diesen Fällen hat es die internationale Gemeinschaft nicht vermocht, Massenverbrechen zu verhindern.

Strategie notwendig

Der UN-Untergeneralsekretär und Sonderberater für die Verhütung von Völkermord, Adama Dieng, unterstützt daher die Etablierung von nationalen Mechanismen zur Früherkennung und Prävention von Massenverbrechen. Im Januar 2019 riefen Adama Dieng und der Geschäftsführer von Genocide Alert, Jens Stappenbeck, im Bundestag-Unterausschuss “Zivile Krisenprävention, Konfliktprävention und Vernetztes Handeln” zur Erstellung eines ressortübergreifenden Bestandsberichts auf. Dieser sollte in allen relevanten Ministerien die Kapazitäten zur Prävention von Massenverbrechen sowie Optimierungspotenziale erfassen und zu einem nationalen Präventionsmechanismus führen. Eine solche Bestandsaufnahme ist wichtig, um in Zukunft im Angesicht drohender Massenverbrechen die verfügbaren außenpolitischen Instrumente, eingebettet in eine fundierte Strategie, zielgerichtet zur Anwendung bringen zu können.

Deutschland und die Welt dürfen nie wieder so hilflos daneben stehen wie damals in Ruanda. Es liegt an der Politik und dem Regierungsapparat die notwendigen Schritte zu ergreifen und eine Strategie zu entwickeln, damit auf Frühwarnung auch eine frühzeitige Reaktion folgt. Doch auch die Medien, die Zivilgesellschaft und die Öffentlichkeit müssen diesem Thema die notwendige Aufmerksamkeit schenken und immer wieder fragen: Tun wir genug, damit sich solch schreckliche Verbrechen nie mehr wiederholen?

Autoren: Robin Hering, Gregor Hofmann und Jens Stappenbeck (Genocide Alert)


Genocide Alert hat 2014 im Rahmen des Projektes “20 Jahre nach Ruanda” zahlreiche Interviews und Podiumsdiskussionen sowie einen Essaywettbewerb durchgeführt, um an den Völkermord 1994 zu erinnern und Lehren für die heutige Politik zu ziehen. Das Projekt wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Die Ergebnisse sind auf einer Projektseite dokumentiert:

» 20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda: Was haben wir gelernt?

 


Als Teil des Projektes erstellte Genocide Alert e.V. zudem einen Twitter-Account namens @Ruanda1994, der die Geschehnisse vor und während des Völkermordes “live” 20 Jahre später wiedergab.

» Ruanda-Timeline ’94 (Twitter)