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Wie viel Fortschritt wagt der Koalitionsvertrag bei der Prävention von Massenverbrechen?

Der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition enthält Pläne zur Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes sowie zur weltweiten strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen. Er vernachlässigt aber die Prävention von Massenverbrechen. Das Bekenntnis zur internationalen Schutzverantwortung wird aufgeweicht.  

von Luca Bürgener und Moritz Drescher

Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ enthält vielversprechende Bekenntnisse zu einer wertebasierten, ressortübergreifenden und europäischen Außenpolitik. Bei der Verhinderung von Massenverbrechen ist der Fortschrittsgedanke jedoch kaum erkennbar.  Der auffälligste Unterschied zur Vorgängerregierung ist die Verpflichtung für den „Einsatz für Frieden, Freiheit, Menschenrechte, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Nachhaltigkeit“ im Zuge einer glaubwürdigen europäischen und deutschen Außenpolitik. Dieses Bekenntnis zu den Menschenrechten als fundamentales Ziel der Außenpolitik ist begrüßenswert.  

Wille zu ressortübergreifendem Handeln über Parteigrenzen hinweg 

Das Bekenntnis zur Stärkung des Amtes des bzw. der Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe ist zu begrüßen. Darüber hinaus sollen nationale Menschenrechtsinstitutionen und Förder- und Schutzprogramme für Menschenrechtsverteidiger*innen finanziell und personell aufgestockt werden. Die Wahrung der Menschenrechte wird als das wichtigste „Schutzschild der Würde des Einzelnen“ benannt. Die deutsche Außenpolitik soll „aus einem Guss agierend und ressortübergreifend gemeinsame Strategien erarbeiten, um die Kohärenz unseres internationalen Handels zu erhöhen“. Somit erfüllt der Koalitionsvertrag in dieser Hinsicht wichtige langjährige Forderungen von Genocide Alert nach mehr Koordination. Ein ressortübergreifender Bestandsbericht zur Prävention von Massenverbrechen, der hierzu die Grundlage schafft, sollte nun folgen.  

Starke Defizite bezüglich der Prävention von Massenverbrechen 

Über die bisherigen Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ hinaus plant die neue Regierung, die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Ministerien zu verbessern und Planziele zu definieren, „um verlässlich […] Mittel für zivile Krisenprävention bereitstellen zu können“.  

Die weltweite Menschenrechtslage wird nicht umfassend bewertet. Die Bürgerkriege in Syrien und im Jemen und die Situation im Irak und Afghanistan werden benannt, allerdings werden die Menschenrechtslage sowie die Problematik der Massenverbrechen weder betont noch allgemein adressiert. Ebenso wenig werden Massenverbrechen als eigenständiger Typ politischer Gewalt anerkannt. Ein Bekenntnis zu einem spezifischen Ausbau von Kapazitäten zur Ausarbeitung eines Konzepts zur Prävention von Massenverbrechen bleibt aus. 

Völkerrecht und Normdurchsetzung durch die neue Bundesregierung  

Zwar kann die institutionelle und inhaltliche Bekräftigung völkerrechtlicher Verträge zur Verfolgung schwerster Verbrechen als Fortschritt angesehen werden. Allerdings sind die Möglichkeiten der genannten Verträge und Institutionen bekanntermaßen deutlich limitiert.  Die zusätzlich grundlegenden Konzepte für eine effektive Prävention von Massenverbrechen, der Schutzverantwortung und der menschlichen Sicherheit, werden ebenfalls nicht genannt. Die Bundesregierung könnte auf das Ziel einer hierhingehenden Normendurchsetzung hinwirken. Obwohl der Koalitionsvertrag gegenüber dem der Vorgängerregierung klarer die deutsche Verantwortung benennt, bleibt es im Einzelnen aber bei vagen Absichtserklärungen.  

Verfolgung von Massenverbrechen 

„Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen muss weltweit beendet werden.“ Mit diesem Satz bekennt sich die neue Regierungskoalition zur internationalen Strafgerichtsbarkeit und der internationalen Kooperation zur Verfolgung und Verurteilung von Personen, die schwerste Verbrechen begehen. Die Stärkung des Internationalen Strafgerichtshofs, die Forderung nach einer Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts, die Unterstützung von “Fact-Finding Missions“ und Monitoring-Programmen bezüglich Massenverbrechen und die Weiterentwicklung des nationalen Völkerstrafrechts sind wichtige und begrüßenswerte Vorhaben in der juristischen Aufarbeitung von Massenverbrechen. Inwiefern hier eine Zusammenarbeit mit engen Partnern wie den USA, Frankreich oder Großbritannien angestrebt werden soll, wird nicht vertieft.  

Deutschland bekennt sich klar zu einer wertegeleiteten Außenpolitik, plant aber anscheinend nicht, auch internationale Partner an diesem Anspruch zu messen. Auch müssten stattfindende Massenverbrechen in Äthiopien, Myanmar, Syrien und China deutlich thematisiert werden, um ihre Beendigung und die Prävention weiterer Massenverbrechen zu erreichen. Im Koalitionsvertrag geschieht das nicht. 

Bei den Beziehungen zu nicht-westlichen Staaten wird der Koalitionsvertrag in Bezug auf Massenverbrechen deutlicher, ohne dass die Formulierungen allerdings über unkonkrete Absichtserklärung hinausgingen. Die Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Belarus, der Türkei, Russland und China und deren Verknüpfung mit wirtschaftlichen Sanktionen ist konsequent und richtig. Ebenso betont der Koalitionsvertrag die Bedeutung der Prävention, Dokumentation und Verfolgung von Kriegsverbrechen in den Krisenregionen des Nahen Ostens und Nordafrikas. Die neue Koalition sollte die Massenverbrechen, die die chinesische Regierung an der Minderheit der Uigur*innen begeht, klar verurteilen. Eine Außenpolitik aus einem Guss ist nur dann wirkungsvoll, wenn sie die Einhaltung des Völkerrechts gegenüber allen Staaten bedingungslos einfordert. 

Was ist Deutschlands “humanitäre Schutzverantwortung”? 

Der neue Koalitionsvertrag versäumt es, die Verhinderung von Massenverbrechen affirmativ zu benennen. Die Schutzverantwortung wird lediglich in der Präambel des Koalitionsvertrags erwähnt. Dort heißt es: „Wir bekennen uns zu unserer humanitären Schutzverantwortung“. Wie der Begriff „humanitäre Schutzverantwortung“ zu verstehen ist, führt der Koalitionsvertrag nicht weiter aus, naheliegend ist jedoch eine Eingrenzung der “Responsibility to Protect” (R2P) auf humanitäre Unterstützung.  

Bezüglich der drei Säulen der Schutzverantwortung könnte man vermuten, dass die Regierungsparteien mit dieser Absichtserklärung die erste und zweite Säule der R2P in den Vordergrund rücken möchten: die Verantwortung jedes einzelnen Staates, seine Bevölkerung vor Massenverbrechen zu schützen sowie die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, Staaten beim Schutz ihrer Bürger*innen und bei der Beendigung gewalttätiger Konflikte zu unterstützen. Zur zweiten Säule gehören auch die Einbindung unterschiedlicher Interessensgruppen, die Vermittlung humanitärer Normen und die Implementierung präventiver Maßnahmen, um Massenverbrechen rechtzeitig zu erkennen und reagieren zu können. Zweifelsohne muss der zweiten Säule und ihren präventiven, deeskalierenden Elementen große Bedeutung beigemessen werden. Folgerichtig wäre eine explizite Bekräftigung der zweiten Säule im Koalitionsvertrag.  

Die Bereitschaft zu Maßnahmen jenseits der Prävention wird durch die Figur der “humanitären Schutzverantwortung” in Frage gestellt.  Es ist kein Wille erkennbar, auch der dritten Säule der R2P vollumfänglich gerecht zu werden. Diese erfordert, dass die internationale Gemeinschaft nach dem Versagen aller präventiver Bemühungen die Verantwortung hat, einzugreifen, um Massenverbrechen zu beenden. Dieses Eingreifen sollte im ersten Schritt immer auf diplomatischer und nicht-militärischer Ebene erfolgen. Wenn diese Maßnahmen nicht wirken, muss aber eine militärische Intervention grundsätzlich in Betracht gezogen werden können. Inwieweit sich diese Eingrenzung der R2P mit der angestrebten, souveränen und glaubwürdigen EU-Außenpolitik verbinden lässt, bleibt abzuwarten. 

Fazit 

Der neue Koalitionsvertrag der Regierung aus SPD, Grünen und FDP weist gegenüber dem vorhergehenden Koalitionsvertrag eine positive Entwicklung hinsichtlich des weltweiten Menschenrechtsschutz auf.  An für uns entscheidenden Stellen ist er allerdings vage und erwähnt wichtige Themen wie Monitoring, Prävention und Beendigung von Massenverbrechen kaum.  Sowohl gegenüber Verbündeten als auch gegenüber nicht-westlichen Staaten lässt er eine unentschiedene Haltung in dieser Hinsicht erwarten. Es ist zu hoffen, dass die neue Bundesregierung in der Praxis die Vorschläge aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft in ihre Außen- und Menschenrechtspolitik integriert, Konzepte für die Prävention von Massenverbrechen erstellt und eine ressortübergreifende Menschenrechtsstrategie erarbeitet. 

Die Prävention von Massenverbrechen gehört in den Koalitionsvertrag

Eine neue Regierungskoalition in Berlin bietet die Chance, bisheriges außenpolitisches Handeln zu überdenken. Allzu oft hat Deutschland angesichts von Massenverbrechen nur langsam reagiert, statt diese frühzeitig zu verhindern bzw. kritische Situationen mit einem hohen Risiko für das Auftreten von Massenverbrechen aktiv zu entschärfen. Im Ergebnis der Sondierungsgespräche von SPD, Grünen und FDP heben sie hervor, dass sich Deutschland seiner globalen Verantwortung stellt und dass sie die Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik wertebasiert aufstellen wollen. Wir nehmen diese Ankündigung beim Wort und wenden uns mit konkreten Vorschlägen an die zukünftige Koalition. 

Prävention von Massenverbrechen ist deutsche Staatsraison 

Vor 72 Jahren wurde die UN-Völkermordkonvention beschlossen. Dennoch kommt es bis heute immer wieder zu Völkermorden und anderen Massenverbrechen. Der Versuch des sogenannten Islamischen Staates, die Jesid*innen im Irak auszulöschen, die Ermordung und Vertreibung der Rohingya durch das Militär in Myanmar und die Unterdrückung und Ausbeutung der muslimischen Minderheit der Uighur*innen in China sind nur die jüngsten Beispiele für solch systematische identitätsbasierte Gewalt. In vielen Konflikten kam es in den letzten Jahren zu schweren Kriegsverbrechen, wie aktuell etwa in Äthiopien. Autoritäre Regime und extremistische Ideologien weltweit schrecken in ihrer Repression Andersdenkender nicht zurück vor schweren Menschenrechtsverletzungen oder gar Verbrechen gegen die Menschlichkeit.  

Das Verhindern von Massenverbrechen, d.h. von Völkermorden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und systematischen Kriegsverbrechen, bleibt eine moralische und historische Verantwortung Deutschlands. Auch im Hinblick auf die katastrophalen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Auswirkungen ist die Prävention solcher Verbrechen im Interesse der Bundesrepublik. Dies hat die Bundesregierung im Juni 2017 mit den Leitlinien zur Krisenprävention bekräftigt: “das Verhindern von Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen und das Eintreten für bedrohte Minderheiten sowie für die Opfer von Unterdrückung und Verfolgung gehören zur deutschen Staatsraison.” 

Integration der Prävention von Massenverbrechen in eine nationale Sicherheitsstrategie 

Es gilt nun, dies auch praktisch umzusetzen. Im Sondierungsergebnis kündigen SPD, Grüne und FDP an, eine nationale Sicherheitsstrategie vorzulegen. Diese muss die Prävention von Massenverbrechen klar miteinschließen. Denn um solche Gräueltaten effektiver zu verhindern, ist eine außenpolitische Schwerpunktsetzung, klare Positionierung und langfristige Konzeptentwicklung notwendig. Bislang findet sich in der deutschen Außenpolitik ein blinder Fleck bei der frühzeitigen Erkennung und der gezielten Prävention von Massenverbrechen.  

Die Bundesrepublik muss ihr Bekenntnis zur internationalen Schutzverantwortung, zur Völkerstrafgerichtsbarkeit sowie zur Arbeit des internationalen Strafgerichtshofs bekräftigen. Dies sollte im Koalitionsvertrag mit Hinweis auf folgende konkrete Schritte untermauert werden: 

  • Die nächste Bundesregierung sollte prüfen, über welche Kapazitäten die Bundesrepublik für die Prävention von Massenverbrechen verfügt, vor welchen Herausforderungen sie steht und wie das Risiko für solche Verbrechen künftig früher erkannt und schneller gehandelt werden kann. Genocide Alert hat hierzu wiederholt Vorschläge unterbreitet und bereits 2012 zusammen mit Human Rights Watch Germany und der Gesellschaft für bedrohte Völker vorgeschlagen, einen Bestandsbericht zur Prävention von Massenverbrechen zu erarbeiten. 
  • Auf dieser Grundlage muss die neue Bundesregierung eine systematische Strategie zur Prävention von Massenverbrechen entwickeln und auch umsetzen. Diese muss ressortübergreifend ausgerichtet sein und muss neben AA und dem BMZ auch das BMVg, BMWi, BMI, BMF und BMJV sowie das Kanzleramt einbeziehen. Innerhalb der bestehenden Strukturen muss eine sogenannte Atrocity Prevention Lens integriert werden. 
  • Es gilt anzuerkennen, dass (zivile) Krisenprävention und Prävention von Massenverbrechen mit einander zusammen hängen. Letztere sind jedoch als eigenständige Formen politischer Gewalt zu begreifen, die in ihren unterschiedlichen Ausprägungen spezifisch analysiert und adressiert werden müssen. Um frühzeitiger präventiv aktiv werden zu können, müssen sich die Ressorts intensiver austauschen über Informationen zu Risikoindikatoren für Massenverbrechen, die etwa der Frühwarn-Analyserahmen des UN-Büros für Völkermordprävention und R2P benennt.  
  • Es muss auch analysiert werden, an welchen Stellen Fachexpertise zur Prävention von Massenverbrechen fehlt. Diese sollte gezielt durch Fortbildungen und Neueinstellungen ausgebaut werden.  

Der Bundestag-Unterausschuss “Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln” hat sich dieser Themen bislang einmal angenommen, am 14. Januar 2019, in einem öffentlichen Fachgespräch zur Prävention von Massenverbrechen angenommen. Damals diskutierten die Abgeordneten mit dem UN-Untergeneralsekretär Adama Dieng, damals Sonderberater des UN-Generalsekretärs für die Prävention von Völkermord, sowie dem Geschäftsführer von Genocide Alert, Jens Stappenbeck. In der neuen Legislaturperiode gilt es daran anzuknüpfen. 

Prävention von Massenverbrechen als feste Größe deutscher Außenpolitik verankern 

Das frühzeitige Verhindern von Massenverbrechen ist kein politisches Randthema. Massenverbrechen führen jedes Jahr zu massivem Leid und immensen Fluchtbewegungen. Wir hoffen auf den Einsatz der neuen Regierungskoalition dafür, dass die Prävention dieser schwersten Menschenrechtsverletzungen nicht nur konzeptionell als Teil der deutschen Staatsräson verstanden, sondern auch praktisch in der Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit umgesetzt wird.  

Die Koalitionsverhandlungen bieten die Möglichkeit, hier wichtige Weichenstellungen vorzunehmen. Wir fordern alle Verhandelnden mit Nachdruck auf: Nutzen Sie diese Chance.  


Eine detailliertere Diskussion unserer Vorschläge ist hier zu finden:  

Koalitionsvertrag offenbart Handlungsbedarf bei der Prävention von Massenverbrechen

Die neue Bundesregierung wurde am 14. März vereidigt. Als Grundlage der zukünftigen Regierungsgeschäfte enthält der Koalitionsvertrag in Bezug auf die Schutzverantwortung einige sehr begrüßenswerte Forderungen, etwa nach einer restriktiveren Rüstungsexportpolitik. In vielen Punkten geht er jedoch nicht weit genug.
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